Bobock.
Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt • 第19章
Dieses Mal bringe ich meinen Lesern die „Aufzeichnungen eines gewissen Menschen“. Dieser Mensch bin nicht ich; das ist vielmehr ein ganz anderer. Ich glaube, ein Vorwort ist weiter nicht nötig.
Aufzeichnungen eines gewissen Menschen.
Fährt mich da plötzlich dieser Ssemjon Ardaljonowitsch ganz ohne weiteres an:
„Sag’ doch bitte, Iwan Iwanytsch, wirst Du überhaupt einmal nüchtern werden oder nicht!?“
Sonderbare Anforderung! Fühle mich aber nicht gekränkt. Bin ein schüchterner Mensch. Einstweilen aber hat man mich schon für verrückt erklärt. Ein Maler hat mich porträtiert. Ganz zufällig. „Bist doch,“ sagt er, „immerhin Literat!“ Meinetwegen. Und so saß ich ihm dreimal. Jetzt hat er’s ausgestellt. Kurz darauf lese ich: „Man beeile sich, dieses kranke, dem Wahnsinn nahe Gesicht anzusehen!“
Meinetwegen. Aber trotzdem: wie kann man das nur so öffentlich in der Zeitung sagen? Schreiben muß man doch nur Edles; Ideale tun not; und da schreiben sie nun so was! ...
Sag’ es doch wenigstens indirekt, dazu gibt es doch Redewendungen! Nein, er will es nicht mehr indirekt sagen. Humor und guter Stil verschwinden heutzutage spurlos und Geschimpf wird jetzt für Witz und Scharfsinn gehalten. Nein. Fühle mich nicht gekränkt: bin nicht Gott weiß was für ein Literat, um verrückt zu werden. Schrieb mal eine Novelle – wurde nicht gedruckt. Schrieb ein Feuilleton – wurde abgewiesen. Solcher Feuilletons habe ich etliche in verschiedene Redaktionen geschleppt: vergeblich. „Sie haben,“ heißt es, „kein Salz in Ihren Schriften.“
„Was wollen Sie denn für ein Salz,“ frage ich spöttisch, „– etwa attisches?“
Begreifens nicht einmal. Übersetze größtenteils für Buchhändler aus dem Französischen. Schreibe auch Reklameannoncen für Kaufleute: „Seltenheit! Prima Sorte! Roter Tee von eigenen Plantagen! ...“ Zapfte auch einmal dem seligen Pjotr Matwejitsch ein stattliches Sümmchen für einen Panegyrikus ab. Schrieb: „Die Kunst gefällt dem schönen Geschlecht“ auf Bestellung des Buchhändlers. Ja, solcher Büchelchen habe ich schon an sechs Stück in meinem Leben verfaßt. Will zwar schon lange Voltaires Bonmots sammeln, fürchte aber, daß man sie fade finden wird. Was soll man heutzutage noch mit Voltaire! Knüppeldummheit, aber nicht Voltaire! Würden einander die letzten Zähne einschlagen. Das wäre also meine ganze literarische Tätigkeit. Es sei denn, daß man noch mitrechnete, was ich so an ganz uneigennützigen Briefen an die Redaktionen verfaßt habe. Schicke sie stets mit meiner vollen Unterschrift. Ermahne, gebe Ratschläge, kritisiere und weise auf den richtigen Weg. An eine dieser Redaktionen habe ich in der vorigen Woche den vierzigsten Brief gesandt; macht vier Rubel allein für Postmarken. Mein Charakter taugt nichts, das ist’s.
Ich glaube, der Maler hat mich nicht wegen der Literatur gemalt, sondern wegen der zwei symmetrisch auf meiner Stirn wachsenden Warzen: ein Phänomen, sagt man. Haben ja keine Ideen mehr, da versuchen sie es denn jetzt mit den Phänomena. Dafür aber, wie sind bei ihm meine Warzen auf dem Bilde herausgekommen? – lebendig, sag ich Ihnen! Das nennen sie jetzt Realismus.
Was aber das Verrücktsein anbetrifft, so haben sie ja bei uns im vorigen Jahre viele für verrückt erklärt. Und noch dazu in welch einem Stil: „Solch ein selbständiges Talent!“ schreiben sie zuerst verwundert, dann zum Schluß des Artikels: „übrigens war es schon längst vorauszusehen ...“ Das ist ja noch ganz gerieben. Könnte es vom Gesichtspunkte der reinen Kunst sogar loben. Warum auch nicht? Sie selbst aber sind dann plötzlich ungemein klug. Das ist’s ja! für verrückt erklären, das kann man bei uns schon, aber irgend jemanden klüger machen, das bringt man doch noch nicht fertig.
Der klügste ist meiner Meinung nach, wer sich freiwillig wenigstens einmal im Monat selbst einen Esel nennt, – heutzutage eine unerhört seltene Begabung. Früher sagte sich der Esel mindestens einmal im Jahr, daß er ein Esel ist, jetzt aber – nie und nimmer. Und derart haben sie jetzt alles verdreht, daß man, Hand aufs Herz, den Klugen wahrlich auf keine Weise mehr vom Esel unterscheiden kann. Das haben sie natürlich mit Absicht getan.
Soeben fällt mir eine spanische Anekdote ein. Man sagte dort vor zweieinhalb Jahrhunderten, als die Franzosen das erste Tollhaus bauten: „Die haben alle ihre Dummköpfe in ein besonderes Haus eingesperrt, um glauben zu machen, daß sie selbst kluge Leute sind“. Die Spanier haben recht: damit, daß man den anderen in die Irrenanstalt einsperrt, will man ja nur seinen eigenen Verstand beweisen. „X. ist verrückt geworden, – daraus folgt, daß wir jetzt klug sind.“ Nein, das folgt daraus noch längst nicht.
Hm! ... Teufel! – wozu mache ich auch mich denn mit meinem Verstande so breit? Schwatze, schwatze ... Sogar der Dienstmagd bin ich langweilig geworden: will mir nicht einmal mehr zuhören. Hat’s satt. Gestern kam ein Bekannter zu mir.
„Dein Stil,“ sagt er, „verändert sich: wird gehackt. Du hackst, hackst – und das soll dann eine Einleitung sein. Und dann kommt zu dieser Einleitung noch eine Einleitung, und die hat wiederum ein Vorwort, und dann schickst Du in Klammern noch etwas voraus, und dann geht das Hacken von neuem los.“
Er hat recht. Es geschieht wirklich etwas Sonderbares mit mir. Auch mein Charakter ändert sich und der Kopf tut mir weh. Ich fange schon an, ganz absonderliche Sachen zu hören und zu sehen. Nicht, daß es gerade Stimmen wären, aber es scheint mir immer, als ob irgend etwas oder irgend jemand neben mir gluckst: „bobock, bobock, bobock!“
Was zum Teufel ist das für ein „bobock“? Muß mich zerstreuen.
Ging mich zerstreuen, stieß auf eine Beerdigung. Entfernter Verwandter. Einstweilen aber doch Kollegienassessor. Eine Witwe, fünf Töchter – alle ledig. Allein, wenn man die Stiefel berechnet, was kostet das! Der Selige verstand noch zu verdienen, aber jetzt – Pensiönchen. Müssen aber auch auskommen. Mich haben sie immer ungern empfangen. Wäre auch jetzt nicht hingegangen, wenn’s nicht solch ein Ausnahmefall gewesen wäre. Ging bis zum Friedhof mit den anderen zusammen; wenden sich von mir ab, tun wichtig. Allerdings, mein Überzieher ist wirklich schon etwas schäbig. Es werden wohl so fünfundzwanzig Jahre her sein, daß ein Friedhof mich nicht mehr gesehen hat. Das wäre noch so ein Plätzchen!
Aber der Geruch! An Leichen waren etwa fünfzehn angekommen. Särge zu verschiedenen Preisen; sogar zwei Katafalke gab es: für einen General und irgend eine Dame. Viel traurige Gesichter, viel auch geheuchelte Trauer, und viel unverhohlene Fröhlichkeit. Die Geistlichkeit hat nicht zu klagen: gute Einkünfte. Aber der Geruch, der Geruch! Würde hier nicht Geistlicher sein wollen.
Nur vorsichtig blickte ich in die Särge, den Toten ins Gesicht[7]: kann nicht wissen, was für einen Eindruck sie auf mich machen werden. Zuweilen haben sie einen sanften Ausdruck, zuweilen einen unangenehmen. Überhaupt – ihr Lächeln ist nicht gut, und bei manchen ist’s sogar schrecklich. Lieb’s nicht. Spuken dann im Traum.
Nach der Messe ging ich aus der Kirche an die frische Luft; der Tag war ein wenig trübe, dafür aber trocken. Und auch kalt; nun, wir haben ja schon Oktober. Ging zu den anderen. Verschiedene Klassen. Die dritte zu dreißig Rubel: anständig und doch nicht so teuer. Die ersten zwei in der Kirche; natürlich nur für große Beutel. Drittklassig wurden diesmal an sechs beerdigt, darunter auch der General und die Dame.
Warf einen Blick in die Gräber – furchtbar: Wasser, und welch ein Wasser! vollkommen grün und – ’s ist wahr, wahrhaftig! – der Totengräber schöpfte es fortwährend heraus. Ging, so lange die Messe noch gelesen wurde, ein wenig auf die Straße – spazieren. Dort ist gleich das Armenhaus und etwas weiter ein Restaurant. Und durchaus kein übles: Imbiß, Frühstück, Schnäpse. War voll von den Begleitenden. Bemerkte viel aufrichtige Lustigkeit und Begeisterung. Ich trank mein Glas und aß ein Brötchen dazu. –
Darauf beteiligte ich mich eigenhändig an der Überführung des Sarges aus der Kirche zum Grabe. Warum werden die Menschen als Leichen immer so schwer im Sarge? Man sagt, infolge irgend einer Inertie, weil der Körper sich nicht mehr selbst trage ... oder sonst einen Blödsinn ähnlicher Art; widerspricht der Mechanik und dem gesunden Menschenverstand. Kann’s nicht leiden, wenn man mit einer bloß allgemeinen Bildung über Spezialfragen urteilen will; bei uns aber tun das alle ohne Ausnahme. Zivilbeamte lieben es, über Militär oder gar Generalstabsfragen zu urteilen, und Ingenieure über Philosophie und Staatsökonomie.
Fuhr nicht zum Totenschmaus. Bin stolz, und wenn man mich nur im äußersten Notfall empfängt, wozu soll ich mich dann an ihre Tische drängen, selbst wenn es sich um einen Toten handelt? Begreife nur nicht, warum ich auf dem Friedhof blieb. Setzte mich auf einen Grabstein und verfiel in entsprechende Gedanken.
Begann mit der Moskauer Ausstellung und endete schließlich bei dem „sich wundern“ – letzteres im allgemeinen genommen, so als Thema überhaupt. Kam über dieses „sich wundern“ zu folgendem Schluß:
„Sich über alles wundern ist natürlich dumm, sich aber über nichts wundern ist viel hübscher und aus irgend einem Grunde sogar guter Ton. Doch ist es in Wirklichkeit wohl kaum so. Meiner Meinung nach ist sich über nichts wundern viel dümmer, als sich über alles wundern, ja, ist fast dasselbe, wie nichts achten. Aber ein dummer Mensch versteht ja auch nicht zu achten.“
„Vor allen Dingen will ich achten! Ich lechze danach, achten zu können,“ sagte mir vor ein paar Tagen einer meiner Bekannten.
Lechzt danach, achten zu können! Herrgott, dachte ich, was würde wohl aus dir werden, wenn du es jetzt wagtest, das drucken zu lassen!
Verlor mich darüber in Gedanken. Liebe es nicht, die Grabinschriften zu lesen; ewig dasselbe. Neben mir auf der Marmortafel lag ein angebissenes Butterbrot; dumm und nicht am Platz. Warf es auf die Erde, denn das war ja kein Brot; bloß ein Brötchen. Übrigens ist auf die Erde Brot werfen, glaub ich, nicht Sünde; nur auf den Fußboden. Vielleicht ist’s auch umgekehrt. Muß in Ssuworins Kalender nachschlagen.
Es ist anzunehmen, daß ich lange saß, sogar zu lange; wollte sagen, daß ich mich auf der großen Marmorplatte sogar ausstreckte. Und wie das eigentlich so kam, daß ich plötzlich verschiedene Dinge hörte? Beachtete es zuerst natürlich nicht weiter; fand’s verächtlich. Einstweilen aber setzte sich das Gespräch fort. Höre –: dumpfe Laute, als ob man ihnen den Mund mit Kissen zugedrückt hätte; und bei alledem waren die Stimmen doch deutlich vernehmbar, als ob sie ganz nah gesprochen hätten. Ich erwachte, richtete mich auf, setzte mich und hörte aufmerksam zu.
„Aber Exzellenz, ich bitt’ Sie, das geht doch wirklich nicht! Sie sagten Coeur an, ich nehme das Spiel auf und plötzlich haben Sie Carreau sieben! Das hätte man doch im voraus abmachen müssen, ich bitt’ Sie!“
„Wie, was – also auswendig, aus dem Gedächtnis spielen? I, wo bleibt denn da die Gemütlichkeit?“
„Das geht nicht, Exzellenz, ich bitt’ Sie, ohne Garantien geht’s wirklich nicht! Sie müssen noch einmal die Karten geben, aber vergessen Sie diesmal nicht den Schafskopf ...“
„Nun, einen solchen gibt es hier wohl kaum, dächte ich.“
Welch hochmütige Worte! Ganz sonderbar und wie unerwartet! Die eine Stimme so selbstbewußt, solide, die andere süßlich schmeichelnd. Hätt’s wirklich nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Ohren gehört haben würde. Zum Leichenschmaus war ich, glaub ich, doch nicht gegangen ... Hier Préférence zu spielen! Und was ist das für eine Exzellenz? Daß die Stimmen aus den Gräbern kamen, daran war nicht zu zweifeln. Ich rückte etwas zur Seite und las die Inschrift auf dem Marmor.
„Hier ruht Generalmajor Perwojedoff ... Ritter dieser und dieser Orden, ... gest. im August ... im siebenundfünfzigsten ... Ruhe sanft bis zur seligen Auferstehung!“
Hm, wahrhaftig ein General! Auf dem andern Grabe, aus dem die schmeichlerische Stimme kam, war noch kein Denkmal: nur eine kleine Steinplatte; wohl ein Neuling. Der Stimme nach ein Hofrat.
„Och – chohoho!“ ertönte plötzlich eine neue Stimme, ungefähr fünf Schritt vom Generalsgrabe, unter einem noch ganz frischen Hügel hervor; eine Männerstimme, so eine einfachere, wie man sie im Volke hört; jetzt aber andächtig-gerührt und ein wenig schwach.
„Och – chohoho!“
„Ach, schon wieder stöhnt er!“ erklang plötzlich die launische, anmaßende Stimme einer gereizten Dame der höheren Gesellschaft, wie’s schien. – „Wirklich ein Kreuz, neben diesem Krämer zu liegen!“
„Hab gar nicht gestöhnt, hab doch schon lange nichts gegessen, das ist einzig nur so meine natürliche Gewohnheit. – Und immer können Sie, Gnädige, von Ihren Launen noch nicht lassen.“
„Warum haben Sie sich denn hierher gelegt?“
„Hab mich nicht selbst hierher gelegt, begraben haben mich meine Frau und meine kleinen Kinderchen, nicht selbst hab ich mich hier hingelegt. Das ist eben das Geheimnis des Todes! Hätt ich mich doch selber nie und nimmer neben Sie gelegt, für kein Gold der Welt! Liege hier nur infolge meines eigenen Kapitals, nach dem Preis zu urteilen. Denn das können wir, daß wir für unser Grabchen drittklassig zahlen.“
„Will’s gern glauben; auf das Leutebetrügen werden Sie sich schon verstehen.“
„Wo soll man Sie denn betrügen, wenn Sie schon seit dem Januar nichts mehr bezahlt haben. Ich hab noch eine nette Rechnung für Sie in meinem Kassenbuch.“
„Das ist aber wirklich stark! Da sehen wir’s ja, wie Sie sind! Sogar hier noch wollen Sie Ihre Rechnungen einkassieren! Gehen Sie nur nach oben. Fragen Sie bei meiner Nichte; die ist die Erbin.“
„Ach Gott, wo soll man jetzt noch fragen, und wohin gehn! Sind beide begraben und vor Gott beide in Fehl und Sünde gleich.“
„In Fehl und Sünde!“ spottete die Tote verächtlich. „Unterstehen Sie sich nicht, mit mir zu sprechen!“
„Och – chohoho!“
„Aber der Krämer gehorcht ihr doch, Exzellenz.“
„Warum sollte er denn auch nicht gehorchen?“
„Das schon, aber hier gibt es doch bekanntlich eine neue Ordnung, Exzellenz.“
„Was ist denn das für eine neue Ordnung?“
„Aber wir sind doch, wie man zu sagen pflegt, gestorben, Exzellenz.“
„Ach ja, richtig! Nun, aber immerhin eine Ordnung ...“ –
Na, das muß ich sagen, die haben mich wirklich zerstreut! Wenn es schon hier dazu kommt, was soll man dann noch von der oberen Etage erwarten? Was für Späßchen, in der Tat! Fuhr einstweilen fort, zuzuhören, wenn auch mit tiefem Unwillen.
„Nein, ich würde aber leben! Nein ... ich, wissen Sie ... ich würde aber leben!“ hörte ich da plötzlich eine neue Stimme, irgendwoher, so in der Mitte zwischen dem General und der reizbaren Dame.
„Hören Sie, Exzellenz? Unser Alter fängt wieder an. Schweigt, schweigt drei Tage lang womöglich, und mit einem Mal: ‚Ich würde aber leben, nein, ich würde aber leben!‘ Und mit solch einem, wissen Sie, Appetit, sagt er es, hi – hi!!“
„Und Leichtsinn.“
„Ihm geht’s schon nah, Exzellenz, und, wissen Sie, er schläft schon ein, ja, ja, er fängt bereits an, ganz einzuschlafen, ist doch seit dem April hier – und plötzlich: ‚ich würde aber leben!‘“
„Ziemlich langweilig,“ bemerkte seine Exzellenz.
„Langweilig, Exzellenz? Sollte man dann nicht wieder Awdotja Ignatjewna ein wenig necken, hi – hi, – wie?“
„Nein, da muß ich Sie doch bitten, mich mit der ungeschoren zu lassen. Kann diese keifende Schachtel nicht ausstehen.“
„Ich aber kann Sie alle beide nicht ausstehen!“ schrie sofort die Schachtel erbost zurück. „Alle beide sind Sie sterbenslangweilig, und keiner von Ihnen versteht etwas Ideales zu erzählen. Ich aber könnte, wenn ich wollte, ein Geschichtchen von Ihnen, Exzellenz, – bitte seien Sie nicht so hochnasig –, könnte ein Geschichtchen von Ihnen erzählen, ... wie ein Diener Sie früh morgens mit dem Besen unter einem Ehebett hervorgekehrt hat ...“
„Gemeines Frauenzimmer!“ stieß der General brummend zwischen den Zähnen hervor.
„Mütterchen Awdotja Ignatjewna,“ rief plötzlich wieder der Kaufmann dazwischen, „sag mir doch, meine Herrin, ohne des Bösen zu gedenken, sag mir doch, muß ich jetzt alleweil die Übergänge und Zustände der Seele nach dem Tode erst durchmachen, oder was ist das sonst?“
„Ach, da kommt er schon wieder damit, ahnte ich’s doch! Also von ihm rührt dieser Geruch her, also er verwest jetzt schon!“
„Ich verwese noch längst nicht, Mütterchen, und ich kann nicht sagen, daß von mir irgend solch ein besonderer Geruch ausginge, hab mich noch wie ich war an ganzem Leibe erhalten, aber Sie, Gnädige, Sie fangen ja schon an, in einen anderen Zustand überzugehen – denn der Gestank ist wirklich stark, sogar bis zu mir her. Schwieg bis jetzt nur aus Höflichkeit.“
„Ach, Sie schändlicher Lügner! Von ihm riecht es, daß man ohnmächtig werden könnte, und er hat noch die Frechheit, es auf mich zu schieben!“
„Och – chohoho! Wenn doch bald mein vierzigster Tag[8] käme: hörte dann ihre traurigen Stimmen über mir, meines Weibes Schluchzen und der Kinder stilles Weinen! ...“
„Ach, hört doch, worüber der trauert! Die werden schon den Reis[9] zu deiner Totenfeier verzehren, da sei Du unbesorgt! Ach, wenn doch wenigstens jemand erwachen würde!“
„Awdotja Ignatjewna,“ rief sofort der Beamte – ein Hofrat, glaub ich – „warten Sie nur noch einen Augenblick, bald werden Neue erwachen!“
„Ach, gibt es auch Junge unter ihnen?“
„Gewiß, gewiß, auch Junge – sogar Jünglinge!“
„Ach, das ist ja herrlich!“
„Wie, sind sie denn noch nicht erwacht?“ erkundigte sich seine Exzellenz.
„Selbst vorvorgestrige sind noch nicht erwacht; Exzellenz wissen es doch selbst, daß man sie gestern, vorgestern und heute mit einem Mal ganz plötzlich und zu gleicher Zeit angefahren hat. Sonst sind doch um uns etwa zehn Schritt in der Runde alles vorjährige.“
„Hm! interessant!“
„Und wissen Sie, Exzellenz, heute hat man den Wirklichen Geheimrat Tarassewitsch beerdigt. Ich erkannte die Stimmen. Seinen Neffen kenne ich sehr gut, – der half vorhin den Sarg versenken.“
„Hm – wo liegt er denn hier?“
„Etwa fünf oder sechs Schritt links von Ihnen, Exzellenz. Fast gerade Ihnen zu Füßen ... Wie wär’s, Exzellenz, wenn Sie sich mit ihm bekannt machen würden?“
„Hm, nein – wie denn!? ... ich kann doch nicht als erster ...“
„O, er wird schon selbst anfangen, Exzellenz. Er wird sich sogar sehr geschmeichelt fühlen, überlassen Sie es nur mir, Exzellenz, ich ...“
„Ach, ach ... ach, was ist mit mir?“ ließ sich da plötzlich ein neues, keuchendes, ganz erschrockenes Stimmchen hören.
„Ein Neuer, Exzellenz, ein Neuer, Gott sei Dank, und wie schnell erwacht! Zuweilen schweigen sie ja eine ganze Woche.“
„Ach, ich glaube, es ist ein junger!“ rief Awdotja Ignatjewna verzückt aus der Fistel.
„Ich ... ich ... ich bin an einem Rückfall und so plötzlich!“ stammelte wieder der Jüngling. „Noch am Abend untersuchte mich Schulz: Sie haben sich wieder erkältet, sagte er, haben einen Rückfall, und am Morgen starb ich plötzlich. Ach! Ach!“
„Nun, nichts zu machen, junger Mann,“ meinte der General, augenscheinlich gnädigst über den Neuling erfreut, „– man muß sich trösten! Willkommen in unserem, wie man sagt, Tale Josaphat. Wir sind gute Menschen; Sie werden uns ja selbst kennen und schätzen lernen. Generalmajor Wassili Wassiljewitsch Perwojedoff, zu Ihren Diensten.“
„Ach, nein! Nein, nein, das kann ich auf keinen Fall! Ich, wissen Sie, bei mir hat sich eine Verschlimmerung eingestellt, zuerst war’s nur die Brust und der Husten, dann aber erkältete ich mich: Brust und Katarrhalfieber ... und dann plötzlich ganz unerwartet ... das ist es ja, daß es so ganz unerwartet kam!“
„Sie sagen, zuerst war es nur die Brust?“ mischte sich mit freundlicher Stimme der Beamte ein, ganz als ob er den Jüngling ermuntern wollte.
„Ja, die Brust und Schleimauswurf, dann aber hörte der plötzlich auf und – ich kann nicht mehr atmen ... und wissen Sie ...“
„Ich weiß, ich weiß. Aber wenn’s die Brust war, so hätten Sie zu Eck gehen sollen, aber nicht zu Schulz.“
„Ich aber, wissen Sie, wollte immer zu Botkin gehen ... und plötzlich ...“
„Nun, Botkin schneidet,“ bemerkte der General.
„Ach nein, das ist gar nicht wahr, er schneidet gar nicht! Ich habe gehört, er soll so aufmerksam sein, und alles voraussagen.“
„Seine Exzellenz meinte es nur in betreff des Preises,“ berichtigte der Beamte.
„Ach – gar nicht, nur drei Rubel und er untersucht so gut und das Rezept ... und ich wollte es unbedingt, weil man mir gesagt hatte ... Ja, wie denn nun, meine Herren, was soll ich tun, zu wem soll ich jetzt: zu Eck, oder zu Botkin?“
„Wie? Wohin?“ fragte interessiert der General und in gemütlichem Lachen schüttelte sich seine Leiche. Der Beamte sekundierte ihm natürlich sofort in der Fistel.
„Mein lieber Junge, mein lieber fröhlicher Junge, wie ich Dich liebe!“ fiel bezaubert Awdotja Ignatjewna etwas kreischend ein. „Ach, wenn man doch solch einen neben mich gebettet hätte!“ –
Nein, das ist aber doch unmöglich. Und das soll ein Toter unseres Jahrhunderts sein! Einstweilen kann man aber noch zuhören und mit dem letzten Urteil noch etwas warten. Dieser grüne Neuling – ich erinnerte mich noch, wie er vorhin im Sarge aussah: Ausdruck eines erschrockenen Huhnes, der allerwiderlichste der ganzen Welt! Aber was weiter.
Doch was dann kam, war solch ein Chorus von Stimmen, daß ich alles nicht einmal behalten konnte, denn es erwachten sehr viele zu gleicher Zeit, unter anderen auch ein höherer Beamter, einer von den Staatsräten, der mit dem General sofort ein Gespräch anknüpfte über das Projekt einer Unterkommission im Ministerium der öffentlichen Arbeiten und die mutmaßlich damit in Verbindung stehende Versetzung der Amtspersonen, – wodurch er den General ersichtlich ungemein, ganz ungemein zerstreute. Ich muß gestehen, daß auch ich bei der Gelegenheit viel Neues erfuhr, – schüttelte noch mein Haupt über die sonderbaren Wege, auf denen man hier in dieser Hauptstadt administrative Neuigkeiten erfahren kann. Darauf erwachte auch halb und halb ein Ingenieur, schwätzte jedoch noch lange allerhand Unsinn, sodaß die anderen ihn vorläufig nicht belästigten, sondern ihn erst „sich ausliegen“ ließen. Zum Schluß bekundete auch noch die am Morgen unter dem Katafalk beerdigte vornehme Dame einige Anzeichen der Grabesbeseelung. Lebesätnikoff, – es stellte sich nämlich heraus, daß der schmeichlerische, mir verhaßte Hofrat, der sich neben dem General Perwojedoff befand, Lebesätnikoff hieß – nun ja, war furchtbar verwundert und in Anspruch genommen durch den ungewöhnlichen Umstand, daß dieses Mal die meisten so bald erwachten. Muß gestehen: auch mich nahm’s ein wenig wunder. Übrigens waren einige von den Erwachenden bereits vor drei Tagen beerdigt worden, wie z. B. ein ganz junges Mädchen, eine Sechzehnjährige, die aber die ganze Zeit über nur kicherte ... Widerlich.
„Exzellenz, Geheimrat Tarassewitsch ist soeben im Begriff, zu erwachen,“ meldete plötzlich Lebesätnikoff mit ungewöhnlicher Eilfertigkeit.
„A? was?“ fragte da auch schon – ein wenig wie im Halbschlaf – der erwachende Geheimrat mit einer anmaßenden, quäkenden Stimme, in der etwas Eigensinnig-Befehlendes lag. Ich horchte interessiert auf, denn in den letzten Tagen hatte ich viel von diesem Tarassewitsch reden gehört – im höchsten Grade Verfängliches und Aufregendes.
„Das bin ich, Exzellenz, vorläufig nur ich.“
„Was wollen Sie?“
„Einzig mich um das Befinden Eurer Exzellenz erkundigen; aus Ungewohnheit fühlt sich hier fast jeder anfänglich ein wenig beengt. Entschuldigen Sie ... General Perwojedoff würde es sich zur Ehre anrechnen, die Bekanntschaft Eurer Exzellenz zu machen, und hofft ...“
„Kenne nicht.“
„Unmöglich, Exzellenz, General Perwojedoff, Wassili Wassiljewitsch ...“
„Sie sind also General Perwojedoff?“
„Nein, Verzeihung, Exzellenz, nicht ich, ich bin im ganzen nur Hofrat Lebesätnikoff, und stehe zu Ihren Diensten, aber General Perwojedoff ...“
„Blödsinn! Tun Sie mir den Gefallen, mich nicht zu stören.“
„Lassen Sie ihn,“ hielt schließlich würdevoll General Perwojedoff selbst die unvornehme Eilfertigkeit seines Grabklienten auf.
„Er ist ja noch nicht ganz erwacht, Exzellenz, das muß man doch in Betracht ziehen; das ist ja bei ihm vorläufig nur Ungewohnheit: wenn er ganz erwacht, wird er es natürlich anders aufnehmen ...“
„Lassen Sie ihn,“ wiederholte nur der General.
„Wassili Wassiljewitsch! Heda, Exzellenz!“ rief plötzlich laut und verwegen dicht neben Awdotja Ignatjewna eine ganz neue Stimme, – eine etwas blasierte „Herren“stimme mit jener gewissen müden Note und frechen Dehnung einzelner Silben in der Aussprache, wie sie jetzt in der Gesellschaft Mode ist. – „Ich beobachte Sie alle schon geschlagene zwei Stunden. Liege doch bereits drei Tage hier, Sie erinnern sich wohl meiner, Wassili Wassiljewitsch? – Klinewitsch. Haben uns bei Wolokonskis getroffen, wo man Sie – ich weiß übrigens nicht warum – gleichfalls empfing.“
„Wie, Graf Pjotr Petrowitsch ... sollten Sie denn wirklich schon ... und in so jungen Jahren! Wie ich’s bedauere!“
„Tja, bedaure es natürlich gleichfalls, bloß ist es mir jetzt ziemlich egal, und zudem will ich aus allem das möglichst Beste exstirpieren. Und – bin nicht Graf, sondern Baron, im ganzen nur Baron. Wir sind ja irgend solche räudige Barönchen von Lakaienabstammung, tja, und ich weiß auch wahrhaftig nicht warum, – äh, ’s ist doch übrigens ganz egal. Ich bin bloß ein Taugenichts der pseudo-höheren Gesellschaft und man hält mich für einen ‚lieben Polisson‘. Mein Vater, äh, – so ein armseliger General, und meine Mutter ist einmal en haut lieu empfangen worden. Habe mit dem elenden Hebräer Siffel im vorigen Jahre an fünfzigtausend falsche Scheine fabriziert, und ihn dann angezeigt, doch mit dem Gelde ist mir Julchen Charpentier de Lusignan exgezogen – äh – nach Bordeaux, glaube ich. Und denken Sie sich nur, ich war schon so gut wie verlobt – mit der kleinen Schtschewalewski, drei Monate fehlten ihr noch an sechzehn Jahren, ist noch im Institut, erbt Neunhunderttausend. Äh, Awdotja Ignatjewna, erinnern Sie sich noch dessen, wie Sie mich vor etwa fünfzehn Jahren, als ich noch vierzehnjähriger Page war, verdarben?“
„Ach, das bist Du, Nichtsnutz! Obgleich Dich wohl Gott gesandt hat, aber sonst wäre es ...“
„Sie haben umsonst Ihren Nachbar, den Negoziant, der Verbreitung des üblen Geruchs verdächtigt ... Ich schwieg nur und lachte im stillen; – das geht doch von mir aus; man hat mich ja schon in geschlossenem Sarge hergebracht.“
„Ach, wie abscheulich er ist! Aber es freut mich trotzdem; Sie können sich nicht denken, Klinewitsch, werden es sich bestimmt nicht vorstellen können, welch ein Mangel an Leben und Esprit hier herrscht!“
„Nun ja, nun ja, ... Tja ich beabsichtige hier etwas Originelles einzuführen, Exzellenz, – nicht Sie, Perwojedoff, – Exzellenz, ich meine den anderen, Herr Tarassewitsch, äh, Geheimrat! So antworten Sie doch! – Klinewitsch, der Sie zur Fastenzeit zu Mademoiselle Füry brachte, hören Sie mich?“
„Ich höre Sie, Klinewitsch, freue mich sehr, und glauben Sie mir ...“
„Glaube Ihnen nicht ein Wort – übrigens, ’s ist doch ganz egal. Ich möchte Sie, lieber Alter, gerne abküssen, doch kann ich’s Gott sei Dank nicht. Wissen Sie denn, verehrte Anwesende, was dieser grand-père angestiftet hat? Er ist vor drei oder vier Tagen gestorben und, – können Sie sich vorstellen – hat rundum Vierzigtausend Kassendefizit hinterlassen! Geld der Witwen und Waisen, und er hat aus irgend einem Grunde ganz allein gewirtschaftet, sodaß man ihn oder vielmehr seine Bücher etwa acht Jahre nicht mehr revidiert hat. Äh, ich kann mir denken, was die jetzt dort für lange Gesichter machen werden, und wie sie seiner gedenken! N’est-ce pas, wonniger Gedanke! Konnte es mir schon das ganze letzte Jahr nicht erklären, woher diesem siebzigjährigen Klappergreis, Podagristen und Chiragriker noch Kräfte zu einem so ausschweifenden Leben verblieben waren und – äh, da haben wir jetzt die Lösung des Rätsels! Diese Witwen und Waisen – tja, du lieber Gott, schon der bloße Gedanke an sie mußte ihn doch erglühen machen! ... Ich war der einzige, der es wußte, die Charpentier hatte mir alles erzählt, und sofort nachdem ich es erfahren hatte, ging ich zu ihm, und setzte diesem heiligen Sünder moralisch den Revolver auf die Brust, – äh, so wie’s sich Freunden geziemt –: ‚Sofort fünfundzwanzigtausend her, wenn nicht, kommt man morgen revidieren‘. Was glauben Sie wohl, meine Herren, er konnte nicht mehr wie dreizehntausend zusammenbringen, so daß er jetzt, wie’s scheint, sehr zur rechten Zeit gestorben ist. Grand-père, Grand-père, hören Sie?“
„Cher Klinewitsch, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber es ist ganz überflüssig ... daß Sie sich in solchen Details ergehen. Es gibt im Leben so viel Leid und Qual und so wenig Lohn dafür ... ich hatte den Wunsch, mich endlich zu beruhigen ... Und insoweit ich mir darüber klar bin, wird sich auch von hier noch vieles herausziehen lassen ...“
„Haha, ich könnte wetten, daß er schon Katjisch Berestowa herausgewittert hat!“
„Wen? ... Was für eine Katjisch?“ fragte sofort sinnlich vibrierend die Stimme des Alten zurück.
„A–ah? Also was für eine Katjisch? Äh, nun, hier links, etwa fünf Schritt von mir, – von Ihnen zehn. Sie liegt hier schon seit fünf Tagen. Wenn Sie wissen würden, Grand-père, was das für ein Mädel ist ... Aus gutem Hause natürlich, wohlerzogen und – ein monstre, un monstre im höchsten Grade! Ich habe sie dort niemandem gezeigt, ich allein wußte es nur ... Katjisch, eh!?“
„Hi – hihi!“ kam als Antwort das kichernde Lachen einer feinen, hohen Mädchenstimme zurück, doch klang in ihm etwas, das wie ein Nadelstich war. – „Hi – hi – hi!“
„Und ... ist ... sie ... blond?“ stieß lispelnd, kurzatmig Grand-père in vier Lauten hervor.
„Mir ... mir gefiel schon lange ...“ fuhr der Alte atemlos lispelnd fort, – „schon lange der Gedanke an ein Blondköpfchen ... ein ... ein fünfzehnjähriges ... und gerade unter solchen Umständen wie hier ...“
„Ungeheuer!“ rief Awdotja Ignatjewna empört.
„Genug!“ entschied Klinewitsch. „Ich sehe schon, daß das Material vortrefflich ist. Wir werden uns hier bald famos einrichten. Die Hauptsache ist, daß man die übrig gebliebene Zeit lustig verbringt; doch was für eine Zeit ist das eigentlich? Heda, Sie, irgend ein Beamter, der Sie da sind, Lebesätnikoff – nicht? – ich glaube, man nannte Sie vorhin so?“
„Gewiß, gewiß, Lebesätnikoff, Hofrat, Ssemjon Jewssejitsch, stehe zu Ihren Diensten, und freut mich, freut mich, ungemein.“
„Äh, ’s ist mir wirklich ganz egal, ob es Sie freut, nur scheinen Sie hier alles zu wissen. Sagen Sie mal vor allen Dingen – ich wundere mich noch seit gestern darüber, – – auf welch eine Weise sprechen wir denn hier eigentlich? Wir sind doch tot, gestorben – nicht wahr, – trotzdem aber sprechen wir; ja es ist auch gleichsam, als ob wir uns sogar bewegten, währenddessen aber bewegen wir uns weder noch sprechen wir? Was soll das alles?“
„Das, oh das, wenn Sie wünschen, Baron, könnte Ihnen Platon Nikolajewitsch besser erklären als meine Wenigkeit.“
„Was für ein Platon Nikolajewitsch? Quatschen Sie nicht dummes Zeug – zur Sache.“
„Platon Nikolajewitsch ist hier unser einheimischer Philosoph, Naturforscher und Professor. Hat bei Lebzeiten mehrere philosophische Bücher verfaßt, doch werden es jetzt wohl schon drei Monate sein, daß er sich anschickt, ganz einzuschlafen, daher wird es wohl schwer fallen, ihn jetzt noch wachrütteln. Er brummt jetzt höchstens einmal in der Woche einige zusammenhanglose Worte, die eigentlich nicht zur Sache gehören ...“
„So kommen Sie doch wenigstens zur Sache!“
„Er – er – er erklärt das mit der ganz einfachen Tatsache, und zwar gerade mit der, daß wir oben, das heißt, als wir noch lebten, den dortigen Tod ganz irrtümlich für einen Tod hielten. Der Körper belebt sich hier gewissermaßen nochmals, die Reste des Lebens konzentrieren sich, aber nur im Bewußtsein. Das – ich kann Ihnen das nicht so recht sagen, ich weiß eigentlich nicht, wie ich mich ausdrücken soll, das Leben setzt sich hier gewissermaßen durch die Inertie fort. Alles konzentriert sich seiner Meinung nach irgendwo im Bewußtsein und lebt dort noch drei oder vier Monate lang fort, zuweilen sogar ein ganzes halbes Jahr ... Es gibt hier zum Beispiel einen, der sich schon total zersetzt hat, doch einmal in etwa sechs Wochen murmelt er plötzlich doch noch ein Wort, natürlich ein sinnloses, von irgend einem Bobock: bobock, bobock, bobock, – also glüht doch auch in ihm noch ein Lebensfünkchen ...“
„Alles ziemlich dumm, was Sie da sagen. Aber wie kommt es, daß ich, ohne Geruchssinn zu haben, doch diesen Gestank hier rieche?“
„Das ... he–he ... Nun, was das anbetrifft, so wurde unser Philosoph, offen gestanden, schon etwas schleierhaft in seiner Erklärung. Gerade über den Geruchssinn bemerkte er, man rieche hier nur, he–he, sozusagen den, he–he, moralischen Gestank! Den Gestank, heißt es, der Seele, um sich in diesen zwei–drei Monaten noch besinnen zu können ... und dieses wäre sozusagen noch die letzte Barmherzigkeit, die uns ... Nur glaube ich, Baron, das ist alles schon mystische Phantasterei, natürlich entschuldbar durch seine Verfassung ...“
„Danke, ich bin überzeugt, daß alles weitere Unsinn ist. Es genügt, daß wir jetzt wissen, woran wir sind –: also zwei oder drei Monate Leben und zum Schluß – bobock. Ich schlage allen vor, diese zwei Monate möglichst angenehm zu verbringen, und uns zu dem Zweck neue Grundsätze zu wählen. Meine Damen und Herren! ich schlage vor, sich überhaupt nicht mehr zu schämen!“
„Ach ja, ach ja! wollen wir uns nicht mehr schämen!“ riefen sofort viele Stimmen und sonderbar, es ließen sich auch viele ganz neue Stimmen hören, was natürlich bedeutete, daß inzwischen noch andere erwacht waren. Mit ganz besonderer Bereitwilligkeit und dröhnendem Baß aber äußerte der bereits völlig belebte Ingenieur seinen Beifall. Katjisch kicherte erfreut.
„Ach, wie gern ich mich keiner einzigen meiner Handlungen schämen will!“ rief begeistert Awdotja Ignatjewna.
„Hören Sie, wenn schon Awdotja Ignatjewna sich keiner Sache mehr schämen will! ...“
„Nein nein nein, Klinewitsch, ich habe mich wirklich geschämt, immerhin habe ich mich doch geschämt, aber hier will ich mich furchtbar, furchtbar gern nicht mehr schämen!“
„Ich verstehe, Klinewitsch,“ meinte mit dröhnendem Baß der Ingenieur, „daß Sie vorschlagen, das hiesige, sagen wir, Leben auf neuen vernünftigen Grundsätzen aufzubauen ...“
„Äh, das ist mir wirklich ganz egal! Was das anbetrifft, wollen wir lieber Kudejaroff abwarten, – gestern beerdigt. Wenn er erwacht, wird er Ihnen alles erklären. ’N großartiger Kerl! Morgen, denk ich, wird man noch so einen Naturalisten ’ranschleppen, einen Leutnant jedenfalls bestimmt, und wenn ich mich nicht täusche, nach drei–vier Tagen einen Feuilletonisten – vielleicht mitsamt dem Redakteur. Übrigens, hol sie der Henker, nur wird sich hier bei uns ein geschlossener Kreis bilden und, na ja, es wird sich dann schon alles ganz von selbst machen. Doch – eine Bedingung! –: ich verlange, daß man nicht lügt. Nur dieses eine verlange ich, denn das ist doch die Hauptsache. Auf der Erde leben und nicht lügen ist unmöglich, denn Leben und Lüge sind synonym; hier aber wollen wir zur Erhöhung der Heiterkeit einmal nicht lügen. Der Teufel noch eins! – es hat doch etwas zu bedeuten, daß man im Grabe liegt! ... Wir werden alle laut unsere Lebensgeschichte erzählen und uns keiner einzigen Sache mehr schämen. Ganz zuerst werde ich von mir erzählen. Ich, wissen Sie, gehöre zu den wollüstigen ... Dort oben war alles mit faulen Schnüren zusammengebunden. Reißen wir sie ab, diese faulen Schnüre, fort mit ihnen, und lassen Sie uns diese zwei Monate in der schamlosesten Wahrheit verleben! Entblößen wir uns alle, und zeigen wir uns nackt!“
„Ach ja, ja! Entblößen wir uns, entblößen wir uns!“ riefen alle Stimmen aus vollem Halse.
„Ach, ich will mich furchtbar, furchtbar gern entblößen!“ rief Awdotja Ignatjewna und ihre kreischende Stimme klappte vor lauter Begeisterung über.
„Ach ... ach ... ach, ich sehe schon, es wird hier lustig werden, ich will nicht mehr zu Eck!“
„Nein, ich würde aber leben, nein, wissen Sie, ich würde aber leben!“
„Hi–hi–hi!“ kicherte Katjisch.
„Vor allen Dingen kann uns niemand etwas verbieten und wenn sich auch Perwojedoff, wie ich sehe, ärgert, so kann er mich doch nicht kneifen, noch sonst mir etwas antun. Grand-père, sind Sie einverstanden?“
„Oh, oh, ich bin durchaus, durchaus einverstanden und mit dem größten Vergnügen, aber nur mit der Bedingung: daß Katjisch als erste ihre Bi–o–graphie zum besten gibt.“
„Ich protestiere! Ich protestiere mit allem Nachdruck! ...“ erklärte plötzlich mit fester Stimme General Perwojedoff.
„Exzellenz!“ flehte sofort in ängstlicher Erregung und mit gesenkter Stimme der Nichtsnutz Lebesätnikoff – er wollte ihn eines Besseren überzeugen: „Aber, Exzellenz, es ist doch für uns sogar vorteilhafter, wenn wir zustimmen. Hier ist, wissen Sie, dieser Backfisch ... und schließlich, alle diese kleinen Späßchen ...“
„Nun schön, gesetzt – ein Backfisch, aber ...“
„... Vo–vo–vorteilhafter, Exzellenz, bei Gott, es wäre vorteilhafter! Sagen wir meinetwegen nur so zum Beispiel, nur so zur Probe ...“
„Selbst im Gra–abe läßt man einen nicht zur Ruhe kommen!“
„Erlauben Sie, General –,“ unterbrach ihn Klinewitsch gemessen, „Erstens: Sie geruhten vorhin selbst im Grabe Préférence zu spielen und zweitens – sind Sie uns ganz egal – aber ganz!“
„Mein Herr, ich bitte Sie, sich nicht zu vergessen.“
„Was? – Tja, Sie können mich doch nicht erreichen und ich kann Sie ja von hier aus necken so viel ich will – wie Julchens Mops. Und übrigens, – äh, meine Herren, was ist er denn hier noch für ein General? Dort mag er ja auch General gewesen sein, hier aber ist er nichts – überhaupt nichts!“
„Nein, mein Herr, auch hier bin ich ...“
„Hier werden Sie im Sarge verfaulen und was von Ihnen übrig bleibt – sind sechs silberne Knöpfe.“
„Bravo, Klinewitsch, haha–ha!“ gröhlten lachende Stimmen.
„Ich habe meinem Kaiser gedient ... ich ... ich besitze einen Degen!“
„Äh, mit Ihrem Degen kann man jetzt Mäuse spießen und zudem haben Sie ihn doch noch nie gezogen.“
„Das ... bleibt sich gleich. Ich machte einen Teil des Ganzen aus!“
„Als ob es wenig Teile des Ganzen gäbe!“
„Bravo, Klinewitsch, bravo, ha–ha–ha!“
„Ich begreife nicht, was solch ein Degen überhaupt bedeuten soll,“ meinte spöttisch der Ingenieur.
„Vor den Preußen werden wir wie die Mäuse ausreißen, die werden uns doch zu Staub zerklopfen!“ schrie eine entferntere, mir noch unbekannte Stimme, die aber buchstäblich vor Begeisterung erstickte.
„Der Degen, mein Herr, ist die Ehre!“ schrie wohl noch der General, wenigstens konnte ich nur noch seine Stimme unterscheiden, denn es erhob sich ein wütendes, unbändiges Geschrei, das wie ein Getöse dahinbrauste, und das nur noch von dem ungeduldigen hysterischen Gekreisch Awdotja Ignatjewnas durchschnitten wurde.
„Ach schneller, schneller doch! Ach, wann werden wir denn endlich anfangen, uns nicht mehr zu schämen!“
„Och–chohoho! Wahrlich, wahrlich, meine Seele durchlebt das Fegefeuer!“ hörte ich zwar noch die Stimme des Kaufmanns, aber ...
Aber da nieste ich plötzlich. Es kam ganz plötzlich und unbeabsichtigt, doch die Wirkung war verblüffend: alles verstummte, verging wie ein Traum. Wahre Grabesstille brach an. Glaube nicht, daß sie sich vor mir schämten: sie hatten doch beschlossen, sich überhaupt nicht mehr zu schämen!
Ich wartete noch fünf Minuten –: kein Wort, kein Laut. Es ist doch nicht anzunehmen, daß sie eine Anzeige an die Polizei fürchteten; denn was könnte die Polizei hierbei tun? Schließe daraus, daß sie immerhin irgend solch ein Geheimnis haben müssen, eines, das uns Sterblichen unbekannt ist, und das sie sorgfältig vor uns bewahren.
„Nun, meine Lieben,“ dachte ich, „Euch werde ich noch oftmals besuchen.“ Und mit diesen Worten verließ ich den Friedhof.
Nein, das kann ich nicht zulassen; nein, wahrhaftig nicht! Da habe ich nun in Gräbern mein bobock gefunden! ... Hab ja weiter keine Angst davor, aber ...
Verderbnis an solch einem Ort, Verderbnis zerfallender, verwesender Leichen und das noch in dem letzten Augenblick der Besinnung, angesichts der letzten Zuversicht! Diese kurzen Augenblicke sind ihnen gegeben, geschenkt, um ... Doch die Hauptsache, die Hauptsache, – an solch einem Ort! Nein, das kann ich nicht zulassen! ...
Werde zu den anderen Klassen gehen, werde überall zuhören. Das ist’s ja eben, daß man überall zuhören muß, und nicht nur irgendwo am Rande an einer einzigen Stelle, um sich eine richtige Vorstellung machen zu können. Wer weiß, – vielleicht werde ich auch auf etwas Tröstendes stoßen.
Doch zu denen werde ich bestimmt noch zurückkehren. Versprachen doch ihre Biographien und verschiedene Geschichtchen ... Pfui! Aber ich werde überall hingehen, unbedingt werde ich hingehen! Gewissenssache!
Will es in die Redaktion des „Bürger“ bringen; dort hat man auch das Bild eines Redakteurs ausgestellt. Vielleicht drucken sie’s.