Eine dumme Geschichte.
Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt • 第15章
Diese dumme Geschichte datiert aus der Zeit, da die Wiedergeburt unseres lieben Vaterlandes zu neuem Leben und das Streben all seiner tapferen Söhne nach neuen Zielen mit einer so unbezwingbaren Macht und in so rührend-naiver Weise gerade erst begonnen hatte. An einem klaren, frostigen Winterabend – übrigens ging es schon auf zwölf – saßen in einem reich ausgestatteten, doch gemütlichen Kaminzimmer eines schönen zweistöckigen Hauses auf der „Petersburger Seite“ drei hochangesehene Herren beisammen, und sprachen ernst und wohlbedacht über ein ungemein wichtiges Thema. Alle drei hatten es schon bis zur Exzellenz gebracht. Sie saßen um einen runden Tisch in großen weichen Sesseln und schlürften während des Gesprächs hin und wieder behaglich aus ihren Champagnergläsern. Die Flasche stand vor ihnen mitten auf dem Tisch in einem silbernen Kühler. Der Hausherr, Geheimrat Stepan Nikiforowitsch Nikiforoff, ein alter Junggeselle von fünfundsechzig Jahren, hatte nämlich zur Einweihung seines neugekauften Hauses und zu gleicher Zeit auch zur Feier seines Geburtstages – den er sonst nie festlich zu begehen pflegte – seine Freunde zum Abend eingeladen. Übrigens war die Feier nicht Gott weiß wie großartig; wie gesagt, es waren nur zwei Herren zu Gaste, beides frühere Kollegen des Hausherrn: der Wirkliche Staatsrat Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko und der ebenfalls Wirkliche Staatsrat Iwan Iljitsch Pralinski. Sie waren gegen neun Uhr zum Tee gekommen, tranken jetzt Champagner und wußten beide, daß sie sich um punkt halb zwölf erheben und verabschieden mußten. Der Hausherr liebte Regelmäßigkeit. Bei der Gelegenheit zwei Worte über ihn: seine Karriere hatte er als kleiner unversorgter Beamter begonnen, hatte ruhig seine Karre fünfundvierzig Jahre lang gezogen, hatte genau gewußt, zu was er sich aufdienen würde, konnte es nicht leiden, „vom Himmel Sterne zu pflücken“, obgleich er ihrer schon zwei auf der Brust hatte, und liebte es ganz besonders nicht, in einerlei welch einer Angelegenheit, und wenn es auch die wichtigste gewesen wäre, seine persönliche Meinung zu äußern. Er war ein ehrlicher Mensch, d. h. er hatte keine Gelegenheit gehabt, irgend etwas besonders Unehrliches zu begehen; war unverheiratet, da er Egoist war; war keineswegs dumm, konnte es aber, wie gesagt, ganz und gar nicht leiden, seinen Verstand leuchten zu lassen; ganz besonders mißfielen ihm Unordnung und Begeisterung, da er letztere für moralische Unordnung hielt, und am Abend seines Lebens versenkte er sich vollständig in eine gewisse komfortable Behaglichkeit und systematische Einsamkeit. Wenn er auch selbst zuweilen bei besseren Leuten zu Besuch war, so war es ihm doch von Jugend auf unangenehm, Gäste auch bei sich zu empfangen, in der letzten Zeit aber begnügte er sich, wenn er nicht gerade Grande-patience legte, mit der Gesellschaft seiner Stutzuhr, deren eigensinnigem Ticken unter der Glasglocke auf dem Kamin er unerschütterlich ganze Abende lang zuhörte. Sein Äußeres war sehr anständig: glattrasiert, schien er etwas jünger, als er war, hielt sich gut, versprach noch lange zu leben und war stets vom Scheitel bis zur Sohle durchaus Gentleman. Zu arbeiten brauchte er nicht mehr; er bekleidete zwar noch einen Posten, doch hatte er dabei nur zu präsidieren und zu unterschreiben. Mit einem Wort, man hielt ihn für einen prachtvollen Menschen. Nur eine einzige Leidenschaft hatte dieser Mensch oder, sagen wir, einen einzigen heißen Wunsch: ein eigenes Haus zu besitzen, und zwar ein herrschaftliches, keine Mietskaserne. Endlich verwirklichte sich denn auch seine Sehnsucht: er fand schließlich ein Haus auf der „Petersburger Seite“, das allerdings vom Zentrum der Stadt etwas weit ablag, dafür jedoch sah es vornehm aus und hatte dazu noch einen Garten – und so kaufte er es denn. Ja, der neue Hausherr hielt es sogar für einen entschiedenen Vorzug, daß das Haus weiter lag: bei sich zu empfangen liebte er nicht, um aber andere zu besuchen oder in die Versammlungen zu fahren, dazu hatte er eine schöne Equipage von schokoladenbrauner Farbe, seinen Kutscher Michei und zwei kleine, doch starke und hübsche Pferdchen. Alles war durch vierzigjährige strenge Ökonomie erworben, so daß sein Herz sich beim Anblick seiner Habe freuen mußte. Das war auch der Grund, warum Stepan Nikiforowitsch Nikiforoff, nachdem er in sein neues Haus eingezogen war, sogar Gäste einlud und noch dazu sagte, daß er seinen Geburtstag feiern wollte, diesen Tag, den er sonst ängstlich sogar seinen besten Freunden verheimlicht hatte. Zudem gab es für diese Einladung noch einen besonderen Grund. Er bewohnte im Hause nur den oberen Stock, den unteren aber, der ganz so wie der obere gebaut war, hätte er gar zu gern vermietet. Nun hoffte Stepan Nikiforowitsch für diesen unteren Stock Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko zu gewinnen, und so brachte er denn an jenem Abend das Gespräch zweimal auf dieses Thema, ohne aber das gewünschte Ziel zu erreichen, denn Ssemjon Iwanowitsch schwieg hartnäckig über seine Pläne in Betreff eines etwaigen Wohnungswechsels. Dieser Schipulenko, der sich gleichfalls schon seit langer Zeit mühsam seinen Weg bahnte, war verheiratet, ein mürrischer Stubenhocker, im Hause ein Despot und diente mit großem Selbstbewußtsein. Auch er wußte genau, wie weit er es bringen würde, und noch besser, wie weit er es nicht bringen würde. Inzwischen saß er auf einem guten Posten und saß auf ihm sogar ungewöhnlich fest. Auf die neueingeführten Reformen blickte er allerdings nicht ohne Galle, regte sich aber ihretwegen doch nicht sonderlich auf: er war, wie gesagt, sehr selbstbewußt und hörte nicht ohne spöttische Bosheit der Schönrednerei Iwan Iljitsch Pralinskis zu, der über die neuen Themata nie genug reden konnte. Sie hatten alle etwas mehr als gewöhnlich getrunken, so daß denn auch der Hausherr sich zu einem kleinen Disput mit Herrn Pralinski über die neuen Ordnungen herabließ. Doch jetzt muß ich einige Worte auch über seine Exzellenz Herrn Pralinski sagen, um so mehr, als er der Held dieser Erzählung ist.
Der Wirkliche Staatsrat Iwan Iljitsch Pralinski erfreute sich im ganzen erst seit vier Monaten des schönen Titels „Exzellenz“, war also mit anderen Worten eine sehr junge Exzellenz. An Jahren war er gleichfalls noch sehr jung, höchstens dreiundvierzig, jedenfalls bestimmt nicht mehr, dem Ansehen nach aber schien er – und wollte er auch scheinen – noch viel jünger. Er war ein schöner Mann, hoch von Wuchs, elegant, doch nicht auffallend, sondern stets gesucht vornehm gekleidet, und verstand es vorzüglich, seinen bedeutenden Orden am Halse zu tragen; hatte es seit Kindesbeinen verstanden, vornehme Angewohnheiten anzunehmen, und träumte, da er noch unverheiratet war, von einer reichen und warum nicht gar aristokratischen Braut. Allerdings träumte er auch noch von manchem anderem, wenn er auch durchaus nicht so dumm war. Bisweilen konnte er sehr gesprächig sein und dann nahm er gern parlamentarische Posen an. Er stammte aus guter Familie; sein Vater war General gewesen und als Kind hatte man ihn in Sammet oder Batist gekleidet; in einer aristokratischen Anstalt war er darauf erzogen worden und wenn er sie auch nicht mit großen Kenntnissen verlassen hatte, so schien er im Dienst doch guten Erfolg zu haben, denn er brachte es in Bälde bis zur Exzellenz. Die Vorgesetzten hielten ihn für einen äußerst befähigten Menschen und setzten sogar große Hoffnungen auf ihn. Herr Nikiforoff aber, unter dem er fast bis zur Exzellenz gearbeitet hatte, hielt ihn dagegen keineswegs für etwas Besonderes und setzte keine besonderen Hoffnungen auf ihn. Es gefiel Herrn Nikiforoff, daß Herr Pralinski guter Herkunft war, gute Einkünfte, d. h. ein großes Haus mit einem Verwalter hatte, nicht mit den letzten Leuten verwandt und schließlich gut angesehen war. Das hinderte jedoch nicht, daß er ihn im geheimen wegen Mangel an Einsicht und wegen großen Leichtsinns tadelte. Pralinski fühlte es zuweilen sogar selbst, daß er allzu viel Eigenliebe besaß und in diesem Punkte etwas sehr kitzlich war. Mitunter hatte er nämlich Anfälle geradezu krankhafter Gewissensbisse und sogar einer gewissen Reue in manchen Dingen. Dann gestand er sich mit heimlichem Kummer im Herzen, daß er durchaus kein so großes Tier war, wie er sich selbst glauben machen wollte. In solchen Augenblicken wurde er sogar ganz melancholisch; zwar geschah das gewöhnlich nur, wenn er Leibweh hatte; dann nannte er sein Leben une existence manquée, hörte sogar auf, an seine parlamentarischen Fähigkeiten zu glauben, nannte sich einen Parleur, Phraseur, und obgleich das alles ihm natürlich viel Ehre machte, hinderte es ihn doch nicht, schon nach einer halben Stunde sein Haupt von neuem zu erheben und um so hartnäckiger, um so anmaßender sich zu versichern, daß er es noch verstehen würde, sich hervorzutun, und nicht nur ein hoher Würdenträger, sondern ein Staatsmann ersten Ranges zu werden, „den Rußland nimmer vergessen wird“. Ja, es kam dann so weit mit ihm, daß er sich schon in Bronze gegossen oder in Marmor gemeißelt auf einem Pralinskiplatz sah. Daraus ersieht man, daß er nach Großem strebte, wenn er auch diese Träume und Hoffnungen tief und fast ängstlich in seinem Innersten verbarg. Kurz, er war ein guter Mensch und in der Seele sogar ein Dichter. In den späteren Jahren suchten ihn die krankhaften Augenblicke der Verzweiflung immer häufiger heim. Er wurde ganz besonders reizbar und mißtrauisch und war schließlich bereit, jeden Widerspruch für eine Beleidigung zu halten. Doch da kam plötzlich das liberale Rußland und flößte ihm wieder große Hoffnungen ein. Und die „Exzellenz“ tat dann noch das ihrige hinzu. Er richtete sich auf; er warf den Kopf in den Nacken. Er redete plötzlich schön und viel, natürlich nur über die neuesten Themata, die er sich ungemein schnell und bis zur Leidenschaft angeeignet hatte. Er suchte Gelegenheiten zu reden, besuchte bekannte Persönlichkeiten und wurde denn auch bald als verzweifelter Liberaler bekannt, was ihm ungeheuer schmeichelte. An jenem Abend aber kam er nach dem vierten Glas ganz besonders in Schwung. Er wollte plötzlich den Hausherrn in allem bekehren. Er hatte ihn vorher lange nicht mehr gesehn, ihn immer sehr geachtet, und hatte sonst stets auf seinen Rat gehört. Plötzlich aber hielt er ihn für äußerst konservativ und griff ihn daher mit ungewöhnlichem Eifer an. Nikiforoff antwortete fast überhaupt nicht, sondern hörte ihm nur verschmitzt lächelnd zu, obgleich ihn das Thema interessierte. Pralinski dagegen ereiferte sich immer mehr und führte in der Hitze des vermeintlichen Disputs sein Glas weit häufiger als es sich gehörte an die Lippen. Da griff denn der Hausherr immer wieder zur Flasche, um das geleerte Glas zu füllen, was Herr Pralinski aus unbekannten Gründen plötzlich nicht gerade höflich fand, um so mehr, als Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko, den er ganz besonders verachtete, und obendrein noch wegen seines Zynismus und seiner witzigen Bosheit fürchtete, an seiner Seite höchst verdächtig schwieg und gleichfalls häufiger als angebracht zu lächeln beliebte. „Ich glaube, sie halten mich für einen dummen Jungen,“ dachte er eine Sekunde lang.
„Nein,“ fuhr er darauf mit noch größerem Aplomb fort, „nein, es ist Zeit! Wir sind zu sehr zurückgeblieben und meiner Meinung nach ist Humanität die erste Bedingung, Humanität in der Behandlung der Untergebenen, denn, nicht zu vergessen, auch sie sind Menschen! Humanität wird alles retten und alles auf den richtigen ...“
„Hihihihi!“ ertönte es da halblaut aus der Richtung Herrn Schipulenkos.
„Ja, aber mein Lieber, warum waschen Sie uns denn so den Kopf?“ fragte endlich der Hausherr mit liebenswürdigem Lächeln. „Ich muß gestehen, Iwan Iljitsch, es ist mir bis jetzt noch nicht klar geworden, was Sie uns eigentlich erklären wollen. Sie betonen immer die Humanität. Das bedeutet doch Menschlichkeit, nicht wahr?“
„Ja, schön, meinetwegen auch Menschlichkeit. Ich ...“
„Erlauben Sie! Soweit ich darüber urteilen kann, handelt es sich aber nicht nur darum. Menschlichkeit ist selbstverständlich. Die Reformen jedoch beschränken sich nicht nur auf das Moralische. Da haben wir jetzt die Bauernfragen, die Leibeigenschaft, die neuen Gesetze, die Rechte, die moralischen Fragen und ... und ... sie nehmen ja kein Ende, diese Fragen, und alle zusammen, alles zusammen kann plötzlich große, sagen wir, Erschütterungen verursachen. Das ist es, was wir befürchten, aber gegen die Humanität haben wir nichts einzuwenden ...“
„Tja, die Sache liegt etwas tiefer,“ meinte Herr Schipulenko trocken.
„Das verstehe ich sehr wohl, und erlauben Sie, Ssemjon Iwanowitsch, Ihnen zu bemerken, daß ich keineswegs glaube, Ihnen in der Tiefe der Auffassung dieser Sache nachzustehn,“ bemerkte gereizt und fast zu schroff Herr Pralinski, „einstweilen aber erlaube ich mir, auch Ihnen, Stepan Nikiforowitsch, zu bemerken, daß Sie mich gleichfalls durchaus nicht verstanden haben ...“
„Hab’s auch nicht.“
„Währenddessen aber halte ich mich an die Idee, die ich auch überall durchführe, daß Humanität, und besonders Humanität den Untergebenen gegenüber, vom Beamten bis zum Schreiber, vom Schreiber bis zum Hausknecht, vom Hausknecht bis zum Bauer, – daß die Humanität, sage ich, als, sagen wir, als Eckstein der bevorstehenden Reformen und überhaupt der Erneuerung der Dinge dienen kann. Warum? Das werde ich Ihnen sofort sagen. Nehmen wir einen Syllogismus: ich bin human, folglich liebt man mich. Liebt man mich, so hat man Zutrauen zu mir. Hat man Zutrauen zu mir, so glaubt man auch an mich; glaubt man an mich, so wird man mich folglich auch lieben ... das heißt, nein, ich will nur sagen, daß, wenn man an mich glaubt, man dann auch an die Reform glauben und begreifen wird, worin das Wesen der Sache besteht, sagen wir, sich moralisch umarmen und die ganze Sache freundschaftlich und gründlich machen wird. Worüber lachen Sie, Herr Schipulenko? Können Sie das nicht begreifen?“
Der Hausherr zog schweigend die Brauen in die Höh; er schien erstaunt zu sein.
„Ich glaube, ich habe etwas zu viel getrunken,“ meinte Herr Schipulenko nicht ohne bissigen Spott, „und bin daher wohl etwas schwerfällig im Begreifen. Die Spannkraft meines Gehirns hat, glaub ich, etwas nachgelassen.“
Pralinski fühlte einen Stich im Herzen.
„Wir werden es nicht aushalten,“ sagte plötzlich der Hausherr nach kurzem Nachdenken.
„Wieso, wie meinen Sie das – nicht aushalten?“ erkundigte sich Herr Pralinski, den die plötzliche und kurze Bemerkung des Hausherrn wunderte.
„So. Ganz einfach, werden’s nicht aushalten.“ Augenscheinlich wollte er sich über seine Meinung nicht weitläufig verbreiten.
„Sie meinen das doch nicht etwa in Betreff des neuen Weines und der neuen Schläuche?“ fragte ironisch Pralinski. „Nun, für mich garantiere ich.“
Da schlug die Stutzuhr halb zwölf.
„Da sitzen wir und sitzen und gehn nicht fort,“ sagte sich langsam erhebend Herr Schipulenko. Herr Pralinski jedoch kam ihm zuvor, erhob sich elastisch aus dem niedrigen Sessel und nahm vom Kamin seine Zobelmütze. Er schien beleidigt zu sein.
„Und wie bleibt es denn damit, Ssemjon Iwanowitsch, mit der Wohnung?“ fragte noch einmal der Hausherr, als er die Gäste begleitete.
„Mit der Wohnung? Ich werde sehn, ich werde sehn.“
„Jedenfalls benachrichtigen Sie mich bald.“
„Immer von Geschäften die Rede?“ erkundigte sich liebenswürdig Herr Pralinski. Seine Stimme klang wieder recht versöhnlich. Er wartete auf eine Antwort und spielte mit seiner Mütze. Es schien ihm, daß man ihn nicht sonderlich beachtete.
Der Hausherr zog wieder die Brauen in die Höh und schwieg zum Zeichen dessen, daß er die Gäste nicht aufhalten wollte. Herr Schipulenko verabschiedete sich denn auch eiligst.
„Ah ... so ... nun, wie Ihr wollt ... wenn Ihr nicht einmal eine einfache Liebenswürdigkeit versteht ...“ dachte Herr Pralinski bei sich und streckte seine Hand möglichst unabhängig dem Hausherrn entgegen.
Im Vorzimmer hüllte sich Herr Pralinski in seinen leichten teuren Pelz und bemühte sich aus irgend einem Grunde, den vertragenen Waschbär Herrn Schipulenkos nicht zu bemerken.
„Unser Alter scheint irgend etwas übelgenommen zu haben,“ sagte, als sie die Treppe hinabstiegen, Herr Pralinski zu Herrn Schipulenko.
„Wieso das? Ich glaube nicht,“ meinte ruhig und kühl der andere.
„Borniert!“ dachte bei sich Pralinski von seinem Begleiter.
Sie traten auf die Straße. Schipulenkos Schlitten fuhr vor. Sein Hengst war gerade nicht sehr schön.
„Teufel! Wo mag denn Trifon mit meinem Schlitten stecken!“ rief ungeduldig Herr Pralinski, da er sein Gefährt nicht erblicken konnte.
Hierhin, dorthin – der Schlitten war nicht zu sehn. Der Hausknecht konnte auch keine Auskunft geben. Da fragte man schließlich Warlam, den Kutscher Schipulenkos, und erfuhr von ihm, daß der andere die ganze Zeit gleichfalls gewartet habe, nun aber nicht mehr da sei, wie man ja sehen könne.
„Dumme Geschichte!“ meinte Herr Schipulenko. „Wollen Sie – ich bringe Sie nach Haus?“
„Solch ein Gaunervolk!“ schimpfte wütend Herr Pralinski. „Die Kanaille wollte sich bei mir vorhin die Erlaubnis ausbitten, hier auf der Petersburger Seite eine Hochzeit mitzumachen, irgend eine Verwandte von ihm soll heiraten – daß sie der Henker hole! Und ich verbot ihm strengstens, sich von hier zu entfernen. Ich könnte wetten, daß er dorthin gefahren ist!“
„Ja,“ bemerkte Warlam, „er ist auf diese Hochzeit gefahren, wollte aber gleich wieder umkehren und zur angesagten Zeit hier sein.“
„Da haben wir’s! Ich ahnte es ja! Der soll mir aber büßen!“
„Versohlen Sie ihn lieber zweimal wie es sich gehört, dann wird er gehorsamer sein,“ sagte Schipulenko, der schon die Schlittendecke zuknöpfte.
„Seien Sie unbesorgt, Ssemjon Iwanowitsch!“
„So wollen Sie nicht? Ich bringe Sie gern nach Haus.“
„Danke, nein. Und glückliche Reise!“
Schipulenko fuhr fort, Pralinski aber ging gereizt zu Fuß auf den Bretterstegen durch das öde Vorstadtviertel dem Zentrum der Stadt zu.
„Warte nur, Spitzbube, Du sollst mir aber büßen! Gehe jetzt zum Trotz zu Fuß, damit Du Angst bekommst! Wenn er zurückkehrt, wird er sofort erfahren, daß sein Herr zu Fuß gegangen ist ... Solch ein Spitzbube!“
Herr Pralinski hatte noch niemals innerlich so geflucht. Er war aber auch wirklich so gereizt und zudem brummte noch sein Kopf. Da er sonst kein Trinker war, so wirkten die fünf bis sechs Glas Champagner ziemlich schnell. Die Nacht war wundervoll. Es war kalt und klar und ungewöhnlich windstill. Der sternklare Himmel wölbte sich hoch, hoch, und der Mond breitete über die Erde matten, luftlosen Silberschein. Es war so schön, daß Pralinski schon nach kurzer Zeit seinen ganzen Ärger vergaß. Es wurde ihm plötzlich so wunderlich angenehm zu Mut. Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß Menschen, die ein wenig getrunken haben, sehr schnell ihre Eindrücke und Empfindungen wechseln. Ihm gefielen plötzlich sogar die unscheinbaren Holzhäuschen der öden Straße.
„’S ist doch schön, daß ich zu Fuß gegangen bin,“ dachte er bei sich, „für Trifon ist’s eine Lehre und mir ist es ein Vergnügen. Man müßte wirklich öfter zu Fuß gehn ... Auf dem großen Prospekt werde ich ja sofort einen Schlitten finden. Prachtvolle Nacht! Was das hier für Häuschen sind. Wahrscheinlich Kleinbürger, Beamte ... Kaufleute, vielleicht ... Dieser Stepan Nikiforowitsch! Und was für Reaktionäre sie sind, diese Schlafmützen! Oui, Schlafmützen, c’est le mot. Er ist übrigens ein kluger Mensch; hat diesen bonsens, das nüchterne, praktische Begreifen der Dinge. Dafür aber sind’s ja Greise, Greise! Dieser ... äh, wie heißt doch gleich der Kerl! ... Nun ja, was nicht noch ... Werden es nicht aushalten! Was mag er damit gemeint haben? Er versank ja sogar in Gedanken, als er das sagte. Übrigens hat er mich überhaupt nicht verstanden. Und wie das nicht verstehn! Das nicht zu verstehn ist ja schwerer, als zu verstehn. Die Hauptsache ist, daß ich überzeugt bin, im Herzen überzeugt ... Humanität ... Menschlichkeit. Den Menschen zu sich selbst zurückführen ... seine eigene Würde erwecken und dann ... macht Euch dann mit dem neuen Material an die Arbeit! Man sollte meinen, daß das klar ist! Ja–hm! Erlauben Sie mal, Exzellenz; nehmen Sie einen Syllogismus: ich treffe z. B. einen Beamten, einen armen Beamten, einen verprügelten, eingeschüchterten Menschen. Nun ... was bist Du? Antwort: Beamter. Also gut, Beamter; weiter: was für ein Beamter? Antwort: so und so. – Dienst Du? Ja, ich diene. – Willst Du glücklich sein? Will. – Was hast Du zum Glücklichsein nötig? Das und das. – Warum? Darum. – Und siehe, der Mensch begreift mich nach zwei Worten, der Mensch ist gewonnen, ist, sagen wir, bestrickt, der Mensch gehört mir und ich mache mit ihm, was ich will, d. h. natürlich nur zu seinem Besten. ’N gemeiner Mensch, dieser Schipulenko! Und welch eine scheußliche Fratze er hat ... ‚Versohlen Sie ihn!‘ – das hat er absichtlich so gesagt. – Nein, mein Lieber, das kannst Du selbst besorgen, wenn es Dich reizt; ich aber werde es nicht tun; ich werde meinen Trifon mit einem einzigen Wort zu erziehen verstehn: ein kurzer Tadel – das genügt, er wird’s schon fühlen. Was jedoch die Prügelstrafe anbetrifft, hm! ... ungelöste Frage das ... hm! Pfui, Teufel, diese verfluchten Bretterstege!“ rief er plötzlich wütend; er hatte auf den Weg nicht acht gegeben und war gestolpert. „Und das will eine Hauptstadt sein! Oh Zivilisation! Hier kann man sich ja die Beine brechen! Hm! ... Ich hasse diesen Schipulenko; unsympathischer Kerl. Vorhin lachte er über mich, als ich sagte, man würde sich moralisch umarmen. Nun, man wird es auch, was geht das Dich an? Hab keine Angst, Dich werde ich nicht umarmen; eher einen Bauern ... Wenn ich jetzt einem Bauern begegnen sollte, so werde ich ihn anreden. Übrigens war ich etwas angetrunken und drückte mich vielleicht nicht so aus ... Hm! Werde nie mehr trinken. Was man am Abend schwatzt, das bereut man am nächsten Morgen. Wie!? Ich gehe doch ganz gerade ... Aber, weiß Gott, sie sind doch alle Spitzbuben!“
Das waren die zusammenhanglosen Gedanken, die Herrn Pralinski durch den Kopf gingen, als er auf den Bretterstegen nach Hause schritt. Die frische Nachtluft tat ihm gut, sie rüttelte ihn wieder wach, wie man zu sagen pflegt. Nach fünf Minuten aber hätte er sich wieder beruhigt und wäre dann vielleicht schläfrig geworden. Doch plötzlich, wenige Schritte vor dem großen Prospekt, hörte er Musik. Er blickte sich um. In einem alten einstöckigen, doch langgestreckten Holzhause, das einsam an der anderen Straßenseite lag, schien ein Fest zu sein: eine Geige, ein Kontrabaß und eine Flöte taten ihr Bestes, um tanzlustigen Leuten eine Quadrille aufzuspielen. Unter den Fenstern drängten sich Zuschauer, meistens Weiber in wattierten Mänteln und großen Tüchern; sie bemühten sich eifrig, durch die Spalten der Läden irgend etwas zu sehn. Das Gestampf der Tanzenden konnte man sogar auf der anderen Straßenseite hören. Pralinski erblickte nicht weit von sich einen Schutzmann und ging auf ihn zu.
„Wem gehört dieses Haus, mein Lieber?“ fragte er ihn kurz, wobei er seinen kostbaren Pelz am Halse etwas zurückschob, genau so viel, daß der Schutzmann seinen Orden erkennen konnte.
„Dem Beamten Pseldonimoff, dem Registrator,“ antwortete der Schutzmann, der natürlich den Orden sofort erkannt und eine stramme Haltung angenommen hatte.
„Pseldonimoff? Hm! Pseldonimoff! ... Und was ist denn da los? Heiratet er vielleicht?“
„Ja, Ew. Hochgeboren, er heiratet die Tochter eines Titularrats. Mlekopitajeff, Titularrat ... hat an der Behörde gedient. Dieses Haus bekommt jetzt der Schwiegersohn.“
„Also gehört es jetzt Pseldonimoff und nicht mehr Mlekopitajeff?“
„Pseldonimoff, jawohl, Ew. Hochgeboren, Mlekopitajeff gehörte es früher, jetzt aber gehört es Pseldonimoff.“
„Hm! Ich habe mich nur erkundigt, weil ich nämlich sein Vorgesetzter bin.“
„Zu Befehl, Exzellenz.“
Der Schutzmann nahm eine wenn möglich noch strammere Haltung an, Herr Pralinski aber schien nachzudenken. Er stand und überlegte ...
Ja, tatsächlich, dieser Pseldonimoff diente in seiner Kanzlei; das wußte er ganz genau. Er war ein kleiner Beamter, der etwa zehn Rubel monatlich erhielt. Da Herr Pralinski erst seit kurzer Zeit Chef seiner Kanzlei geworden war, so hätte er sich schließlich seiner Untergebenen nicht allzu genau erinnern können; Pseldonimoffs jedoch erinnerte er sich deutlich und zwar nur des Namens wegen: der war ihm sofort aufgefallen und so hatte er sich denn den Besitzer desselben etwas genauer angesehn. Er erinnerte sich eines noch sehr jungen Menschen mit einer langen gebogenen Nase mit blondem, strähnigem Haar, der krankhaft mager war, einen unmöglichen Rock und noch unmöglichere Unaussprechliche trug. Er erinnerte sich noch, daß ihm damals beim Anblick dieser Figur der Gedanke gekommen war, dem Armen zu Weihnachten einige zehn Rubel zur Aufbesserung der Toilette zukommen zu lassen. Da aber das Gesicht dieses Armen ungeheuer einfach wirkte und der Blick sogar sehr unsympathisch war, so verdunstete der gute Gedanke allmählich ganz von selbst, und Pseldonimoff erhielt kein Geschenk. Um so mehr setzte ihn aber dann dieser selbe Pseldonimoff in Erstaunen, als er ihn vor einer Woche um die Erlaubnis bat, heiraten zu können: Pralinski erinnerte sich noch, daß er damals keine Zeit gehabt hatte, sich mit der Sache eingehender zu beschäftigen, und so war denn die Heiratsgeschichte schnell erledigt worden. Trotzdem jedoch wußte er noch ganz genau, daß Pseldonimoff mit der Braut noch ein einstöckiges Holzhaus und vierhundert Rubel bar erhalten sollte. Dieser Umstand hatte ihn damals sogar etwas in Erstaunen gesetzt; und dann wußte er auch noch, daß er über die Namen Pseldonimoff und Mlekopitajeff einen Kalauer gemacht hatte. Dessen erinnerte er sich noch ganz genau.
Herr Pralinski verfiel immer mehr und mehr in Gedanken. Bekanntlich können zuweilen ganze seitenlange Betrachtungen oder Erwägungen in einer einzigen Sekunde durch unseren Kopf gehn, sagen wir, in Form gewisser Gefühle, die sich in menschlicher Sprache nicht so einfach ausdrücken lassen. So werde ich denn auch alle diese Gefühle unseres Helden nicht weiter auszudrücken versuchen, sondern nur das Wesen dieser Gefühle so gut ich es kann wiedergeben, sagen wir, nur das, was in ihnen das Notwendigste und Wahrscheinlichste war, denn viele unserer Empfindungen würden, in die menschliche Sprache übersetzt, vollkommen unwahrscheinlich sein. Das ist ja der Grund, warum sie niemand hört, obgleich sie doch ein jeder hat. Natürlich waren die Empfindungen und Gedanken Pralinskis ein wenig zusammenhanglos, doch wir wissen ja, warum sie es waren.
„Da reden wir nun und reden,“ zuckte es ihm durch den Kopf, „kommt es aber zum Handeln – so tun wir doch nichts. Da haben wir jetzt ein Beispiel, nehmen wir meinetwegen diesen Pseldonimoff: er ist heute erregt aus der Kirche heimgekehrt, hoffnungsfroh, freudig ... Dieser Tag ist einer der seligsten seines Lebens ... Jetzt hat er mit den Gästen zu tun, gibt ein Fest – ist bescheiden und arm, aber doch heiter, froh, aufrichtig ... Wie, wenn er jetzt erfahren würde, daß in diesem Augenblick ich, ich, sein Vorgesetzter, sein höchster Vorgesetzter, Exzellenz Pralinski, hier vor seinem Hause stehe und seiner Hochzeitsmusik zuhöre? Nein, tatsächlich, was würde dann mit ihm geschehn? Was würde er tun, wenn ich jetzt einfach den Entschluß fasse und bei ihm eintrete? Hm! ... zuerst würde er natürlich vor Schreck verstummen: Ich würde ihm seine Hochzeitsfeier verleiden, würde alles verderben ... Ja, das würde das Erscheinen jedes anderen so hohen Vorgesetzten zweifellos tun, nicht aber, wenn ich ... Das ist es ja, daß jeder andere stören würde, nur ich nicht ...
„Ja, ja, mein lieber Nikiforoff! Vorhin konnten sie mich nicht verstehn, da haben sie jetzt ein fertiges Beispiel.
„Hm – ja. Wir alle reden von Humanität, doch zu Heroismus, zu Heldentaten sind wir noch immer nicht fähig.
„Was für eine Heldentat? Nun, urteilen Sie doch selbst: bei der jetzigen Gesellschaftseinteilung soll ich, ich um zwölf Uhr nachts zu meinem Registrator, der sich nur auf zehn Rubel monatlich steht, gehn! – Das ist doch Wahnsinn, ist doch Rotation aller Kulturideen, Sodoms Ende und Pompejis Untergang! Das würde niemand verstehn. Nikiforoff wird sterben, ohne das zu begreifen. Er sagte ja doch: wir werden es nicht aushalten. Ja, aber diese ‚wir‘ sind Sie, meine Herren, nicht ich; das sind Leute der Lähmung und Stagnation, ich aber, ich werde es aushalten! Ich werde den letzten Tag Pompejis in den schönsten Freudentag meines Untergebenen verwandeln und dieser unerhörte Schritt wird eine normale, patriarchalische, hohe und moralische Handlung werden. Wie das? So. Bitte aufzumerken ...
„Nun, nehmen wir an ... ich trete ein: sie sind erstaunt, erschrocken, unterbrechen den Tanz, blicken sich scheu nach allen Seiten um, drängen sich vor mir zurück. Schön; da aber trete ich vor: ich gehe geradenwegs auf den entsetzten Pseldonimoff zu und sage ihm mit dem liebenswürdigsten Lächeln: so und so, war bei Seiner Exzellenz, Herrn Nikiforoff, hier in der Nähe .. Nun, und dann erzähle ich so in spaßiger Art und Weise mein Pech mit diesem Trifon und gehe dann darauf über, wie es kam, daß ich zu Fuß ging ... Nun, und da hörte ich denn plötzlich Musik, erkundige mich beim Schutzmann und erfahre, daß Sie, mein Lieber, heute Ihre Hochzeit feiern. Ach, denke ich, da mußt Du doch hingehen, mußt doch einmal sehn, wie Deine Beamten sich amüsieren und ... heiraten. Ich hoffe, Sie werden mich nicht vor die Tür setzen! – Haha, vor die Tür setzen! Das einem Untergebenen! Ich glaube, er wird den Verstand verlieren, wird Hals über Kopf alle Sessel zusammenschleppen, um mir eine Sitzgelegenheit zu bieten, wird vor Entzücken erbeben, wird sich überhaupt nicht besinnen können! ...
„Nun, was kann es Einfacheres, Vornehmeres als solch eine Handlung geben! Warum ich eingetreten bin? Das ist eine andere Frage! Das ist die moralische Seite der Sache ...
„Hm ... Woran dachte ich eigentlich? Ach so!
„Natürlich werden sie mich mit dem vornehmsten Gast zusammenbringen, mit irgend einem Titularrat oder Verwandten, einem abgesetzten Hauptmann mit einer verfänglich roten Nase ... Gogol hat sie doch prachtvoll geschildert, diese Originale! Nun, ich lerne natürlich die junge Frau kennen, lobe sie, ermuntere die Gäste, bitte sie, sich nicht stören zu lassen, den Tanz wieder aufzunehmen, mache Bonmots; mit einem Wort – bin bezaubernd liebenswürdig. Ich bin immer bezaubernd liebenswürdig, wenn ich mit mir zufrieden bin. Hm! ... das ist es ja, daß ich immer noch so ein wenig, natürlich nicht gerade betrunken, aber so ...
„... Versteht sich, als Gentleman stehe ich auf gleichem Fuß mit ihnen und verlange nicht im geringsten irgend welche ... Aber moralisch, moralisch – das ist eine andere Sache: sie werden es begreifen und würdigen ... Meine Handlung wird Edelmut in ihnen erwecken ... Und dann bleibe ich so eine halbe Stunde .. Meinetwegen auch eine Stunde. Gehe selbstverständlich kurz vor dem Essen; sie werden natürlich alles mögliche zusammenbraten, mich himmelhoch zu bleiben bitten, ich aber erhebe nur meinen Pokal, spreche meinen Glückwunsch aus und danke für das Essen. Sage einfach – die Arbeit drängt. Dieses Wort wird genügen: sofort werden sie ehrerbietig-ernste Gesichter machen. Und damit gebe ich zu gleicher Zeit in delikater Weise zu verstehn, daß ich und sie – zwei verschiedene Dinge sind. Himmel und Erde. Ich meine, ich sage das nicht, um ... aber man muß doch ... im moralischen Sinn ist es sogar unbedingt nötig, was man auch einwenden mag. Übrigens kann ich ja sofort wieder lächeln, kann sogar lachen, und alle werden sie wieder Mut fassen ... Scherze noch ein wenig mit der Jungen; hm! ... ich könnte ja sogar andeuten, daß ich nach einer bestimmten Anzahl Monate wiederkommen würde als Taufpate, he–he! Sie wird sich dann bestimmt bemühen, pünktlich zum Termin einen kleinen Pseldonimoff auf die Welt zu setzen. Vermehren sich ja wie die Kaninchen. Nun, man wird natürlich lachen, sie wird feuerrot, gefühlvoll küsse ich sie dann auf die Stirn, segne sie womöglich noch ... und morgen kennt dann die ganze Kanzlei meine Heldentat. Am nächsten Tage bin ich wieder streng, anspruchsvoll, sogar unerbittlich, doch alle wissen dann bereits, wer ich bin. Kennen mein Innerstes, mein geheimstes Wesen: ‚Als Vorgesetzter ist er streng, doch als Mensch ist er – ein Engel!‘ Und da habe ich denn gesiegt; habe mit einer einzigen kleinen Handlung alle Herzen erobert: sie gehören mir; ich bin ihr Vater, sie sind meine Kinder ... Nun, Exzellenz Stepan Nikiforowitsch, versuchen Sie doch einmal, etwas Ähnliches zu machen ...
„... Ja, wissen Sie auch, begreifen Sie auch, daß Pseldonimoff seinen Kindern und Kindeskindern erzählen wird, wie seine Exzellenz in eigener Person auf seiner Hochzeit erschienen ist! Und die werden es noch ihren Enkeln als heiligste Familiengeschichte erzählen, wie der Würdenträger, der große Staatsmann – der ich dann bestimmt schon sein werde – sie einst der Ehre gewürdigt u. s. w., u. s. w. Aber das wäre ja doch einen Erniedrigten moralisch erheben, ihn sich selbst wiedergeben! ... Er bekommt ja nur zehn Rubel monatlich! ... Sollte ich etwas Ähnliches fünfmal wiederholen, so bin ich ja populär, ohne ... Werde in allen Herzen eingeschlossen sein und der Teufel weiß, was daraus noch alles in Zukunft entstehen kann, aus dieser Popularität! ...“
So, oder ungefähr so dachte Herr Pralinski. (Meine Herren, als ob der Mensch zuweilen wenig bei sich denkt, und besonders noch, wenn er in einer etwas exzentrischen Stimmung ist!). Diese Gedanken durchzuckten ihn vielleicht in kaum einer halben Minute, und natürlich würde er sich mit den Traumgebilden und der gedanklichen Beschämung Nikiforoffs zufrieden gegeben haben und würde weiter nach Haus und zu Bett gegangen sein – unter normalen Umständen. Doch der Jammer war bloß der, daß er in jenem Augenblick etwas exzentrisch war.
Wie vom Schicksal heraufbeschworen sah er plötzlich im entscheidenden Augenblick die zufriedenen Gesichter Nikiforoffs und Schipulenkos vor sich.
„Werden’s nicht aushalten!“ wiederholte Stepan Nikiforowitsch mit hochmütigem Lächeln.
„Hihihi!“ sekundierte Ssemjon Iwanowitsch mit seinem scheußlichen Gekicher.
„Das wollen wir mal sehn! Ich werde sofort beweisen, wie ich’s aushalte!“ sagte entschlossen Herr Pralinski und es stieg ihm sogar heiß zu Kopf.
Er verließ den Brettersteg und ging mit festen Schritten über die Straße auf das Haus seines Untergebenen, des Registrators Pseldonimoff zu.
Sein Stern riß ihn mit sich. Mutig schritt er durch die offene Hoftür, schob verächtlich mit dem Fuß einen kleinen, zottigen Spitz bei Seite, der ihm mehr anstandshalber als um der Sache willen mit heiserem Gekläff an die Beine fuhr. Auf den Brettern, die von der Hoftür bis zur Haustür führten, schritt er munter weiter und stieg dann die drei alten Holzstufen hinan, die unter einem kleinen Giebel einen Vorbau wie etwa ein Wächterhäuschen bildeten, und trat in einen erbärmlich kleinen Flur. Zwar brannte daselbst irgendwo in einer Ecke so etwas wie ein Licht oder eine bunte Laterne, doch hinderte das Herrn Pralinski nicht, so wie er war, in Galoschen, mit dem linken Fuß in eine Schüssel mit Gelée, die zum Kaltwerden herausgestellt worden war, hineinzutreten. Herr Pralinski beugte sich interessiert nieder, um den weichen Boden zu betrachten und erkannte mit Schrecken, was er angerichtet hatte; zu gleicher Zeit bemerkte er auch, daß neben ihm noch zwei Schalen mit irgend etwas Eßbarem, und zwei Formen mit einer süßen Speise, augenscheinlich mit Blanc-manger, standen. Das zerdrückte Gelée verwirrte ihn allerdings ein wenig und eine kurze Sekunde lang dachte er wohl, ob es nicht besser wäre, noch leise umzukehren und sich aus dem Staube zu machen. Doch gesinnungstüchtig wies er diesen Gedanken als niedrige Anwandlung weit von sich. Er überlegte, daß ihn doch niemand gesehn und man daher auch bestimmt nicht auf ihn verfallen würde, wischte schnell seine Galosche ab, um alle Spuren zu verstecken, tastete dann an der filzbeschlagenen Tür nach der Klinke, öffnete die Tür und trat in ein ganz kleines Vorzimmer. Die eine Hälfte desselben war mit Mänteln, Pelzjacken, Überziehern, Tüchern, Muffs und Galoschen total verbaut, in der anderen hatte man die Musikanten untergebracht: zwei Geigen, eine Flöte und ein Kontrabaß, im ganzen also vier Mann. Sie saßen um einen kleinen, ungestrichenen Holztisch, auf dem ein einziges Talglicht brannte, und fiedelten was das Zeug hielt die letzte Tour der Quadrille herunter. Durch die offene Tür konnte man im Saal die Tanzenden sehn, die sich in Staub-, Rauch- und Dunstwolken drehten. Es ging ausgelassen-lustig zu. Man hörte Gelächter, Schreie, Damengekreisch. Die Kavaliere stampften wie eine Eskadron Pferde, und aus dem ganzen Sodom klang das Kommando des Tanzordners, der, wie es schien, ein sehr freier Herr mit aufgeknöpftem Rock war: „Avancez Messieurs, chaine de dames, balancez!“ u. s. w., u. s. w. Herr Pralinski warf einigermaßen erregt seinen Pelz von den Schultern, schob die Galoschen ab, und trat mit der Mütze in der Hand in den sogenannten Saal. Übrigens hatte er schon aufgehört zu denken.
Im ersten Augenblick bemerkte ihn niemand: alle tanzten in wildem Galopp oder Walzer die Quadrille zu Ende. Pralinski stand wie betäubt und konnte in diesem Wirrwarr nichts unterscheiden. Helle Damenkleider, Frack- und Rockschöße, Herren mit einer Zigarette zwischen den Zähnen schwirrten vor seinen Augen, und zwischen ihnen irgend eine vorüberfliehende Dame, deren lange flatternde hellblaue Schärpe mit Fransen ihm über die Nase wischte. Ihr setzte in heller Begeisterung ein Student nach, der dabei den Eingetretenen unsanft stieß. Darauf drehte sich vor ihm irgend ein Offizier, der länger als eine Werst lang war. Irgend jemand rief vor Begeisterung mit ungewöhnlich hoher Stimme im gemeinsamen Vorüberfliegen: „E–e–ech Pseldonimuschka!“ Herrn Pralinski schien es, als klebten seine Sohlen am Fußboden: der war mit Wachs oder Stearin gebohnt. In dem Zimmer, das übrigens nicht klein war, tanzten etwa dreißig Menschen.
Doch nach einer Minute war die Quadrille beendet und fast im selben Augenblick geschah genau dasselbe, was sich Herr Pralinski schon auf dem Bretterstege gedacht hatte. Unter den Gästen, die noch nicht Atem geschöpft, noch nicht den Schweiß von den Gesichtern gewischt hatten, verbreitete sich plötzlich ein ganz ungewöhnliches Tuscheln. Aller Augen, alle Gesichter wandten sich erschrocken schnell auf den eingetretenen Gast. Und gleich darauf begann ein allgemeines Reculement, alle schoben sie sich wie die Krebse rückwärts. Die ihn noch nicht bemerkt hatten, wurden an den Kleidern gezupft und eines Besseren belehrt. Herr Pralinski stand immer noch in der Tür und wagte keinen Schritt vorzutreten, zwischen ihm aber und den Gästen wurde der freie Zwischenraum immer größer und größer und schließlich war das halbe Zimmer leer, abgesehen von den Zigarettenstummeln und Konfektpapierchen, die friedlich den Fußboden verzierten. Da löste sich plötzlich aus diesem enggepreßten Publikum schüchtern ein junger Mensch in einem Gehrock los und trat vor in den leeren Raum: er hatte strähniges blondes Haar und eine gebogene Nase. Er schob sich zaghaft näher, machte einen Bückling nach dem anderen und blickte dabei auf den unerwarteten Gast genau so wie ein Hund, der sich mit gesenkter Rute an seinen ihn rufenden Herrn heranschlängelt, um verdiente Schläge in Empfang zu nehmen.
„Guten Abend, Pseldonimoff, erkennen Sie mich?“ sagte Herr Pralinski und fühlte doch im selben Augenblick, daß er es furchtbar ungeschickt sagte und vielleicht eine unglaubliche Dummheit beging.
„Eu–eu–eure E–exzellenz!“ murmelte Pseldonimoff.
„Ach was, Exzellenz, – bin, mein Lieber, ganz zufällig bei Ihnen eingetreten, wie Sie es sich wahrscheinlich denken können ...“
Doch Pseldonimoff konnte augenscheinlich überhaupt nicht denken. Er stand mit weit aufgerissenen Augen vor seinem Vorgesetzten und nur das Entsetzen des totalen Nichtverstehenkönnens drückte sich auf seinem bleichen Gesichte aus.
„Ich nehme an, daß Sie mich doch nicht vor die Tür setzen werden ... Ob willkommen oder nicht, aber einen Gast muß man stets empfangen! ...“ fuhr Herr Pralinski fort, wobei er wieder fühlte, daß er sich bis zu unanständiger Schwäche verwirrt, daß er lächeln will und doch selbst das nicht mehr kann; daß die humoristische Erzählung vom Ausbleiben seines Trifon immer unmöglicher wird. Pseldonimoff aber verharrte wie zum Trotz in seiner Erstarrung und fuhr bewegungslos fort, ihn blödsinnig anzublicken. Pralinski durchzuckte es, er fühlte: „noch eine solche Minute und es geschieht etwas Unerhörtes!“
„Oder habe ich vielleicht gestört ... dann werde ich natürlich sofort ...“ sagte er halbmechanisch und an seinem rechten Mundwinkel erzitterte ein kleiner Nerv ...
Da aber besann sich endlich Pseldonimoff.
„Ew. Exzellenz, bitte, geruhen ... Ehre ...“ stotterte er unter erneuten Bücklingen, „geruhen Platz zu nehmen ...“ Und noch etwas mehr zu sich gekommen, wies er plötzlich mit beiden Händen auf das Sofa, das ohne Tisch an die Wand geschoben war, um den Tanzenden nicht im Wege zu sein ...
Herr Pralinski atmete innerlich auf und ließ sich wie erlöst auf das Sofa nieder; sofort beeilte sich einer der Herren, den bei Seite geschobenen Tisch wieder vorzuschieben Flüchtig blickte er sich um und da gewahrte er, daß außer ihm niemand saß: alle, auch die Damen standen. Das war ein schlechtes Zeichen. Doch war es noch nicht Zeit, zu ermuntern. Die Gäste standen noch immer scheu zurückgedrängt und vor ihm hielt sich Pseldonimoff immer noch krumm wie ein Haken und begriff immer noch nichts und war immer noch weit entfernt vom Lächeln. Es war einfach schändlich – oder kurz: in diesem Augenblick erlitt unser Held soviel Leid, daß sein Harûn-al-Raschid würdiges Unternehmen um des Prinzips willen wohl für eine Heldentat angesehn werden konnte. Da befand sich noch eine Gestalt plötzlich neben Pseldonimoff, die einen Bückling nach dem anderen machte. Zu seiner unbeschreiblichen Freude, ja, und auch zu seinem Glück erkannte Herr Pralinski in ihm den Sekretär aus seiner Kanzlei, Akim Petrowitsch Subikoff, den er zwar nicht gesellschaftlich, dafür aber als tätigen, schweigsamen Beamten kannte. Vor Freude erhob er sich sofort und streckte Subikoff seine Hand entgegen, die ganze Hand und nicht nur zwei Finger. Subikoff drückte sie vorsichtig in tiefster Ehrerbietung. Exzellenz triumphierte: alles war gerettet!
In der Tat, jetzt war Pseldonimoff nicht mehr, sagen wir, die zweite, sondern einfach die dritte Person. Man konnte sich mit der Erzählung direkt an Subikoff wenden, ihn in der Not wie einen Bekannten behandeln, sogar wie einen nahen Bekannten, Pseldonimoff aber konnte dann schweigen und zittern soviel er wollte. Folglich war der Anstand gewahrt. Die Erzählung aber war unbedingt nötig, das fühlte Herr Pralinski; er sah, daß alle Gäste etwas erwarteten, daß in beiden Türrahmen sich sogar das ganze Hausgesinde versammelt hatte und fast schon aufeinander kroch, um ihn besser sehn und hören zu können. Unangenehm war bloß, daß der Sekretär sich in seiner Dummheit immer noch nicht setzen wollte.
„Aber so setzen Sie sich doch!“ sagte Herr Pralinski und wies etwas ungeschickt neben sich auf das Sofa.
„Ich ... ich ... ich ... ich kann auch hier ...“ stotterte Akim Petrowitsch Subikoff verlegen und setzte sich flink auf einen Stuhl, der ihm im Handumdrehen von Pseldonimoff, der selbst nicht Platz zu nehmen wagte, in die Kniekehlen geschoben wurde.
„Denken Sie doch nur, was mir soeben passierte,“ begann Herr Pralinski mit einer zwar noch etwas unsicheren, aber immerhin liebenswürdigen Stimme ausschließlich zu Akim Petrowitsch gewandt. Er reckte sogar die Worte möglichst in die Länge, sprach die Silben langsam und das a fast wie ein e aus, kurz, er fühlte und begriff, daß er sich nicht natürlich gab, doch konnte er sich nicht mehr beherrschen. Und überhaupt erkannte und begriff er in jenem Augenblick furchtbar viel, weswegen er denn auch doppelt litt.
„Können Sie sich vorstellen: ich komme von Stepan Nikiforowitsch Nikiforoff, dem Geheimrat, Sie haben vielleicht von ihm gehört ...“
Subikoff beugte sich ehrerbietig mit seinem ganzen Oberkörper vor, als wollte er sagen: „Exzellenz, wie sollte ich nicht!“
„Er ist jetzt Ihr Nachbar,“ fuhr Herr Pralinski fort und wandte sich anstandshalber an Pseldonimoff, doch kehrte er sich sofort wieder von ihm ab, da er an den Augen Pseldonimoffs nur zu deutlich gesehn hatte, daß es ihm vollkommen gleichgültig war.
„Er hat sich immer ein Haus kaufen wollen ... Nun, und jetzt hat er es sich glücklich gekauft. Ein ganz allerliebstes Häuschen. Ja ... Und da kam es denn noch hinzu, daß heute sein Geburtstag ist und so hat er ihn denn diesmal vor lauter Freude über sein neues Haus uns nicht verheimlicht, wie er es sonst immer zu tun pflegte, hehe! Wie gesagt, er hatte uns zu sich eingeladen, mich und Ssemjon Iwanowitsch. Sie kennen ihn doch: Schipulenko.“
Subikoff machte mit seinem Oberkörper wieder eine respektvolle Verbeugung; er tat es sogar mit großem Eifer. Herr Pralinski beruhigte sich ein wenig, denn er hatte schon gefürchtet, sein untergebener Sekretär könnte es vielleicht erraten, daß er der einzige rettende Stützpunkt Seiner Exzellenz war. Das wäre gar zu dumm gewesen.
„Nun, wir saßen, tranken Champagner, sprachen über Regierungssachen, ... über dieses und jenes ... über verschiedene Prob–leme ... disputierten sogar ... Hehe!“
Subikoff machte ein ungewöhnlich ehrerbietiges Gesicht.
„Aber darum handelt es sich ja nicht hier. Ich verabschiedete mich schließlich, denn, wissen Sie, Stepan Nikiforowitsch ist sehr pünktlich, er geht stets um halb zwölf zu Bett ... er ist ja auch schon bejahrt. Ich trete hinaus – mein Trifon ist nirgends zu sehn. Gehe hin und her, erkundige mich: es stellt sich heraus, daß er sich in der Hoffnung, ich würde länger sitzen bleiben, auf eine Hochzeit – zu irgend einer Verwandten oder Schwester – begeben hatte ... gleichfalls hier irgendwo auf der Petersburger Seite. Und auch den Schlitten hatte er natürlich mitgenommen.“
Exzellenz blickte wieder vorsichtig zu Pseldonimoff hinüber, was diesen sofort veranlaßte, sich krummzubiegen, doch keineswegs in der Art, wie es Exzellenz haben wollte, und daher schloß er: „Dieser Mensch hat ja überhaupt kein Herz.“
„Nein, so etwas!“ sagte tief erschüttert Akim Petrowitsch Subikoff. Ein Schauer der Verwunderung lief tuschelnd gleichfalls über die dichtgedrängte Schar der übrigen Gäste.
„Nicht wahr? Sie können sich meine Lage denken ...“ Herr Pralinski ließ seinen fragenden Blick über alle Anwesenden schweifen. „Es war natürlich nichts zu machen, gehe also zu Fuß. Ich denke mir, nun, Du gehst bis zum großen Prospekt, dort wirst Du bestimmt noch einen Schlitten finden ... hehe!“
„Hihihi!“ tönte pflichtschuldig das Echo von Subikoff zurück, und wiederum ging ein Getuschel durch die gedrängte Gästeschar. In diesem Augenblick platzte mit lautem Knall der Zylinder der Wandlampe. Irgend jemand stürzte sofort eilfertig hin, um nachzusehn oder irgend etwas zu retten. Pseldonimoff fuhr zusammen und warf einen strengen Blick auf die Lampe, Exzellenz aber beachtete sie überhaupt nicht, und so beruhigte man sich bald.
„Ich gehe also zu Fuß ... Die Nacht ist wundervoll, ganz windstill. Da höre ich plötzlich Musik, Tanzmusik! Erkundige mich beim Schutzmann und erfahre, daß Pseldonimoff seine Hochzeit feiert. Mein Lieber, Ihr Fest ist ja auf der ganzen Petersburger Seite hörbar! Hahaha!“
„Hihihi! Stimmt ...“ meinte auch Subikoff; die Gäste flüsterten und bewegten sich wieder; dumm war nur, daß Pseldonimoff sogar nach diesem Scherz nicht lächelte, sondern wieder nur seinen Bückling machte – wirklich als ob er von Holz gewesen wäre. „Der Kerl scheint ja total borniert zu sein!“ dachte verwundert seine Exzellenz, „wenn der Esel doch einmal lächeln wollte, wäre ja alles gut.“ Die Ungeduld tobte in seinem Herzen.
„Halt! denke ich, wie wär’s, wenn Du einmal bei Deinem Untergebenen vorsprächst? Ob ich ihm willkommen bin oder nicht, er wird mich doch nicht vor die Tür setzen ... Sie verzeihen mir doch, mein Lieber ... Natürlich, wenn ich gestört habe, so werde ich schleunigst wieder gehn ... Ich bin ja eigentlich nur angekommen ...“
Allmählich aber hatte sich eine gewisse Bewegung unter den Gästen bemerkbar gemacht. Subikoff lächelte verklärt, als wollte er sagen: „Gütiger Himmel, wie kann nur Eure Exzellenz stören!“ Und auch an den übrigen Gästen waren die ersten Anzeichen des Zutrauens bemerkbar. Die Damen saßen schon fast alle: ein gutes, positives Zeichen. Die Keckeren von ihnen fächelten sich bereits mit den Taschentüchern zu. Eine von ihnen – es war eine Dame in einem vertragenen Sammetkleide – sagte absichtlich einige Worte etwas lauter. Der Offizier, an den sie gerichtet waren, wollte ihr gleichfalls etwas lauter antworten, doch da sie beide die einzigen mutigen waren, so führte er sein Vorhaben nicht aus. Die Herren, meistens Kanzleibeamten und zwei oder drei Studenten, tauschten untereinander Blicke aus, als wollten sie sich gegenseitig anfeuern, irgend etwas zu unternehmen; vorläufig aber räusperten sie sich nur oder traten von einem Fuß auf den anderen, um sich ein wenig von der Stelle zu rühren. Im Grunde hatte kein einziger Angst; sie waren nur ein wenig scheu und genau genommen blickten sie alle feindselig auf den Unglücklichen, der gekommen war, um ihr Vergnügen zu stören. Der Offizier, der sich schließlich seines Kleinmutes schämte, faßte sich ein Herz und näherte sich ein wenig dem Tisch.
„Äh, mein Lieber, gestatten Sie, nach Ihrem und Ihres Vaters Namen zu fragen?“ wandte sich Herr Pralinski an Pseldonimoff.
„Porfirij Petroff, Exzellenz,“ antwortete der sofort, als ob er Rapport erstattete.
„Nun, Porfirij Petroff, wann werden Sie mich denn mit Ihrer jungen Frau bekannt machen ... Führen Sie mich doch ... ich ...“
Und er bekundete schon die Absicht, sich vom Sofa zu erheben. Wie Pseldonimoff das bemerkte, stürzte er sofort ins Nebenzimmer. Die Neuvermählte stand übrigens an der Tür, als sie aber hörte, daß von ihr die Rede war, schlüpfte sie sofort zurück und versteckte sich. Nichtsdestoweniger führte Pseldonimoff sie nach einer Minute an der Hand wieder in den Saal. Man trat sofort auseinander, um ihnen Platz zum Durchgehen zu geben. Exzellenz erhob sich feierlich und wandte sich mit liebenswürdigem Lächeln an die Neuvermählte:
„Es freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ sagte er mit der elegantesten Halbverbeugung, „und um so mehr, als es gerade an solch einem Tage ...“ u. s. w.
Er lächelte verschmitzt. Die Damen waren angenehm erregt.
„Charmant,“ sagte die Dame im Sammetkleide fast laut.
Die Neuvermählte war ihres Gatten wert. Sie war ein kleines mageres Persönchen von sechzehn Jahren, bleich, mit einem kleinen Gesicht, in dem ein kleines spitzes Näschen saß. Ihr kleinen Augen blickten durchaus nicht verwirrt, im Gegenteil, sie sahen aufmerksam und sogar mit einer gewissen Feindseligkeit den liebenswürdigen Vorgesetzten an. Ihr Brautkleid war aus weißem Musselin auf einem rosa Unterkleide. Ihr Hals war erschreckend mager und ihr Körper war dem eines jungen Huhnes nicht gerade unähnlich. Auf die liebenswürdigen Worte seiner Exzellenz wußte sie so gut wie nichts zu sagen.
„Ich kann Ihnen zu Ihrem Geschmack nur gratulieren,“ sagte er zu Pseldonimoff gewandt halblaut, jedoch absichtlich so, daß sie es unbedingt hören mußte.
Pseldonimoff Antwortete aber auch auf diese Liebenswürdigkeit nur mit Schweigen; ja, diesmal vergaß er sogar, sich zu verbeugen: er rührte sich nicht. Herrn Pralinski schien es plötzlich, daß in seinen Augen etwas Kaltes, wenn nicht Feindseliges aufblitzte. Und doch hieß es für ihn mit aller Gewalt, was es auch koste, die gewünschte Stimmung erreichen. Deswegen war er ja überhaupt eingetreten!
„Das ist mir mal ein Pärchen!“ dachte er bei sich. „Übrigens ...“
Und er wandte sich von neuem an die Junge, die sich neben ihm auf das Sofa niedergelassen hatte, erhielt aber auf seine Fragen nur ein „Ja“ oder „Nein“, und zuweilen selbst das nicht einmal.
„Wenn sie doch wenigstens verlegen werden wollte!“ dachte er wütend. „Ich könnte dann mit ihr scherzen. Aber so ist ja meine Lage einfach aussichtslos!“
Und auch Subikoff schwieg wie zum Trotz, wenn er es auch aus Dummheit tat, so blieb es doch immerhin unverzeihlich.
„Aber meine Damen und Herren! Ich habe Sie doch nicht in Ihrer Geselligkeit gestört?“ wandte er sich an alle Gäste.
Er fühlte schon, daß sogar seine Handflächen transpirierten.
„Oh nein, Exzellenz, wir werden sofort weitertanzen, augenblicklich ... erholen wir uns ein wenig,“ antwortete ihm darauf der lange Offizier, auf dem die Neuvermählte wohlgefällig ihre Blicke ruhen ließ: er war noch nicht alt und sah gut aus in seiner Uniform. Pseldonimoff stand noch immer unbeweglich und seine gebogene Nase nahm sich noch größer aus. Er stand und hörte zu wie ein Diener, der mit Pelzen und Mänteln auf dem Arm dem Abschiedsgespräch seiner Herrschaft zuhört. Diesen Vergleich machte Herr Pralinski in Gedanken beim wiederholten Anblick seines Registrators. Ja, unser Held fühlte sich sehr ungemütlich, er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor, er fühlte, daß er irgendwohin hineingeraten war und sich nicht mehr herausziehen konnte.
Da traten die Gäste an der Tür wieder auseinander, um, wie es schien, jemandem Platz zu machen: es erschien eine mittelgroße, ziemlich stämmige ältere Frau, die einfach angezogen war, ein Tuch, das sie unter dem Kinn festgesteckt hatte, um die Schultern trug und an die Haube, die ihren Kopf schmückte, augenscheinlich noch nicht gewöhnt war. In den Händen hielt sie ein rundes Teebrett, auf dem eine volle, aber schon aufgekorkte Flasche Champagner und zwei Gläser standen – zwei, nicht mehr und nicht weniger. Ersichtlich war die Flasche nur für zwei Menschen gekauft worden.
Die Frau näherte sich ruhig dem Sofa.
„Bitte, Exzellenz, nehmen Sie vorlieb,“ sagte sie nach einem Gruß und einer Verbeugung, „wenn Sie uns schon einmal die Ehre erweisen zur Hochzeit meines Sohnes in eigener Person zu kommen, so bitte ich Sie gefälligst, begrüßen Sie auch schon das junge Paar mit einem Glas. Verachten Sie es nicht, erweisen Sie uns schon die Ehre.“
Herrn Pralinski erschien sie wie ein rettender Engel. Sie war noch durchaus nicht alt, vielleicht fünf- oder sechsundvierzig – nicht mehr. Aber sie hatte solch ein gutes, frisches, solch ein offenes, rundes russisches Gesicht, sie lächelte so gutmütig, begrüßte ihn so einfach, daß Herr Pralinski wieder Mut schöpfte.
„Also S–s–sie sind die Mutter Ihres Sohnes?“ fragte er, sich erhebend.
„Ja, Exzellenz, meine Mutter,“ bestätigte Pseldonimoff, wobei er seinen langen Hals noch mehr ausreckte und seine gebogene Nase noch weiter vorschob.
„Ah! Freut mich, freut mich ungemein!“
„So erweisen Sie uns schon die Ehre, Exzellenz.“
„Aber mit dem größten Vergnügen.“
Das Teebrett wurde auf den Tisch gestellt und Pseldonimoff goß eilfertig den Wein ein. Herr Pralinski nahm seinen Pokal.
„Ich freue mich, ich freue mich ganz besonders der Gelegenheit ...“ begann er, „daß ich bei der Gelegenheit ... Mit einem Wort, als Vorgesetzter mein Wohlwollen bezeugen kann ... Ich wünsche Ihnen, meine Gnädigste“ – er wandte sich an die Neuvermählte – „und auch Ihnen, mein lieber Porfirij Petroff, volles, seliges, leuchtendes Glück!“
Er erhob seinen Pokal und leerte ihn mit tiefem Gefühl auf einen Zug – es war der Zahl nach der siebente an jenem Abend. Pseldonimoff blickte ernst und mürrisch drein und Exzellenz fühlte, daß er ihn schon qualvoll haßte.
„Und diese verfluchte Bohnenstange“ – er blickte wütend auf den langen Offizier, „kann der Kerl denn wirklich nicht einmal Hurra schreien!? Damit würde er ja alles retten ...“
„Und auch Sie, Akim Petrowitsch, – bitte, trinken Sie auch auf das Glück des jungen Paares,“ wandte sich die Alte an den Sekretär. „Sie sind sein Vorgesetzter, beschützen Sie meinen Sohn, ich bitte Sie, wie eine Mutter bittet. Und auch hinfort vergessen Sie uns nicht, mein Liebling, ein guter Mensch sind Sie, Akim Petrowitsch!“
„Wie reizend doch diese alten russischen Frauen sind!“ dachte Herr Pralinski bei sich. „Alle hat sie belebt. Hm, ich habe ja immer gesagt: ich liebe alles, was volklich ist ...“
In dem Augenblick wurde noch ein Teebrett zum Tisch gebracht: eine Magd in einem steifen, noch ungewaschenen Zitzkleide mit einer Krinoline trug es herein; doch kaum konnte sie es fassen – so groß war es. Auf ihm standen eine Menge Schalen, Teller und Vasen mit Äpfeln, Konfekt, Marmeladen, Kuchen, Nüssen u. s. w. Dieses Teebrett hatte bis dahin im Nebenzimmer gestanden, zur Bewirtung der Gäste, vornehmlich der Damen. Nun wurde es aber zum Ehrengast gebracht.
„Verschmähen Sie nicht, Exzellenz, was wir Ihnen bieten können. Was wir haben, dessen freuen wir uns,“ sagte wieder gutmütig die Alte.
„Aber, ich bitte Sie! ...“ rief Herr Pralinski und nahm sogar mit Vergnügen eine Wallnuß, die er mit den Fingern zerdrückte. Er hatte sich entschlossen, bis zum Schluß populär zu sein.
Plötzlich kicherte die Neuvermählte neben ihm.
„Wie?“ erkundigte sich Herr Pralinski lächelnd, sichtlich sehr erfreut über die unvermuteten Lebensanzeichen.
„Hihi, Iwan Kostenjkinytsch scherzt wieder,“ entgegnete sie diesmal mit gesenktem Blick.
Er bemerkte tatsächlich einen hübschen blonden Jüngling, der sich auf einem Stuhl neben dem Sofa niedergelassen und sich halb hinter der Lehne und der jungen Pseldonimowa, der er etwas zuflüsterte, versteckt hatte. Der Jüngling erhob sich sofort. Er schien sehr schüchtern und noch sehr jung zu sein.
„Ich habe ihr nur vom Traumbuch erzählt, Exzellenz,“ sagte er, als wollte er sich entschuldigen.
„Von was für einem Traumbuch?“ fragte Herr Pralinski herablassend.
„Es gibt jetzt ein neues, ein literarisches. Ich hab ihr gesagt, daß, wenn man Herrn Panajeff im Traum sieht, das bedeutete dann, daß man sich das Chemisette mit Kaffee begießen würde.“
„Himmlische Unschuld!“ dachte Exzellenz nicht ohne Wut bei sich.
Der junge Mann errötete zwar, als er seine Erklärung gab, doch war er zu gleicher Zeit unglaublich stolz auf seinen Mut.
„Nun ja, schön, ich habe so etwas gehört ...“ meinte Exzellenz.
„Und was noch amüsanter ist,“ sagte plötzlich eine neue Stimme dicht neben Herrn Pralinski, „es wird ein neues Lexikon herausgegeben, und so heißt es denn, Herr Krajeffski würde palemische Artikel schreiben ...“
Der das sagte war ein junger Mensch, der aber durchaus nicht verlegen schien, sondern eine gewisse Sicherheit in seinem Auftreten hatte. Er war in Handschuhen und weißer Weste und behielt die ganze Zeit seinen Hut in der Hand. Er tanzte nicht, gab aber sonst den Ton an, blickte auf die übrigen Gäste von oben herab, denn er war schon Mitarbeiter an einem satyrischen Blatt, „Der Feuerbrand“, und war gleichsam als Ehrengast zur Hochzeit eingeladen worden. Er hatte schon ziemlich viel Wodka getrunken und war zu diesem Zweck des öfteren in ein bescheidenes Hinterzimmer, zu dem alle Herren den Weg kannten, gegangen. Seiner Exzellenz gefiel er ausnehmend wenig.
„Und das ist nur darum so komisch,“ unterbrach ihn plötzlich freudig der blonde Jüngling, der von der Chemisette erzählt hatte und den der „Mitarbeiter“ haßerfüllt anblickte, „so furchtbar komisch, weil der Herausgeber so tut, als ob Herr Krajeffski die Rechtschreibung nicht könnte und wirklich glaubte, man müsse statt ‚polemisch‘ ‚palemisch‘ sagen ...“ Der arme Jüngling sprach kaum zu Ende, was er sagen wollte. Er erkannte an den Augen seines Zuhörers, daß er eine bekannte Geschichte erzählte, denn seine Exzellenz wurde gleichfalls verlegen, und das natürlich nur, weil er sie schon selbst längst kannte. Der junge Mann schämte sich entsetzlich: er zog sich so schnell als möglich zurück und die ganze Zeit nachher war er tief melancholisch. Dafür aber trat der Mitarbeiter des „Feuerbrandes“ noch näher an seine Exzellenz heran und schien die Absicht zu haben, sich irgendwo in der Nähe niederzulassen. Solch eine liebenswürdige Annäherung schien aber Herrn Pralinski etwas kitzlich.
„Tja! was ich sagen wollte, Porfirij Petroff,“ begann er plötzlich zu diesem gewandt, bloß um etwas zu sagen, „warum – ich wollte es Sie schon längst fragen –, warum nennen Sie sich Pseldonimoff und nicht Pseudonimoff? Denn Ihr Name lautet doch zweifellos Pseudonimoff?“
„Das kann ich leider nicht genau erklären, Exzellenz,“ entgegnete Pseldonimoff.
„Das hat man wohl schon früher verwechselt, als sein Vater in den Dienst trat, ich meine, in den Papieren,“ bemerkte Akim Petrowitsch Subikoff. „Das kommt zuweilen vor.“
„Un–be–dingt!“ griff Exzellenz eifrig den Gedanken auf. „Unbedingt! Denn, urteilen Sie doch selbst: Pseudonimoff würde von dem literarischen Wort Pseudonym herkommen. Was aber bedeutet Pseldonimoff? – Überhaupt nichts!“
„Aus Dummheit,“ fügte plötzlich Subikoff noch hinzu.
„Das heißt, wie meinen Sie das – aus Dummheit?“
„Das russische Volk verwechselt zuweilen aus Dummheit die Buchstaben und spricht überhaupt die Fremdwörter auf seine Art aus. So sagt es z. B. Nevalide, während man doch Invalide sagen muß.“
„Ach so ... Nevalide, hehehe ...“
„Auch hört man häufig ‚Mummer‘ sagen, Exzellenz,“ fiel der lange Offizier ein, den die Lust, sich gleichfalls irgendwie auszuzeichnen, schon lange plagte.
„Wie das, ‚Mummer‘?“
„Mummer anstatt Nummer, Exzellenz.“
„Ach so, Mummer anstatt Nummer ... ja ja ... hehehe? ...“ Exzellenz war gezwungen, auch dem Offizier Beifall zu zollen.
Der Offizier zupfte an seinem Kragen.
„Und dann sagt man auch noch ‚vurbei‘,“ mischte sich der „Mitarbeiter“ des „Feuerbrandes“ in das Gespräch. Exzellenz aber tat, als hätte er die Bemerkung ganz überhört. Er konnte doch nicht für alle lächeln!
„Vurbei anstatt vorbei,“ wiederholte der „Mitarbeiter“ ersichtlich gereizt.
Exzellenz blickte ihn streng an.
„Wozu drängst Du Dich so vor?“ flüsterte Pseldonimoff dem „Mitarbeiter“ zu.
„Wieso, darf ich denn etwa nicht sprechen!“ fragte der flüsternd zurück, schwieg aber doch und verließ mit heimlichem Ingrimm das Zimmer.
Er begab sich wieder in das anziehende Hinterzimmer, in dem für die Herren auf einem kleinen Tisch, der mit einem jaroslawschen Tischtuch bedeckt war, zwei Sorten Schnaps, Hering, Kaviarbrötchen und noch eine Flasche des allerstärksten Sherry aus einem russischen Keller zur Erfrischung hingestellt waren. Mit Wut im Herzen goß er sich ein Gläschen ein, als plötzlich der Student der Medizin hereinstürzte, hastig die Karaffe ergriff und sich eingoß.
„Es wird gleich wieder losgehn!“ sagte er, der erster Tänzer auf dieser Hochzeit Pseldonimoffs war. „Komm zusehn: werde ein Solo auf den Händen tanzen, d. h. mit den Beinen in der Luft und nach dem Essen will ich ’nen ‚Fisch‘ riskieren. Der paßt zur Hochzeit: sozusagen unserem Pseldonimoff ein freundschaftlicher Wink ... Famoses Weib, diese Kleopatra Ssemjonowna, man kann bei ihr faktisch alles riskieren.“
„Das ist ja ein Reaktionär,“ sagte finster der Mitarbeiter und stürzte sein Glas hinab.
„Wer das?“
„Die hohe Persönlichkeit, vor der man sämtliche Süßigkeiten plaziert hat. Ein Reaktionär vom reinsten Wasser, sag ich Dir.“
„Ach!“ rief der Student gleichgültig und stürzte hinaus, da er die ersten Takte der Quadrille hörte.
Der Mitarbeiter goß sich, allein zurückgeblieben, ein noch größeres Glas ein, um sich etwas Mut anzutrinken, darauf nahm er ein Kaviarbrötchen – und noch niemals hatte sich der wirkliche Geheimrat Pralinski einen schrecklicheren Feind und unerbittlicheren Rächer erworben, als es der von ihm übersehene Mitarbeiter des „Feuerbrand“ war, besonders nach dem zweiten Glase Schnaps. Doch wehe! Herr Pralinski ahnte nichts. Desgleichen ignorierte er völlig noch einen anderen wichtigen Umstand, der aber auf das weitere Verhältnis der Gäste zu seiner Exzellenz einen unheilvollen Einfluß haben sollte. Die Geschichte war nämlich die, daß seine Erklärung, warum er zu seinem Untergebenen gekommen war, niemand befriedigt hatte und die Gäste fortfuhren, sich zu ängstigen oder wenigstens sich bedrückt zu fühlen. Plötzlich aber veränderten sich alle wie durch einen Zauberschlag: alle beruhigten sich und waren sofort bereit, wieder zu tanzen, zu lachen, zu schreien, ganz als ob der unerwartete Gast überhaupt nicht zugegen gewesen wäre. Die Ursache dieser Veränderung war das auf unerklärliche Weise entstandene Gerücht, der Gast sei nicht ganz ... nüchtern! Und wenn dieses Gerücht auch den Stempel der schrecklichsten Verleumdung auf sich trug, so fand es allmählich doch immer mehr und mehr Glauben unter den Gästen und bald wurde es allgemein als unzweifelhafte Tatsache angesehn. Daher ging es denn plötzlich ungemein frei her. Die letzte Quadrille vor dem Essen begann.
Gerade als Herr Pralinski sich wieder an die Neuvermählte wenden wollte, um diese Festung mit einem Scherz zu stürmen, erschien plötzlich der lange Offizier und ließ sich unverhofft auf ein Knie vor ihr nieder. Sie erhob sich sofort und flog selig mit ihm davon, um sich in die Reihe zu stellen. Der Offizier machte nicht einmal seine Entschuldigung, als er sie entführte, und sie schenkte seiner Exzellenz nicht einmal einen Blick, als ob sie froh gewesen wäre, ihren Platz verlassen zu können.
„Im Grunde ist sie ja in ihrem Recht,“ dachte Herr Pralinski, „aber was ist denn das für ein Benehmen!“ – „Hm! ... mein lieber Porfirij Petroff,“ wandte er sich an Pseldonimoff, „vielleicht haben Sie irgendetwas anzuordnen ... das heißt, ich meine ja nur ... bitte lassen Sie sich dann nicht abhalten ...“ – „Der Kerl tut wirklich, als müsse er hier auf mich aufpassen,“ dachte er bei sich ungehalten.
Dieser Pseldonimoff, der mit seinem langen Hals und seiner gebogenen Nase neben ihm stand und seinen Blick nicht von ihm abwandte, wurde ihm unerträglich. Kurz, das war alles nicht das, längst nicht das, was Herr Pralinski sich gedacht hatte, aber er war noch lange nicht bereit, sich das einzugestehn.
Die Quadrille begann.
„Gestatten Exzellenz?“ fragte ehrfürchtig Akim Petrowitsch Subikoff, der zaghaft die Champagnerflasche in der Hand hielt und sich halbwegs anschickte, seiner Exzellenz einzugießen.
„Ich ... wirklich, ich weiß nicht, ob ...“
Doch schon goß Subikoff mit andächtig leuchtendem Gesicht den Champagner ein. Als das Glas bis zum Rande gefüllt war, entschloß er sich, auch sein Glas zu füllen, doch tat er das gleichsam unter Gewissensbissen, verlegen und betreten und mit dem Unterschied, daß er in sein Glas etwa einen Fingerbreit weniger eingoß, was seiner Meinung nach etwas höflicher war. Er fühlte sich wie eine Frau in Kindesnöten, als er neben seinem hohen Vorgesetzten saß. Wovon sollte er sprechen? Sprechen aber mußte er unbedingt, da er nun einmal die Ehre hatte, neben seiner Exzellenz zu sitzen: dafür mußte er doch wenigstens unterhaltend sein! Da mußte denn der Champagner retten. Seiner Exzellenz war es sogar angenehm, daß jener eingoß, nicht des Weines wegen, denn der war warm und überhaupt irgendein widerliches Zeug, sondern – gewissermaßen moralisch angenehm.
„Der Alte will natürlich selbst gern trinken,“ dachte Herr Pralinski, „allein aber wagt er es nicht. Ich kann ihn doch nicht des Genusses berauben. Und ’s wäre ja auch lächerlich, wenn die Flasche so unangerührt zwischen uns stände.“
Er nahm einen Schluck, denn das schien ihm besser, als so zu sitzen.
„Ich bin ja nur her–gekommen,“ begann er wieder in seiner „vornehmen“ Art und Weise, „ich bin ja nur, wie man sagt, zufällig her–gekommen, und vielleicht werden einige finden ... daß ich ... daß es mir, wie man sagt, nicht zu–steht, in solch einer ... Gesell–schaft zu sein.“
Subikoff schwieg und hörte nur in scheuer Neugier zu.
„Aber ich hoffe, daß Sie wenigstens verstehn, warum ich hergekommen bin ... Hehe ...“
Subikoff wollte zwar gleichfalls ehrerbietig lächeln, doch plötzlich ging es nicht und Herr Pralinski hörte wiederum nichts beruhigendes von ihm.
„Ich bin her–gekommen ... um, wie man sagt, zu ermuntern ... um zu zeigen, daß es ein, wie man sagt, moralisches Ziel gibt,“ fuhr Pralinski fort, doch die Stumpfheit seines Zuhörers ärgerte ihn und plötzlich verstummte auch er. Der arme Subikoff wagte nicht einmal aufzublicken, ganz als ob sein Gewissen Gott weiß wie schuldbeladen gewesen wäre. Ein wenig verwirrt nahm Exzellenz sein Glas und trank wieder einen Schluck, worauf Subikoff wie nach seinem letzten Strohhalm wieder nach der Flasche griff und von neuem einschenkte.
„Deine Ressourcen können doch unmöglich groß sein,“ dachte Herr Pralinski und betrachtete streng den armen Subikoff. Als dieser den Blick seines hohen Vorgesetzten auf sich ruhen fühlte, beschloß er endgültig, den seinen nicht mehr zu erheben. So saßen sie sich denn stumm gegenüber – das war für Subikoff eine furchtbare Zeit.
Dieser Subikoff war einer von den alten Unterbeamten, die jetzt so ziemlich ausgestorben sind. In Ehrerbietung und Gehorsam aufgewachsen, war er einerseits friedsam wie ein Huhn, und andrerseits ein guter und sogar edler Mensch. Er war ein Petersburger Russe, d. h. sein Vater und sein Urgroßvater waren in Petersburg geboren, aufgewachsen und schließlich gestorben, ohne diese Stadt auch nur ein einziges Mal verlassen zu haben. Das ist ein ganz besonderer Typ Russen. Von Rußland haben sie nicht die geringste Ahnung, was sie aber auch nicht im geringsten beunruhigt. Ihr ganzes Interesse ist auf Petersburg beschränkt und hauptsächlich auf ihren Dienst. Alle ihre Sorgen drehen sich um die Kopekenpréférence, die nächste Kolonialwarenhandlung und ihr Monatsgehalt. Sie kennen keinen einzigen russischen Brauch, kein einziges russisches Volkslied, ausgenommen das eine vom „Kienspanfeuer“ und auch das nur, weil die Drehorgeln dieses Motiv leiern. Übrigens gibt es zwei bestimmte Anzeichen, an denen man unfehlbar den Petersburger Russen von dem echten Russen unterscheiden kann. Erstens: alle Petersburger Russen, alle ohne Ausnahme, sagen „Die Akademischen Nachrichten“ und niemals „Petersburger Nachrichten“, wie das Blatt doch eigentlich heißt. Und zweitens: der Petersburger Russe wird, wenn er „Frühstück“ sagen will, niemals das russische Wort „Sawtrak“ gebrauchen, sondern immer „Frjühstick“ sagen, wobei er noch ganz besonders die erste Silbe betonen wird. An diesen beiden eingewurzelten Kennzeichen kann man sie genau unterscheiden.
Akim Petrowitsch Subikoff gehörte also zu jenen friedlichen Beamtentypen, die sich in den letzten fünfunddreißig Jahren endgültig ausgearbeitet haben. Übrigens war er keineswegs etwa dumm. Hätte Exzellenz ihn andere Dinge gefragt, Dinge, die in sein Fach schlugen, so würde er selbstverständlich geantwortet haben und vielleicht wäre dann das Gespräch gar nicht so uninteressant gewesen. Was aber hätte er als Untergebener auf solche Fragen, wie sie Exzellenz stellte, antworten sollen? Es wäre ja einfach unhöflich gewesen! Und doch hätte er für sein Leben gern etwas genaueres von den wirklichen Absichten seiner Exzellenz erfahren ...
Währenddessen aber versank Herr Pralinski immer mehr und mehr in stumpfes Nachdenken. In der Zerstreutheit griff er immer häufiger nach dem Glase um wieder einen Schluck zu tun. Und sein Nachbar ergriff jedesmal die Gelegenheit, um das Glas wieder bis zum Rand zu füllen. Beide schwiegen sie. Da fiel es Exzellenz plötzlich ein, daß man vor ihm tanzte, und alsbald nahm die Gesellschaft seine Aufmerksamkeit mehr in Anspruch. Mit einem Mal aber fiel ihm etwas auf und setzte ihn sogar in nicht geringe Verwunderung.
Man war allerdings etwas ... sehr lustig. Man tanzte, um sich zu freuen und womöglich auch um sich auszutoben. Gute Tänzer gab es nicht gerade viel, aber die schlechten drehten sich und stampften dermaßen, daß man auch sie für gewandte Tänzer halten konnte. Vor allen anderen zeichnete sich der Offizier aus: er liebte besonders Figuren, in denen er allein blieb und gewissermaßen ein Solo tanzen konnte. Dann, d. h. wenn er allein blieb, verbog und verrenkte er sich wirklich bewunderungswürdig, und zwar in folgender Weise: groß und eine Werst lang wie er war, beugte er sich plötzlich auf eine Seite, so daß man glaubte, er sei in der Taille gebrochen und würde sofort gänzlich umfallen; doch siehe, mit dem zweiten Schritt richtete er sich wieder werstlang auf und mit dem dritten beugte er sich unter demselben schrägen Winkel auf die andere Seite. Der Ausdruck seines Gesichts blieb dabei unveränderlich ernst, und überhaupt tanzte er ersichtlich mit der vollen Überzeugung, daß alle ihn bewunderten. Ein anderer Kavalier, der allzu häufig in das Hinterzimmer gegangen war, schlief in der zweiten Tour neben seiner Dame ein, so daß diese gezwungen war, allein weiterzutanzen. Ein junger Registrator, der den ganzen Abend nur mit einer einzigen Dame tanzte, mit derselben, deren blaue Schärpe seiner Exzellenz über die Nase geflogen war, hatte sich etwas ganz besonderes ausgedacht: er blieb immer ein wenig hinter seiner Dame zurück und so konnte er denn in den Touren, beim Vorübergehn u. s. w. auf das schnell aufgefangene Ende dieser Schärpe zehn bis zwanzig Küsse drücken. Die Dame aber schwamm vor ihm im Tanz einher, als ob sie ein Schwan wäre und nichts von seinen Küssen bemerkte. Der Student der Medizin tanzte tatsächlich ein Solo auf den Händen und hatte unglaublichen Erfolg: die Begeisterung, die er hervorrief, war geradezu erschütternd. Mit einem Wort, die ganze Gesellschaft benahm sich vollkommen ungezwungen. Herr Pralinski, auf den der Wein seine Wirkung hatte, ließ sich herab, sogar zu lächeln, doch allmählich schlich sich eine etwas sonderbare Enttäuschung in seine Seele: oh, er liebte natürlich sehr ungezwungenes, natürliches Benehmen; wie hatte er es herbeigewünscht, als die Gäste noch scheu zurückgetreten waren, und plötzlich überschritten die gerufenen Geister alle Grenzen! Eine Dame in einem vertragenen blauen Sammetkleide z. B. steckte sich in der sechsten Tour den Rock mit Stecknadeln derart auf, daß es aussah, als hätte sie Hosen angehabt. Das war dieselbe Kleopatra Ssemjonowna, bei der man, allerdings nach dem Ausdruck ihres Kavaliers, des Studenten der Medizin, „alles riskieren konnte“. Von diesem Studenten der Medizin lohnt es sich nicht, zu reden: einfach ein zweiter Fokin[5]. – Wie kam das nur? Noch vor so kurzer Zeit waren sie scheu vor dem neuen Gaste zurückgewichen und mit einem Mal sah er sie so emanzipiert vor sich? Es wäre ja weiter nichts dabei gewesen, aber, aber dieser schnelle Übergang war doch etwas sonderbar: er schien etwas zu bedeuten. Es hatte wirklich den Anschein, als hätten sie ganz vergessen, daß Exzellenz zugegen war. Versteht sich, Exzellenz war der erste, der lachte und er ließ sich sogar herab, Beifall zu klatschen. Subikoff kicherte pflichtschuldigst mit, doch tat er es nicht nur gezwungen, sondern mit augenscheinlichem Vergnügen, – ahnungslos, daß Exzellenz bereits einen neuen Wurm in seinem Herzen nährte.
„Sie tanzen ja großartig!“ sagte Exzellenz, als der Student in der letzten Tour an ihm vorüber ging.
Der Student wandte sich hastig zu ihm um, schnitt eine unglaubliche Grimasse und näherte sein Gesicht blitzschnell bis auf eine unhöflich nahe Entfernung und – krähte plötzlich aus voller Kehle. Das war aber denn doch zu viel! Exzellenz erhob sich. Eine wahre Lachsalve erschütterte das Haus, denn die Grimasse des Studenten war dermaßen unerwartet gekommen und er hatte so naturgetreu gekräht, daß das Gelächter nur zu erklärlich war. Exzellenz stand immer noch halb bewußtlos, als plötzlich Pseldonimoff erschien und ihn unter Bücklingen zum Essen aufforderte. Gleich nach ihm kam auch seine Mutter.
„Väterchen, Eure Exzellenz,“ sagte sie, „erweisen Sie uns die Ehre, verabscheuen Sie nicht unser bescheidenes Mahl ...“
„Ich – ich weiß wirklich nicht ...“ stotterte Exzellenz, „ich bin doch nicht mit der Absicht ... ich ... wollte schon längst ...“
Allerdings hielt er noch seine Zobelmütze in der Hand. Ja, er gab sich sogar im selben Augenblick das Ehrenwort, sich unbedingt sofort zu verabschieden, um nichts in der Welt zum Essen zu bleiben und ... und blieb natürlich doch. Nach einer Minute schritt er als erster zu Tisch. Pseldonimoff und die Alte gingen vor ihm her, um ihm den Weg zu bahnen. Man wies ihm den Ehrenplatz an und wieder stand eine volle Champagnerflasche vor seinem Gedeck. Zuerst gab es einen Imbiß: Hering und Schnäpse. Er streckte – nicht ganz bewußt dessen, was er tat – die Hand nach der Schnapskaraffe aus und goß sich ein volles großes Glas ein. Es war ihm, als ob er von einem Berge hinabflog, er glaubte zu fallen, zu fallen, zu fallen und fühlte, daß er sich an irgend etwas halten, anklammern mußte, doch wußte und fand er nicht, was das hätte sein können.
Seine Lage wurde wirklich immer exzentrischer. Er fühlte den Spott des Schicksals. Gott weiß was mit ihm alles in einer kurzen Stunde geschah. Als er eintrat, breitete er, wie man sagt, seine Arme aus, um die ganze Menschheit und alle seine Untergebenen an sein Herz zu drücken; und nach kaum einer Stunde wußte er unter allen Schmerzen seines Herzens, daß er diesen Pseldonimoff haßte und ihn samt seiner Frau und Hochzeit zu allen Teufeln verwünschte. Und zum Überfluß erkannte er noch an dessen Gesicht und Augen, daß auch er von ihm gehaßt wurde: das hatte ihm schon längst der feindselige Blick des jungen Mannes nur allzu deutlich verraten.
Selbstverständlich hätte sich Herr Pralinski, als er sich zu Tisch setzte, eher die Hand abschlagen lassen, als daß er sich selbst wirklich die ganze Wahrheit eingestanden hätte. Aber der Augenblick, da das hätte geschehen können, war noch nicht gekommen, und vorläufig gab es, wie man zu sagen pflegt, noch ein moralisches „Balancé“. Aber das Herz, das Herz ... oh, das tat so weh! es drängte hinaus, in die Freiheit, an die Luft, zur Erholung! Es war doch wirklich ein gar zu guter Mensch, dieser Iwan Iljitsch Pralinski!
Er wußte doch, wußte es ja ganz genau, daß er schon längst hätte fortgehn müssen, und nicht nur einfach fortgehn, sondern sich geradezu hätte retten müssen; daß sein ganzes Unternehmen vollkommen fehlgeschlagen, keineswegs das war, was er sich auf dem Brettersteg gedacht hatte!
„Warum bin ich denn hergekommen? Doch nicht, um hier zu essen und zu trinken?“ fragte er sich, als er den Hering aß. Er wurde sogar ganz Pessimist, und in seinem Herzen fühlte er, daß er sich selbst zuweilen lächerlich fand in seiner Heldenrolle. Ja, es kam sogar so weit mit ihm, daß er allmählich selbst nicht mehr begriff, warum er eigentlich eingetreten war.
„Wie hätte ich denn früher fortgehn sollen? So fortgehn, ohne die Sache bis zu Ende durchgeführt zu haben, war unmöglich. Was würde man sagen? Man würde sagen, daß ich mich an unanständigen Orten herumtreibe. Und das würde ja auch so sein, wenn ich es, wie gesagt, nicht durchführte. Was wird aber morgen – bis dahin wird es ja schon überall bekannt sein – z. B. Stepan Nikiforowitsch sagen, und Ssemjon Iwanytsch? Und was wird man in der Kanzlei sagen? Und bei Schembels? Und bei Schubins? Nein, ich muß so fortgehen, daß sie alle begreifen, warum ich überhaupt gekommen bin, ich muß den moralischen Zweck meines Erscheinens klarlegen ...“ Und doch wartete er vergeblich auf den pathetischen Moment. „Sie achten mich ja nicht einmal,“ fuhr er fort, zu denken. „Worüber mögen sie jetzt nur lachen? Sie sind so lustig, als ob sie ganz gefühllos wären ... Ich habe es ja immer gesagt: die ganze neue Generation taugt nichts: gefühllos. Ich muß bleiben, was es auch koste, ich muß! ... Bis jetzt haben sie getanzt, hier aber bei Tisch sind sie alle beisammen ... Ich werde einfach von den Tagesfragen reden, hm! ... von den Reformen, der Größe Rußlands ... oh! ich werde sie schon fortreißen! Ja! Und vielleicht ist überhaupt noch nichts verloren ... Vielleicht ist es in der Wirklichkeit immer so. Womit soll ich nur beginnen, um sie sofort zu fesseln? Hm! man müßte so einen besonderen Kniff erfinden ... Ich weiß wirklich nicht ... Und was wollen sie nur, was verlangen sie eigentlich? ... Wie ich sehe, lachen sie dort schon wieder. Sollten sie etwa über mich ...? Grundgütiger Himmel! Aber was will ich denn ... warum bin ich denn hier, warum gehe ich nicht fort, was will ich eigentlich? ...“ Und plötzlich, noch als er das dachte, befiel ihn eine tiefe Scham, eine unerträgliche Scham, die ihm das Herz zu zerreißen drohte.
Es war nichts mehr zu machen: das war einfach Verhängnis.
Genau zwei Minuten nachdem er sich zu Tisch gesetzt hatte, überfiel ihn ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke, der ihm kalten Schweiß auf die Stirn herauspreßte. Er fühlte plötzlich, daß er furchtbar betrunken war, d. h. nicht so, wie vorher, sondern wirklich total betrunken, und zwar infolge des einen Schnapses, den er nach dem vielen Champagner hinuntergestürzt hatte, und der alsbald seine Wirkung tat. Er fühlte es mit seinem ganzen Bewußtsein, daß ihn alle Kräfte verließen. Den Mut verlor er zwar deswegen nicht im geringsten, im Gegenteil, der nahm sogar noch ungeheuer zu, aber sein Bewußtsein verließ ihn keinen Augenblick und schrie ihm ununterbrochen in das linke Ohr: „das ist schlecht, sehr schlecht, sehr schlecht und sogar ganz unanständig!“ Selbstverständlich blieben die trunkenen Gedanken nicht bei diesem einen Punkte stehn: in ihm tat sich plötzlich, fast greifbar für ihn selbst, eine Duplizität seines Ichs kund. Sein erstes Ich war: Mut, das Verlangen den Feind zu schlagen, zu siegen, und die verzweifelte Überzeugung, daß er sein Ziel noch erreichen würde. Das zweite Ich aber tat sich durch dumpfen, quälenden Kopfschmerz kund: „was wird man sagen? Wie wird das enden? Was wird morgen sein, morgen, morgen!? ...“
Zuerst fühlte er nur gewissermaßen stumpfsinnig, daß er unter den Gästen Feinde hatte. „Das kommt daher, daß ich auch vorhin betrunken war,“ dachte er unter peinigenden Zweifeln. Wie groß aber war sein Entsetzen, als er wirklich an unzweifelhaften Anzeichen einsehen mußte, daß er am Tisch tatsächlich Feinde hatte.
„Und weswegen nur? Weswegen?“ fragte er sich.
An diesem Tisch saßen alle Gäste, etwa dreißig an der Zahl, doch waren von ihnen einige schon ganz und gar „unterm Tisch“. Und die anderen führten sich so sonderbar auf, mit solch einer bösartigen Ungezwungenheit, schrieen, sprachen alle laut durcheinander, kündeten vorzeitig Toaste an, schossen mit Brotkugeln auf die Damen ihrer Vis-à-vis. Irgend ein Herr in einem fettigen Rock fiel, als er sich zu Tisch setzen wollte, unter den Tisch, wo er ruhig liegen blieb – vielleicht bis zum nächsten Morgen. Ein anderer wollte unbedingt auf den Tisch steigen, um einen Toast zu halten, und nur dem Offizier, der ihn an den Rockschößen ergriff, gelang es noch, ihn von seinem vorzeitigen begeisterten Vorhaben abzubringen. Das Essen war, was die Güte anbetraf, sehr verschiedenartig, obgleich man einen Koch, den Leibeigenen irgend eines Generals, um Rat und Hilfe gebeten hatte; es gab Eisbein, gebratene Zunge mit Kartoffeln, Fleischplätzchen mit grünen Erbsen, endlich gab es noch eine Gans und zum Schluß noch Blanc-manger. An Getränken hatte man Bier, Schnaps und Sherry. Die Champagnerflasche stand dicht vor seiner Exzellenz, was ihn zwang, sich wie Subikoff selbst einzugießen, besonders da letzterer bei Tisch nicht mehr aus eigener Initiative zu handeln wagte. Zu den Toasten auf das Wohl des jungen Paares war irgend ein roter Wein bestimmt. Der Tisch an und für sich bestand aus vielen Tischen, unter denen sich auch ein Kartentisch befand, und bedeckt waren sie gleichfalls mit vielen Tischtüchern, unter denen sich wiederum ein geblümtes jaroslawsches hervortat. Die Gäste saßen in bunter Reihe. Pseldonimoffs Mutter hatte nicht am Tisch sitzen wollen; sie hatte in der Küche zu tun. Dafür erschien ein anderes, aber bösartiges Frauenzimmer, das sich vorher nicht gezeigt hatte, in einem rotseidenen Kleide, mit verbundener Backe und entsetzlich hoher Haube. Es war das die Mutter der Neuvermählten. Sie hatte sich endlich herabgelassen, zum Essen zu erscheinen; bis dahin war sie nicht zu bewegen gewesen, das Hinterzimmer zu verlassen, und das nur infolge ihres unversöhnlichen Hasses auf die Mutter ihres Schwiegersohnes; aber darauf werde ich noch später zurückkommen. Exzellenz wurde von dieser Dame gehässig, ja fast spöttisch betrachtet, und augenscheinlich wollte sie ihm nicht einmal vorgestellt werden. Das schien ihm sehr verdächtig. Doch außer ihr gab es noch andere Gesichter, die ihm verdächtig schienen und nicht wenig Sorgen bereiteten. Es schien ihm sogar, daß sie sich alle untereinander gegen ihn verschworen hatten, und während des Essens überzeugte er sich noch immer mehr und mehr davon. Vor allen anderen erschien ihm sehr bösartig: ein Herr mit einem kleinen Bart – irgend ein freier Künstler –, der mehrmals Exzellenz ostentativ betrachtete und sich dann wieder an seinen Nachbar wandte, um ihm etwas Spaßhaftes ins Ohr zu flüstern. Zweitens, ein Jüngling, der allerdings ganz betrunken war, aber nach einigen Anzeichen zu urteilen, doch keine Sympathieen für ihn übrig zu haben schien. Dasselbe konnte man auch von dem Studenten der Medizin sagen. Und sogar der Offizier war nicht ganz zuverlässig. Doch ganz unverhohlenen Haß brachte ihm der Mitarbeiter des „Feuerbrandes“ entgegen: der lag so nachlässig auf seinem Stuhl, blickte so stolz und herausfordernd drein, lachte so frech und frei. Und als plötzlich ein großes, dickes, wohlgezieltes Brotkügelchen neben seinem Teller niederfiel, da war Exzellenz fest überzeugt und hätte seinen Kopf auf die Wette gesetzt, daß der Absender dieses Geschosses niemand anderes als dieser „Mitarbeiter“ gewesen war.
Alles das beeinflußte ihn natürlich in bedauerlicher Weise.
Besonders unangenehm war auch noch eine andere Beobachtung. Herr Pralinski überzeugte sich nämlich, daß es ihm bereits einige Schwierigkeiten machte, die Worte auszusprechen, daß er sehr vieles sagen wollte, die Zunge sich aber nicht mehr so ganz bewegen ließ; und darauf, daß er sich allmählich in Gedanken verlor und plötzlich ohne jeden Grund lachte. Dieser Zustand verging aber bald nach einem neuen Glase Champagner, das er sich zwar selbst eingegossen hatte, doch im Grunde überhaupt nicht hatte trinken wollen, und das er dann plötzlich doch ganz in Versehen hinabstürzte. Darauf hätte er am liebsten geweint. Er fühlte, daß ihn wieder die exzentrischste Sentimentalität überkam, daß er wieder bereit war, alle zu lieben, alle, alle, selbst Pseldonimoff, selbst den Mitarbeiter des „Feuerbrandes“. Er wollte ihnen um den Hals fallen, sich mit ihnen versöhnen, alles vergessen. Ja, er wollte ihnen sogar alles erzählen, alles, alles, d. h. was für ein guter und lieber Mensch er war, welche prachtvollen Gaben er hatte, wie er dem Vaterlande nützlich sein würde, wie er die Damen zu unterhalten verstände und vor allen Dingen, welch ein Fortschrittler er wäre, wie human, wie bereit, zu allen hinabzusteigen, selbst zu den allerniedrigsten; er war sogar bereit, ihnen aufrichtig alle Motive zu erzählen, die ihn bewogen hatten, uneingeladen bei Pseldonimoff zu erscheinen, bei ihm zwei Flaschen Champagner auszutrinken und ihn dafür mit seiner Gegenwart zu beglücken.
„Die Wahrheit, die heilige Wahrheit vor allen anderen Dingen und die Aufrichtigkeit! Das ist’s: mit Aufrichtigkeit werde ich sie nehmen. Sie werden mir sofort Glauben schenken, ich sehe es schon kommen. Jetzt blicken sie noch feindselig, wenn ich ihnen aber alles sage, werde ich sie alle besiegen. Sie werden ihre Gläser füllen und sie mit einem Hoch auf mich austrinken. Der Offizier wird sein Glas natürlich an seinem Sporn zerschlagen. Sie könnten meinetwegen sogar Hurra schreien. Ja, selbst wenn sie mich auf Husarenart aufheben wollen, werde ich es ihnen nicht verbieten; es würde sich sogar sehr gut machen. Die Junge küsse ich dann auf die Stirn; sie ist doch wirklich ganz nett. Dieser Subikoff ist auch ein guter Mensch. Pseldonimoff wird sich mit der Zeit natürlich bessern. Ihm fehlt noch, wie man sagt, der gesellschaftliche Schliff. ... Und obgleich der ganzen neuen Generation diese gewisse Herzensvornehmheit abgeht, so ... aber ich werde von der gegenwärtigen Bedeutung Rußlands unter den anderen Mächten reden. Werde auch die Bauernfrage erwähnen, ja, und ... und alle werden sie mich lieben und ich werde als Sieger dieses Haus verlassen! ...“
Diese Gedanken waren natürlich sehr angenehm, aber unangenehm war nur, daß er plötzlich zwischen all diesen rosaroten Hoffnungen ganz unerwartet eine neue Eigenschaft an sich entdeckte, nämlich: unbewußt zu spucken. Wenigstens sah er, wenn er sprach, daß sein Speichel ganz gegen seinen Willen nur so spritzte. Zum ersten Mal bemerkte er es im Gespräch mit Subikoff, dem er plötzlich die Wange total bespritzte und der vor lauter Ehrfurcht nicht wagte, sie sich abzuwischen. Da nahm denn Exzellenz seine Serviette und wischte ihm selbst die Wange ab. Doch im selben Augenblick schien ihm was er tat dermaßen ungereimt, dermaßen gegen alle gesunde Vernunft, daß er verstummte und aus einer Verwunderung in die andere geriet. Subikoff saß wie abgebrüht auf seinem Stuhl. Da erinnerte sich Herr Pralinski, daß er schon seit einer Viertelstunde über ein äußerst interessantes Thema zu ihm sprach, dieser Subikoff aber, wenn er auch zuhörte, doch verlegen zu sein schien oder gar sich vor irgend etwas fürchtete. Pseldonimoff, der einen Stuhl weiter von ihm saß, streckte gleichfalls seinen langen Hals näher zu ihm und hörte mit dem allerunangenehmsten Gesichtsausdruck zu. Nein, es hatte wirklich den Anschein, als fühlte sich sein Registrator verpflichtet, auf ihn acht zu geben. Er überflog die Gäste mit seinem Blick und bemerkte, daß viele ihn ansahen und auslachten. Das Sonderbare war dabei nur, daß es ihn nicht im geringsten verwirrte; er tat noch einen Schluck aus seinem Glase und hob plötzlich laut zu sprechen an:
„Ich habe schon einmal gesagt,“ begann er möglichst laut, „meine Damen und Herren, ich habe schon einmal gesagt, und soeben habe ich es auch Akim Petrowitsch gesagt, daß Rußland ... ja, gerade Rußland ... mit einem Wort, Sie verstehen, was ich sa-sa-sagen will ... Rußland durchlebt jetzt, wenigstens meiner festen Überzeugung nach, eine Epoche der Hu-hu-manität ...“
„Hu-hu-humanität!“ tönte es vom anderen Tischende zurück.
„Huhuhuu!“
„Tututuu!“
Exzellenz verstummte. Pseldonimoff erhob sich und blickte streng hinüber: er wollte wissen, wer es geschrieen hatte. Subikoff schüttelte gleichsam heimlich ein wenig den Kopf, als ob er die Gäste warnen wollte. Exzellenz bemerkte es wohl, schwieg aber unter seinen Qualen.
„Humanität!“ fuhr er hartnäckig fort, „und vorhin, gerade vorhin sagte ich Stepan Niki–ki–fo–rowitsch ... ja, ... daß ... daß die Erneuerung, wie man sagt, der ...“
„Exzellenz!“ ertönte es laut am anderen Tischende.
„Wie beliebt?“ fragte der unterbrochene Redner, bemüht den Schreier zu entdecken.
„Nichts, Exzellenz, ich meinte nur so. Fahren Sie fort! Fah–ren–Sie–fort!“ ertönte von neuem dieselbe Stimme.
Herr Pralinski fühlte sich gekränkt, aber doch nicht allzu sehr.
„Die Erneuerung, wie man sagt, dieser selben ...“
„Exzellenz!“ rief die Stimme von neuem.
„Was wollen Sie?“
„Leben Sie hoch!“
Da hielt es Herr Pralinski nicht mehr aus. Er verstummte und wandte sich mit strenger Miene an den Friedensstörer und Beleidiger. Es war ein junger Gymnasiast, der viel getrunken hatte und große Befürchtungen erregte. Er hatte schon ein Glas und zwei Teller zerschlagen, unter dem Vorwande, daß man es auf einer Hochzeit so tun müsse. Als Herr Pralinski sich an ihn wandte, wies ihn der Offizier streng zur Ruhe.
„Was fehlt Dir eigentlich? Warum brüllst Du? Wenn Du nicht schweigst, werde ich Dich vor die Tür setzen!“
„Nicht von Ihnen, Exzellenz, nicht von Ihnen ist hier die Rede! Fahren Sie fort!“ schrie der heitere Schuljunge, auf seinem Stuhl in ungenierter Pose zurückgelehnt. „Fahren Sie fort, ich höre zu und bin mit Ihnen sehr zufrieden! Großartig, groß–artig!“
„Ein betrunkener Schulbub!“ raunte Pseldonimoff seinem Vorgesetzten zu.
„Das sehe ich, aber ...“
„Ich habe ihm vorhin eine Geschichte erzählt, Exzellenz,“ begann der Offizier, „von einem Leutnant unseres Regiments, der genau so mit seinem Vorgesetzten sprach; und jetzt kopiert er ihn. Zu allem, was sein Regimentschef sprach, sagte er: ‚groß–artig, groß–artig!‘ Dafür wurde er denn vor zehn Jahren aus dem Dienst entlassen.“
„Wa–wa–was ist denn das für ein Leutnant?“
„Ein Leutnant unseres Regiments, Exzellenz. Er war auf dem ‚groß–artig‘ einfach übergeschnappt. Zuerst bekam er Hausarrest, dann Verweise und dann Karzer ... Der Regimentschef redete ihm wie ein Vater zu, er aber sagt ihm: ‚groß–artig, groß–artig!‘ Und sonderbar: er war wirklich ein mutiger Offizier. Man wollte ihn schließlich vor’s Gericht stellen, aber da stellte es sich von selbst heraus, daß er irrsinnig war ...“
„Das bedeutet also ... ein Schuljunge. Für Schuljungenstreiche braucht man auch nicht so streng ... Ich bin meinerseits bereit, zu verzeihen ...“
„... was die Ärzte auch sofort bestätigten.“
„A–ber er war doch ganz lebendig? Wie, wie konnte man ihn denn anatomieren?“
Eine laute Lachsalve erhob sich. Das hatten sich die Gäste bis dahin denn doch noch nicht erlaubt! Exzellenz wurde wild.
„Meine Herren! Meine Damen und Herren!“ rief er, ohne auch nur ein einziges Mal zu stottern. – „ich weiß es sehr gut, daß man einen lebendigen Menschen nicht anatomieren kann. Ich nahm, wie gesagt, nur an, daß er im Wahnsinn nicht mehr lebendig war ... das heißt, schon gestorben war ... das heißt, ich meine nur ... daß Sie mich nicht lieben ... Ich aber liebe Sie alle ... ja, und ich liebe auch Dich, Por... Porfirij ... Ich erniedrige mich, wenn ich so spreche ...“
In dem Augenblick spritzte aber wieder Speichel von seinen Lippen und flog auf das Tischtuch – gerade auf die sichtbarste Stelle. Pseldonimoff stürzte sofort herbei, um abzuwischen. Dieses letzte Unglück vernichtete seine Exzellenz vollständig.
„Nein, das ist zu viel!“ rief er verzweifelt.
„Nur ein betrunkener Schuljunge, Exzellenz!“ flüsterte ihm wieder Pseldonimoff zu.
„Porfirij! Ich sehe, daß Ihr ... alle ... alle ... ja! Ich sage, daß ich hoffe ... ja, ich fordere alle auf, zu sagen: wodurch habe ich mich erniedrigt?“
Exzellenz war dem Weinen nahe.
„Aber Exzellenz! Wie kommen Exzellenz auf so etwas!“
„Porfirij, ich wende mich an Dich. – Sage, warum ich gekommen bin ... ja ... ja, auf die Hochzeit, ich hatte doch ein Ziel! Ich wollte moralisch erheben ... ich wollte, daß man fühlt ... Ich wende mich an alle: verehrte Anwesende! Bin ich in Ihren Augen sehr gesunken oder nicht?“
Grabesschweigen. Aber das war ja das Unglück, daß auf seine kategorische Frage nur allgemeines Schweigen die Antwort war. „Was würde es sie kosten, jetzt hurra zu schreien!“ zuckte es Exzellenz durch den Kopf. Aber die Gäste tauschten nur stumm vielsagende Blicke untereinander aus. Subikoff war weder tot noch lebendig und klammerte sich nur krampfhaft an seinen Stuhl; Pseldonimoff stellte sich, stumm vor Schreck, immer wieder die furchtbare Frage:
„Was wird mit mir dafür morgen geschehn?“
Plötzlich wandte sich der Mitarbeiter des „Feuerbrand“, der schon längst betrunken war, doch bis dahin in finsterem Schweigen vor sich hin gebrütet hatte, direkt an seine Exzellenz und antwortete im Namen der ganzen Gesellschaft:
„Ja!“ rief er mit lauter Stimme und seine Augen glänzten. „Ja! Sie haben sich erniedrigt, Sie sind ein ... Reaktionär!“
„Junger Mann, besinnen Sie sich! Mit wem Sie, wie man sagt, sprechen!“ rief heftig Herr Pralinski und sprang wieder von seinem Platz auf.
„Mit Ihnen, und zweitens bin ich kein ‚junger Mann‘ ... Sie sind hergekommen, um hier eine schöne Rolle zu spielen, um populär zu werden.“
„Pseldonimoff, was bedeutet das!“ schrie Exzellenz außer sich.
Pseldonimoff sprang in solch einem Entsetzen auf, daß er zuerst steif und betäubt stehen blieb, und nicht wußte, was er tun sollte. Die Gäste verstummten gleichfalls auf ihren Plätzen. Der freie Künstler und der Schüler klatschten Beifall und schrien „bravo, bravo!“
Der Mitarbeiter aber fuhr in unbändigem Eifer fort zu schreien:
„Ja, Sie sind hergekommen, um Ihre Humanität zu beweisen! Sie haben das allgemeine Vergnügen gestört! Sie haben Champagner getrunken und nicht bedacht, daß Champagner viel zu teuer ist für einen Beamten, der zehn Rubel monatlich erhält, und ich vermute sogar, daß Sie zu jenen Vorgesetzten gehören, die auf die jungen Frauen ihrer Untergebenen geschliffen sind! Ja, und ich bin sogar überzeugt, daß Sie Schmiergelder nehmen ... Ja, ja, ja!“
„Pseldonimoff, Pseldonimoff!“ rief Exzellenz und streckte in der Verzweiflung die Arme nach ihm aus. Er fühlte, daß jedes Wort des Mitarbeiters ein neuer Dolchstich für sein Herz war.
„Sofort, Exzellenz, beunruhigen Sie sich nicht!“ rief energisch der wieder zu sich gekommene Pseldonimoff, lief zum Mitarbeiter, packte ihn am Kragen und schleifte ihn hinaus. Solch eine physische Kraft hätte niemand von dem schwächlichen Pseldonimoff erwartet. Der Mitarbeiter war aber sehr betrunken und Pseldonimoff vollkommen nüchtern. Darauf gab er ihm noch einige Rippenstöße und schloß dann die Tür hinter ihm zu.
„Alle seid Ihr Schufte!“ schrie der Mitarbeiter hinter der Tür. „Ich werde Euch morgen alle im ‚Feuerbrand‘ karrikieren! ...“
Erregt sprangen sofort alle auf.
„Exzellenz, Exzellenz!“ riefen Pseldonimoff, seine Mutter und noch einige Gäste, die sich um den Ehrengast drängten, „Exzellenz! Beruhigen Sie sich!“
„Nein, nein!“ rief Exzellenz, „ich bin vernichtet ... Ich kam ... ich wollte, sozusagen, taufen. Und das! Das habe ich dafür ... für alles, für alles! ...“
Er sank halb bewußtlos wieder auf seinen Stuhl, legte beide Arme auf den Tisch und beugte seinen Kopf auf sie nieder – d. h. gerade auf seinen Teller mit Blanc-manger. Ich glaube, es ist überflüssig, das allgemeine Entsetzen zu beschreiben. Nach einer Minute erhob er sich wieder, augenscheinlich in der Absicht fortzugehn, wankte aber, stieß an einen Stuhlfuß und fiel der Länge nach platt hin.
Das geschieht zuweilen mit Nichttrinkern, wenn sie sich einmal zufällig angetrunken haben. Bis ins Kleinste, bis zum letzten Augenblick behalten sie ihr Bewußtsein, dann aber fallen sie plötzlich wie vom Blitz getroffen hin. Exzellenz lag vollkommen bewußtlos auf dem Boden. Pseldonimoff fuhr sich in die Haare und erstarrte in dieser Bewegung. Die Gäste beeilten sich, nach Haus zu gehn, und alle sprachen sie über das Vorgefallene. Es war schon gegen drei Uhr morgens.
Das wirklich Schlimme war nur, daß die Verhältnisse Pseldonimoffs viel schlechter waren, als man es sich damals hätte denken können, ganz abgesehen selbst von der Peinlichkeit seiner Lage am Hochzeitstage.
Noch vor einem Monat hatte er im aussichtslosesten Elend gelebt. Er stammte aus der Provinz, wo sein Vater Beamter gewesen war. Fünf Monate vor seiner Heirat, nachdem er sich ein ganzes Jahr lang vorher brotlos in Petersburg herumgetrieben, hatte er schließlich diese Stelle von zehn Rubel monatlich erhalten. Er wäre körperlich und geistig wiedererstanden, wenn sich nicht bald darauf seine Verhältnisse wieder verschlimmert hätten. Auf der Welt gab es im ganzen nur zwei Pseldonimoffs, ihn und seine Mutter, die nach dem Tode ihres Mannes die Provinz verlassen hatte. Mutter und Sohn waren beide obdachlos, und wären in der Kälte beinahe elend umgekommen: sie nährten sich nur von zweifelhaften Dingen. Auch gab es Tage, an denen Pseldonimoff selbst mit einem Krug zur Fontanka ging, um mit dem schmutzigen Flußwasser seinen Durst zu stillen. Als er die Stelle erhalten hatte, mietete er mit seiner Mutter einen Winkel. Sie wurde Wäscherin und er sparte drei, vier Monate, bis er sich ein Paar Stiefel und einen Paletot kaufen konnte. Und wieviel Unangenehmes mußte er in der Kanzlei erdulden: Vorgesetzte erkundigten sich bei ihm, ob er auch eine Badstube kannte? Über ihn verbreitete sich das Gerücht, daß im Kragen seiner Uniform sich Wanzen Nester bauten. Aber Pseldonimoff hatte einen festen Charakter. Er war ein friedlicher und stiller Mensch; seine Bildung war nur sehr gering, und sprechen hörte man ihn fast nie. Daher konnte man auch nicht wissen, ob er dachte, ob er Pläne machte und Systeme baute oder sich nach irgendetwas sehnte. Zum Ersatz dafür hatte sich aber bei ihm instinktiv der feste Entschluß entwickelt, sich aus dieser schlechten Lage herauszuarbeiten. Er besaß eine wahrhaft ameisenhafte Zähigkeit: zerstört man den Ameisen ihr Nest, so fangen sie bekanntlich sofort an, sich ein neues zu bauen, zerstört man auch dieses, so bauen sie sich wieder ein neues, und so weiter unermüdlich. Er war ein aufbauender und häuslicher Charakter. Es stand auf seiner Stirn geschrieben, daß er sich doch sein Nest bauen und vielleicht noch Vorräte ansammeln würde. Auf der ganzen Welt liebte ihn nur seine Mutter, die aber liebte ihn bis zur Grenzenlosigkeit. Sie war gleichfalls eine Frau von Charakter, war unermüdlich arbeitsam und von großer Güte. So hätten sie in ihrem Winkel unter diesen Verhältnissen vielleicht noch fünf oder sechs Jahre gelebt, wenn sie nicht mit dem Titularrat außer Diensten, dem alten Mlekopitajeff zusammengetroffen wären, der auch früher einmal in der Provinz gelebt und sich erst in letzter Zeit mit seiner Familie in Petersburg niedergelassen hatte. Mit Pseldonimoff war er bekannt und seinem Vater sogar einmal verpflichtet gewesen. Er war bemittelt, allerdings nicht sehr, wieviel er aber in Wirklichkeit besaß, das wußte Niemand, weder seine Frau, noch seine Tochter, noch sonst seine Verwandten. Er hatte zwei Töchter und da er ein eingebildeter Trunkenbold, ein Haustyrann und außerdem noch ein kranker Mensch war, so fiel es ihm plötzlich ein, die eine Tochter mit Pseldonimoff zu verheiraten: „Ich kenne ihn, sein Vater war ein guter Mensch, also wird auch er ein guter Mensch sein.“ Und was Mlekopitajeff wollte, das führte er auch durch: gesagt – getan. Er war ein sonderbarer Kauz. Den größten Teil seines Lebens brachte er im Lehnstuhl zu, da er sich infolge einer Krankheit seiner Beine kaum bedienen konnte, was ihn indessen nicht hinderte, Schnaps zu trinken. Tagelang konnte er trinken und – schimpfen. Da er ein boshafter Mensch war, so mußte er immer irgend jemanden haben, den er ununterbrochen quälen konnte. Zu diesem Zweck unterhielt er bei sich einige entferntere Verwandte: seine Schwester, die ebenfalls krank und zänkisch war, zwei Schwestern seiner Frau, die der seinen in nichts nachstanden, und eine alte Tante, die sich bei irgendeiner Gelegenheit einmal eine Rippe gebrochen hatte. Dann gab es dort noch eine verrußte Deutsche, die er gleichfalls unentgeltlich bei sich hielt, weil sie ihm so schöne Märchen „aus Tausend und einer Nacht“ zu erzählen wußte. Sein ganzes Vermögen bestand darin, diese unglücklichen freien Kostgänger jeden Augenblick und bei jeder Gelegenheit zu schimpfen und aufzusticheln, seine Frau übrigens nicht ausgenommen, – ein Wesen, das mit Zahnschmerzen bereits auf die Welt gekommen war –, und sie alle wagten ihm nicht ein Wort zu erwidern. Er hetzte sie auch gegeneinander auf, erfand und verbreitete unter ihnen Klatschgeschichten und lachte und freute sich dann, wenn sie sich gegenseitig beinahe in die Haare gerieten. Ebenso freute er sich sehr, als seine älteste Tochter, die mit einem armen Offizier verheiratet gewesen war und zehn Jahre in der größten Armut gelebt hatte, jetzt als Witwe mit drei kleinen Kindern zu ihm übersiedelte. Ihre Kinder konnte er zwar nicht leiden, da sich aber dadurch das Material zu seinen täglichen Experimenten vergrößerte, so war der Alte schließlich doch ganz zufrieden damit. Diese Sammlung böser Weiber und kranker Kinder lebte samt ihrem Peiniger zusammen gedrängt in dem Holzhause auf der Petersburger Seite, konnte sich weder sattessen, denn der Alte war geizig und gab nur kopekenweise das Geld her, obgleich er sonst zum Schnaps immer genügend Geld hatte, noch sich ausschlafen, denn der Greis litt an Schlaflosigkeit und wollte unterhalten und zerstreut werden. Kurz, alle verwünschten sie ihr Schicksal. Und da war es denn, daß ihm plötzlich Pseldonimoff auffiel. Er war erstaunt über dessen lange Nase und ergebenen Gesichtsausdruck. Seine kränkliche und unansehnliche jüngere Tochter erreichte gerade das Alter von siebzehn Jahren. Wenn sie auch früher einmal so etwas wie eine deutsche Schule besucht hatte, so hatte sie es doch nicht weiter als bis zum Lesen und Schreiben gebracht. Sie wuchs auf, mager und skrophulös, unter dem Krückstock eines betrunkenen Vaters, in einem Sodom von häuslichen Klatschereien, Spionage und Verleumdungen. Freundinnen hatte sie niemals gehabt. Sie war zu allem zu dumm. Heiraten wollte sie aber schon längst. In Gegenwart von fremden Menschen sprach sie kein Wort, zu Hause aber war sie böse und zänkisch wie eine kleine Viper. Besonders liebte sie die Kinder ihrer Schwester zu kneifen und zu stoßen, sie anzugeben, wenn sie Zucker oder Brot gestohlen hatten, weshalb denn zwischen ihr und der älteren Schwester ein ewiges unerbittliches Gezänk war. Der Alte selbst bot seine Tochter Pseldonimoff an. Wie sehr sich dieser darüber auch unglücklich fühlte, so bat er sich doch eine Bedenkzeit aus. Lange berieten Mutter und Sohn miteinander, was zu tun war. Aber das Haus wurde auf den Namen der Braut geschrieben und wenn es auch ein unansehnliches einstöckiges Holzhaus war, so hatte es doch immerhin einen Wert. Außerdem bekam sie auch noch vierhundert Rubel Mitgift, wie aber sollte man sich die je zusammensparen! „Ich nehme mir diesen Menschen in’s Haus,“ schrie der betrunkene Alte, „erstens weil ihr alle Weiber seid und das Weibspack allein langweilt mich. Ich will, daß auch Pseldonimoff nach meiner Flöte tanzt, weil ich sein Wohltäter bin. Zweitens, nehme ich ihn darum, weil Ihr ihn alle nicht wollt und Euch darüber ärgert. Und so nehme ich ihn denn Euch zum Trotz. Was ich aber gesagt habe, das werde ich auch ausführen. Du aber, Pseldonimoff, haue sie, wenn sie Deine Frau wird; ihr sitzen von Geburt an sieben Teufel im Leibe. Jage sie alle hinaus!“
Pseldonimoff schwieg, er hatte sich entschlossen. Man nahm ihn und seine Mutter bereits vor der Hochzeit ins Haus, wusch und kleidete sie und gab ihnen Geld. Der Alte protegierte sie vielleicht nur darum, weil die ganze Familie sich über sie ärgerte. Pseldonimoffs Mutter gefiel ihm sogar sehr und er enthielt sich ihr gegenüber jeglicher Gemeinheiten. Übrigens, ihrem Sohn befahl er alsbald, vor ihm den Kasatschock zu tanzen. „Nun, genug, ich wollte nur sehn, ob Du Dich mir gegenüber vergessen wirst,“ sagte er, nachdem er sich am Tanzen sattgesehen hatte. Geld zur Hochzeit gab er wie es sich gehörte und er lud sogar alle seine Verwandten und Bekannten ein. Von Seiten Pseldonimoffs waren der Mitarbeiter des „Feuerbrandes“ und Akim Petrowitsch Subikoff die Ehrengäste. Pseldonimoff wußte es sehr gut, daß seine Braut für ihn nur Widerwillen empfand und daß sie den langen Leutnant heiraten wollte, nicht aber ihn. Er ließ jedoch alles über sich ergehn, – das hatte er mit der Mutter so verabredet. Den ganzen Tag über und selbst am Hochzeitsabend noch hatte der Alte mit den gemeinsten Worten geschimpft und wieder gehörig getrunken. Die ganze Familie hatte sich des Festes wegen in die hinteren Zimmer zurückgezogen, wo es bis zum Ersticken heiß und eng war. Die vorderen Zimmer dagegen waren zum Tanz und Festessen bestimmt. Endlich, als der Alte vollständig betrunken einschlief, ungefähr um elf Uhr Abends, entschloß sich die Mutter der Braut, die sich diesen Tag ganz besonders schlecht zur Mutter Pseldonimoffs verhalten hatte, den Ärger in Güte zu verwandeln und sich am Fest zu beteiligen. Das Erscheinen seiner Exzellenz verdarb aber alles. Frau Mlekopitajeff verlor die Fassung, fühlte sich beleidigt und schimpfte, warum man es ihr nicht gesagt, daß man seine Exzellenz eingeladen hatte. Man versicherte ihr, daß er von selbst, uneingeladen gekommen wäre – sie aber war so dumm, daß sie es nicht glauben wollte. Man mußte Champagner reichen. Bei der Mutter fand sich noch ein Rubel Silber, Pseldonimoff selbst aber hatte keine Kopeke mehr. Man mußte also die alte wütende Mlekopitajeff anflehen, Geld für die eine und dann noch für die zweite Flasche zu geben. Man hielt ihr die Zukunft, die Karriere ihres Schwiegersohnes vor, die man durch solche Verbindungen machen könnte und sie gab denn auch zu guter Letzt von ihrem eigenen Gelde, doch mußte Pseldonimoff einen so bitteren Kelch dabei leeren, daß er wie wahnsinnig ins Zimmer lief, wo das Ehebett schon bereitet war, und sich mit beiden Händen sein Haar raufte und seinen Kopf in die schönen Kissen preßte, die doch nur zu paradiesischen Genüssen bestimmt waren, und vor ohnmächtiger Wut am ganzen Körper zitterte. Ja, Exzellenz ahnte es nicht, was diese zwei Flaschen Sekt, die er am Abend getrunken, gekostet hatten! Wie groß aber war das Entsetzen Pseldonimoffs, sein Kummer und seine Verzweiflung, als es mit seiner Exzellenz auf solche Weise endete! Wieder standen ihm die größten Sorgen bevor und die ganze Nacht über mußte er den Tränen seiner kapriziösen jungen Frau und den Vorwürfen der dummen Verwandten Widerstand leisten. Ihn schmerzte schon sowieso der Kopf und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Aber man mußte doch seiner Exzellenz zu Hilfe eilen, mußte ihm doch um drei Uhr morgens einen Arzt und einen festen Wagen suchen, denn auf einem kleinen offenen Schlitten konnte man solch eine Persönlichkeit und in solch einem Zustande nicht nach Hause bringen. Und woher das Geld für den Wagen nehmen? Die Mlekopitajeff, die darüber wütend war, daß der „General“ ihr nicht ein Wort gesagt noch sie bei Tisch angesehen hatte, erklärte einfach, sie hätte keine Kopeke mehr. Vielleicht hatte sie auch wirklich keine mehr. Wo also sollte man das Geld hernehmen? Was sollte man machen? Ja, es war genug Grund vorhanden, sich die Haare zu raufen.
Vorläufig hob man seine Exzellenz auf ein kleines Ledersofa, das im Speisezimmer stand, und während man im Zimmer Ordnung schaffte und alles abräumte, lief Pseldonimoff vom Einen zum Andern, um Geld aufzutreiben. Zuerst versuchte er es bei der Magd, doch stellte es sich heraus, daß niemand welches hatte. Er wagte es sogar Akim Petrowitsch Subikoff, der noch nicht fortgegangen war, zu beunruhigen. Der aber geriet in solch eine Verwirrung, wenn er auch sonst ein guter Mensch war, und erschrak dermaßen, als von Geld die Rede war, daß er den unglaublichsten Unsinn zusammensprach:
„Ein anderes Mal werde ich mit Vergnügen,“ murmelte er, „... aber jetzt ... wirklich, entschuldigen Sie mich ...“
Er nahm seine Mütze und lief so schnell als möglich zum Hause hinaus. Schließlich blieb nur noch der gutmütige Jüngling übrig, der von dem Traumbuch erzählt hatte. Auch er war länger zurückgeblieben und nahm an dem Unglück Pseldonimoffs herzlichen Anteil. Alle drei beschlossen sie, nicht mehr nach dem Doktor, sondern nur nach einem Wagen zu schicken, um den Kranken in seine Wohnung überzuführen, sonst aber an ihm Hausmittel anzuwenden: die Schläfen und den Kopf mit kaltem Wasser abzureiben, Eiskompressen zu machen und Ähnliches. Das übernahm die Mutter Pseldonimoffs. Der Jüngling aber lief davon, um den Wagen zu besorgen. Da aber auf der Petersburger Seite um diese Zeit nicht einmal Schlitten zu finden waren, so mußte er sich auf einen weit entfernten Droschkenhof begeben und dort erst die Kutscher aufwecken. Man handelte und sprach noch lange hin und her, daß fünf Rubel zu solch einer Stunde für einen geschlossenen Wagen zu wenig wären. Indessen kam man doch mit drei Rubeln überein. Als aber der Jüngling um vier Uhr morgens mit dem Wagen bei Pseldonimoff vorfuhr, hatten sie ihren Entschluß schon längst geändert. Es erwies sich, daß Herr Pralinski, der noch immer nicht zu sich kam, so schwer erkrankt war, so ächzte und stöhnte und sich hin und her warf, daß es einfach unmöglich und viel zu gewagt schien, ihn in solch einem Zustande nach Hause zu fahren.
„Was wird aus alledem noch werden?“ rief Pseldonimoff immer wieder fassungslos.
Was sollte man tun? Es stellte sich jetzt eine neue Frage: wenn man ihn nun einmal im Hause behalten mußte, wo sollte man ihn dann betten? Im ganzen Hause waren nur zwei Betten: ein großes zweischläfriges Bett, in dem der alte Mlekopitajeff und seine Frau schliefen, und das neugekaufte zweischläfrige Bett, das für die Neuvermählten bestimmt war. Alle anderen Einwohner oder richtiger Einwohnerinnen des Hauses schliefen auf dem Fußboden, d. h. auf Matratzen, die meistens sehr zerrissen waren, aber auch diese waren alle besetzt. Wohin sollte man den Kranken legen? Ein Federbett würde sich zur Not noch haben finden lassen, man hätte es im äußersten Falle unter irgend einer Schläferin hervorgezogen, aber wo und worauf sollte man ihn betten? Im Saal natürlich, da es das entlegenste Zimmer war, von dem Familiennest etwas weiter entfernt lag und einen besonderen Ausgang hatte. Aber worauf betten? Doch nicht etwa auf Stühlen? Bekanntlich wird den Gymnasiasten, wenn sie am Sonnabend Abend aus der Schule zum Sonntag nach Hause kommen, auf Stühlen eine Schlafstelle bereitet, – aber solch einer Persönlichkeit gegenüber wäre das ja einfach unerhört respektlos gewesen. Was würde er am nächsten Morgen sagen, wenn er sich auf Stühlen gebettet fände? Pseldonimoff wollte davon überhaupt nichts hören. Es blieb nur eines übrig: ihn auf das Bett der Neuvermählten zu bringen. Dieses Brautlager war, wie ich schon erwähnte, in einem kleinen Raum neben dem Speisezimmer hergerichtet. Auf dem Bett war eine neue zweischläfrige Matratze, reine Wäsche, vier Kissen aus rosa Kaliko mit weißen Musselinschleiern, die mit Rüschen besetzt waren. Die rosa Atlasdecke war mit Mustern bestickt. Aus einem goldenen Ring hingen Musselin-Bettvorhänge von oben herab. Mit einem Wort, es war wie es sein mußte, und die Gäste, die sich fast alle das Brautgemach angesehn hatten, waren von der Einrichtung sehr entzückt gewesen. Die Braut aber lief während des Abends, obgleich sie Pseldonimoff nicht leiden konnte, einige Mal hierher, um es sich anzusehn. Man kann sich denken, wie groß ihr Unwille, ihre Wut war, als sie erfuhr, daß man auf ihrem Brautbett den Kranken, der vielleicht sogar an der Cholera erkrankt war, betten wollte! Auch ihre Mutter trat für sie ein, schimpfte gehörig und versprach am anderen Tage sich bei ihrem Manne zu beklagen: aber Pseldonimoff blieb dabei und bestand darauf: Exzellenz wurde aufs Bett gebracht und den Neuvermählten bereitete man im Gastzimmer ein Lager auf Stühlen. Die Neuvermählte weinte, war bereit, alle zu kneifen, wagte aber doch nicht zu widersprechen: sie wußte, daß Papachen einen Krückstock hatte, und der war ihr nur zu gut bekannt, und sie wußte gleichfalls, daß Papachen am nächsten Tage Rapport verlangen würde. Zu ihrer Beruhigung brachte man ihr noch die rosa Decke und die Kissen mit den Musselinbezügen. In demselben Augenblick kam der Jüngling mit dem Wagen an, und als er erfuhr, daß der Wagen nicht mehr nötig war, erschrak er furchtbar. Er mußte also den Wagen bezahlen, obgleich er in seinem ganzen Leben noch keine zehn Kopeken besessen hatte. Pseldonimoff erklärte sich für vollkommen bankerott. Man versuchte den Kutscher zu bereden, doch wollte der von alledem nichts wissen, er wütete nur und schrie. Womit das endete – weiß ich nicht genau. Ich glaube, der Jüngling begab sich sozusagen als Gefangener des Kutschers im Wagen in den Stadtteil Peski, wo er einen ihm bekannten Studenten, der bei Bekannten übernächtigte, aufzuwecken und anzupumpen gedachte. Es war schon fünf Uhr morgens, als man die Neuvermählten allein ließ und sie sich im Wohnzimmer einschlossen. Am Bette des Kranken blieb die alte Pseldonimoff. Sie wickelte sich in einen Pelz und legte sich auf den Teppich neben dem Bett, aber schlafen konnte sie nicht, denn sie war gezwungen, alle Augenblicke aufzustehn: Exzellenz litt an einem furchtbar verdorbenen Magen. Frau Pseldonimoff, eine tapfere und großmütige Frau, entkleidete ihn eigenhändig, pflegte ihn wie ihren eigenen Sohn und brachte die ganze Nacht über das nötige Geschirr hinaus und wieder zurück. Indessen hatten die peinlichen Überraschungen dieser Nacht noch lange nicht ihr Ende erreicht.
Es waren, seitdem man das junge Ehepaar allein gelassen hatte, noch keine zehn Minuten vergangen, als man plötzlich ein ohrenzerreißendes Geschrei hörte, keinen Schrei des Entzückens, nein, sondern ein sehr boshaftes Gekreisch. Nach dem Geschrei hörte man Lärm und Gepolter wie ein Fallen von Stühlen und im Augenblick stürzte völlig unerwartet in das dunkle Zimmer eine ganze Eskadron erschrockener und jammernder Frauen herein, die alle in den unmöglichsten Nachtkostümen staken. Diese Frauen waren: die Mutter der Jungen, deren ältere Schwester, die in diesem Moment selbst ihre drei kranken Kinder verlassen hatte, drei Tanten, darunter auch die eine mit der gebrochenen Rippe, ja sogar die Köchin war dabei, und auch die Deutsche, die so schöne Märchen erzählen konnte, und der man das einzige, was sie besaß, nämlich ihre Matratze, – die beste im ganzen Haus – unten weggezogen hatte, um sie dem jungen Paar zu geben, auch sie stürzte mit den Andern zusammen herein. Alle diese achtenswerten Frauen hatten sich schon seit einer Viertelstunde auf den Zehenspitzen herangeschlichen, um aus einer ganz unerklärlichen Neugier an der Tür zu lauschen. Man machte also sofort Licht und ihnen allen bot sich ein ganz unerwartetes Schauspiel. Die Stühle, von denen die breite Matratze nur an den Rändern gestützt worden war, hatten der doppelten Schwere nicht Widerstand leisten können und waren auseinander gerutscht, die Matratze war daher zwischen ihnen auf den Fußboden gesunken. Die junge Frau weinte vor Wut, dieses Mal war sie wirklich tief gekränkt. Moralisch vernichtet und wie ein Verbrecher stand der arme Pseldonimoff da – öffentlich der Gemeinheit überführt. Er vermochte nicht einmal sich zu verteidigen. Von allen Seiten hörte man Gekreisch und Geschrei. Auf diesen Lärm hin lief auch die Mutter Pseldonimoffs herbei, doch die Mutter der Neuvermählten behielt das Übergewicht. Sie überschüttete Pseldonimoff mit sonderbaren und ganz ungerechten Vorwürfen, wie: „Was bist Du denn nach alledem eigentlich für ein Mann! Wozu taugst Du denn überhaupt noch nach solch einem Skandal?“ und so weiter, nahm darauf ihre Tochter am Arm und führte sie fort, nachdem sie persönlich die Rechtfertigung dieser Handlung vor ihrem gefürchteten Manne auf sich genommen hatte. Ihr folgten kopfschüttelnd und klagend all die anderen Frauen. Nur die Mutter Pseldonimoffs verließ ihren Sohn nicht und versuchte ihn zu trösten. Aber er jagte auch sie hinaus.
Ihm war nicht nach Trost zu Mut. Er setzte sich, so wie er war, im Hemd und barfüßig, aufs Sofa und verfiel in trübes Sinnen. Gedanken durchkreuzten und verwirrten seinen Kopf. Ganz mechanisch sah er sich im Zimmer um, in welchem sich noch vor ein paar Stunden die Tanzenden gedreht hatten und wo in der Luft noch der Zigarettenrauch stand. Zigarettenstummel und Konfektpapier lagen auf dem begossenen und staubigen Fußboden umher. Das zerstörte Ehelager und die umgeworfenen Stühle zeugten von der Vergänglichkeit der besten und aufrichtigsten Erdenträume und Hoffnungen. So saß er eine ganze Stunde lang. Ihm gingen schwere Fragen durch den Kopf, zum Beispiel: was ihn jetzt im Dienst erwarten würde? Es war ihm schmerzlich einzusehn, daß er seine Stelle verlassen mußte, denn nach allem, was an diesem Abend geschehen war, konnte er unmöglich auf seinem Posten bleiben. Auch dachte er an Mlekopitajeff, der ihn vielleicht morgen schon wieder den Kasatschock tanzen lassen würde, um seine Bescheidenheit zu erproben. Fünfzig Rubel hatte er ihm zur Hochzeit gegeben, die waren aber bis auf die letzte Kopeke verausgabt worden, doch die vierhundert Rubel Mitgift auszuzahlen, daran dachte der Alte auch nicht einmal. Ja, auch von dem Besitz des Hauses hatte er keine formelle Bescheinigung. Dann dachte er noch an seine Frau, die ihn in der kritischsten Minute seines Lebens verlassen hatte und an den langen Offizier, der vor seiner Frau aufs Knie gesunken war, dachte dann an die sieben Teufel seiner Frau, auf die er von dem Schwiegervater selbst aufmerksam gemacht worden war ... Freilich fühlte er die Kraft in sich, Vieles ertragen zu können, aber das Schicksal brachte ihm solche Überraschungen, daß es wohl verständlich war, wenn er an den eigenen Kräften verzweifelte. So trauerte Pseldonimoff in der Unglücksnacht. Währenddessen brannte der Lichtstummel aus, sein flackernder Schein fiel gerade auf das Profil Pseldonimoffs und malte an die Wand in riesigen Dimensionen sein Schattenbild: seinen langen Hals, seine gebogene Nase und die zwei Haarbüschel am Kopf, den einen am Kopfwirbel, den anderen über der Stirn. Endlich beim ersten Morgengrauen, als es ihn fröstelte, legte er sich auf die Matratze, ohne das Licht auszulöschen, ohne etwas zu ordnen, ohne sich ein Kissen unter den Kopf zu schieben. Ihn überfiel ein bleierner Schlaf, wie ihn nur zum Tode Verurteilte am Tage vor der Hinrichtung zu haben pflegen.
Und andrerseits – womit hätte man diese qualvolle Nacht vergleichen können, die Herr Pralinski auf dem Brautbett des unglücklichen Pseldonimoff verbrachte! Die Kopfschmerzen, die Übelkeit mit allen ihren Folgen verließen ihn keinen Augenblick. Das waren Höllenqualen! Das Bewußtsein, wenn es für einen Moment in seinem Kopfe auftauchte, beleuchtete solche Abgründe des Entsetzens, so trübe und widerliche Bilder, daß es besser für ihn war, nicht zur Besinnung zu kommen. Übrigens drehte sich ihm alles im Kopf herum. Er erkannte, zum Beispiel, die Mutter Pseldonimoffs, hörte ihre tröstenden Beruhigungen, in der Art wie: „Halt aus, mein Täubchen, halt aus Väterchen, es kommt alles auf Gewohnheit an,“ er erkannte und hörte sie, konnte sich aber doch keine logische Rechenschaft geben über ihre Anwesenheit. Unangenehme Bilder verfolgten ihn; am häufigsten erschien ihm Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko; strengte er sich aber an, ihn sich näher anzusehn, so war es wiederum nicht Ssemjon Iwanowitsch Schipulenko, sondern die Nase Pseldonimoffs. Auch tauchten vor ihm der freie Künstler, der Offizier und die Alte mit der verbundenen Backe auf. Aber am meisten beschäftigte ihn der goldene Ring, der über seinem Kopfe hing und an dem die Vorhänge befestigt waren. Er sah den Ring ganz genau bei dem kargen Schein des Lichtendchens, das nur trübe das Zimmer beleuchtete, und strengte sich an zu denken: wozu dieser Ring dient, warum er hier hängt und was er bedeutet? Er fragte sogar einige Mal die Alte danach, doch konnte er sich augenscheinlich nicht deutlich genug ausdrücken, denn wie er sich auch anstrengte, die Alte verstand ihn nicht. Erst gegen Morgen hörten die Anfälle auf und er schlief fest und traumlos ein. So schlief er ungefähr eine Stunde und als er schließlich erwachte, war er bei voller Besinnung, fühlte aber nur einen unerträglichen Kopfschmerz und seine Zunge schien sich in ein Stück Tuch von schlechtestem Geschmack verwandelt zu haben. Er erhob sich ein wenig, blickte sich um und dachte nach. Das bleiche Licht des Morgens stahl sich als heller Streifen durch die Ritze der Fensterläden und erzitterte an der Wand. Es war ungefähr sieben Uhr morgens. Als er sich aber plötzlich alles dessen erinnerte, was mit ihm am Abend vorher geschehn war, als er sich aller Einzelheiten beim Abendessen erinnerte, seiner fehlgeschlagenen Eroberung, seiner Rede bei Tisch, und sich plötzlich mit der erschreckendsten Klarheit alle Folgen, die sich daraus für ihn ergeben würden und was man über ihn denken würde, vorstellte, als er sich umblickte und gewahr wurde, in welch einen traurigen und ekelhaften Zustand er das friedliche Ehelager seines Untergebenen gebracht hatte – oh, da überfiel ihn solch eine Scham, da fühlte er solche Qualen, daß er sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte und sich verzweifelt in die Kissen warf. Aber sofort richtete er sich wieder auf, sprang aus dem Bett, ergriff seine Kleider, die schon gereinigt und gesäubert neben ihm auf dem Stuhle lagen, und zog sie so eilig an, als ob er irgend jemandem entfliehen wollte. Dort auf dem anderen Stuhle lagen auch sein Pelz, seine Mütze, und in der Mütze seine gelben Handschuh. So wollte er leise verschwinden, als sich plötzlich die Tür öffnete und die alte Pseldonimowa mit einer tönernen Waschschale und mit einem reinen Handtuch über der Schulter eintrat. Sie stellte die Schüssel hin und erklärte ruhig und ohne Umschweife, daß er sich waschen müsse.
„Wie denn, Väterchen, wasche Dich doch, es geht nicht so, man muß sich zuerst waschen ...“
Und in diesem Augenblick fühlte er plötzlich, daß, wenn es auf der Welt ein Wesen gab, vor dem er sich weder zu schämen noch zu fürchten brauchte, es diese alte Frau war. Er wusch sich. Lange noch nachher erinnerte er sich in den schweren Minuten seines Lebens dieser ganzen Situation, der tönernen Waschschüssel mit dem kalten Wasser, in dem noch Eisstückchen schwammen, und der Seife im rosa Papier mit erhabenen Buchstaben, die fünfzehn Kopeken kostete und für die Neuvermählten gekauft worden war und an deren Stelle er sich nun ihrer bediente, „der Alten“ mit dem gewürfelten Handtuch auf der linken Schulter. Das kalte Wasser erfrischte ihn; er trocknete sich ab, sagte kein Wort, dankte nicht einmal seiner barmherzigen Schwester, ergriff die Mütze, nahm seinen Pelz, den sie ihm reichte, um die Schultern und lief durch den Korridor, durch die Küche, wo die Katze sich streckte und miaute und die Köchin ihm in gieriger Neugier nachglotzte, lief auf den Hof, auf die Straße und warf sich in den ersten Schlitten, den er erblickte. Der Morgen war kalt und frostig, ein gelber Nebel hüllte alles ein. Herr Pralinski schlug seinen Pelzkragen auf. Es schien ihm, daß alle ihn ansahen, alle ihn kannten und alle alles wußten.
Acht Tage ging er nicht von Hause, acht Tage erschien er nicht in seiner Kanzlei. Er war krank, qualvoll krank, – aber doch mehr moralisch, als physisch. Diese acht Tage durchlebte er wie in der Hölle, und es ist anzunehmen, daß sie ihm im Jenseits angerechnet werden. Es gab Minuten, da er glaubte, er müsse Mönch werden. Seine Phantasie entwickelte sich ganz außerordentlich nach dieser Seite hin. Er sah sich bereits in der einsamen Zelle, hörte unterirdische Gesänge, sah geöffnete Gräber, grüne Wiesen und Gefilde; aber sobald er wieder zu sich kam, erkannte er sofort, daß das doch nur der schrecklichste Unsinn wäre, Mönch zu werden, und dann schämte er sich seiner Phantasie. Darauf bekam er moralische Anfälle, die sich aus seiner vermeintlichen existence manquée ergaben. Dann flammte wieder die Scham in seiner Seele auf und verbrannte und zerstörte alles, was in ihr war. Er erzitterte bei der Vorstellung verschiedener Bilder: was man von ihm sagen wird, was man von ihm denken wird, wie er in die Kanzlei gehen wird, welch ein Geflüster ihn verfolgen wird, das ganze Jahr, zehn Jahre lang, sein ganzes Leben lang. Die Geschichte wird sich noch in seiner Nachkommenschaft fortpflanzen! Er verfiel sogar von Zeit zu Zeit in solch einen Kleinmut, daß er bereit gewesen wäre, zu Semjon Iwanowitsch Schipulenko zu fahren und ihn um seine Verzeihung und Freundschaft zu bitten. Sich selbst verteidigte er überhaupt nicht mehr, er gab sich vollständig auf.
Auch dachte er daran, seinen Abschied einzureichen und so in der Einsamkeit sich dem Glücke der Menschheit zu widmen. Jedenfalls war es unbedingt nötig, mit allen früheren Bekannten zu brechen und jegliche Erinnerung an sich auszulöschen. Darauf schien es ihm wieder, daß auch das ein Unsinn wäre und daß man durch verstärkte Strenge zu den Untergebenen die ganze Sache wieder retten könnte. Von dem Augenblick an faßte er wieder Mut und so fing er denn wieder zu hoffen an. Endlich, nach Verlauf von zehn Tagen der größten Zweifel und Qualen fühlte er, daß er die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte und beschloß daher un beau matin wieder in die Kanzlei zu gehn.
In seiner Verzweiflung hatte er sich wenigstens tausendmal vorgestellt, wie es sein würde, wenn er in die Kanzlei tritt. Mit Entsetzen überzeugte er sich, daß er durchaus ein zweideutiges Geräusch hören, zweideutige Gesichter und auf ihnen ein zweideutiges Lächeln bemerken wird. Wie groß war daher sein Erstaunen, als in Wirklichkeit von alledem nichts geschah. Man empfing ihn ehrerbietig; man grüßte ihn, alle waren ernst und alle waren beschäftigt. Freude erfüllte sein Herz, als er in sein Kabinett eintrat.
Er erledigte sofort seine Arbeit, hörte aufmerksam allen Erklärungen und Berichten zu und traf verschiedene Bestimmungen. Er fühlte es, daß er noch nie so klug und so sachlich alles bestimmt und erledigt hatte, wie an diesem Morgen. Er sah es, daß man mit ihm zufrieden war, daß alle ihm ergeben waren, und daß man sich zu ihm ehrerbietig verhielt. Auch das allergrößte Mißtrauen hätte nichts anderes bemerken können. Die Sache ging also großartig.
Schließlich erschien auch Akim Petrowitsch Subikoff mit irgend welchen Papieren. Bei seinem Erscheinen stach Herrn Pralinski etwas ins Herz, aber nur auf einen Augenblick. Er beschäftigte sich mit Akim Petrowitsch, zeigte und erklärte ihm, was er zu tun hatte. Er bemerkte nur, daß er es vermied, ihm längere Zeit in die Augen zu sehn oder daß vielmehr Akim Petrowitsch es vermied, ihn anzusehn. Und als die Sache erledigt war, stand Akim Petrowitsch auf und suchte seine Papiere zusammen.
„Und dann ist hier noch ein Gesuch,“ begann er so trocken als möglich, „des Beamten Pseldonimoff; er bittet um seine Überführung in die ... Kanzlei ... Seine Exzellenz Semjon Iwanowitsch Schipulenko haben ihm eine Stelle versprochen. Er bittet Exzellenz um eine gütige Fürsprache.“
„Also er geht über,“ sagte Exzellenz und fühlte dabei, wie ihm etwas Schweres vom Herzen genommen wurde. Er sah auf, und in dem Augenblick begegneten sich ihre Blicke.
„Nun, ich meinerseits ... ich werde ... ich bin bereit ...“ antwortete er.
Akim Petrowitsch wollte augenscheinlich so schnell als möglich verschwinden. Exzellenz jedoch entschloß sich plötzlich – in einem Anfall von Edelmut – sich darüber auszusprechen. Ihn überfiel wieder eine gewisse Begeisterung.
„Übergeben Sie ihm,“ begann er, wobei er einen hellen und bedeutungsvollen Blick auf Akim Petrowitsch richtete, „übergeben Sie ihm, daß ich ihm nichts Böses nachtrage, ja, nichts Böses! ... Daß ich, im Gegenteil, bereit bin, alles Gewesene zu vergessen, alles, alles ...“
Aber plötzlich erstarrte Exzellenz förmlich, als er zu seinem Erstaunen das sonderbare Betragen Akim Petrowitschs bemerkte, der sich, unbekannt warum, aus einem vernünftigen Menschen in einen Dummkopf verwandelte. Anstatt nun aufmerksam zuzuhören, was er ihm sagte, errötete er über und über, verbeugte sich eilig mit kleinen Bücklingen und zog sich ängstlich zur Tür zurück. Sein ganzes Aussehn verriet, daß er den Wunsch hatte, in die Erde zu versinken, oder besser gesagt, sich an seinen Tisch zurückzuziehen. Herr Pralinski, der allein blieb, erhob sich in der Verwirrung vom Stuhl. Er blickte zwar in den Spiegel, doch tat er es, ohne sich dabei zu sehn.
„Nein, Strenge, Strenge, nur Strenge!“ flüsterte er sich selbst unbewußt zu, und plötzlich bedeckte heiße Röte sein Gesicht. Er schämte sich dermaßen, wie er sich nicht einmal in den schrecklichsten Minuten seiner achttägigen Krankheit geschämt hatte. „Konnte nicht aushalten!“ sagte er sich und sank kraftlos auf seinen Stuhl zurück.