Zu stark für dies Leben.
Zu stark für dies Leben • 第3章
Erstes Kapitel.
„Ich mache Schluß, Herr Grahl.“
„Guten Abend denn, Herr Uri.“
Grahl zog die elektrische Birne, die von einem grüngläsernen Schirm umgeben, über seinem Graukopf hing, tiefer zu sich herab. Er beugte sich näher aufs Buch und zeichnete mit dem Lineal zwei sorgfältige Linien, eine dicke und dicht unter dieser die dünne. Seine Augen hinter den Brillengläsern verfolgten mit Sorgfalt die Feder, und die Lippen waren mit einem Ausdruck von Behutsamkeit gespitzt. Die Hände, von schweren Adern durchlaufen, zitterten leise. Als er mit den Linien fertig war, wischte er mit einem Ausdruck von Zufriedenheit über den grauen Schnurrbart.
Uri, ein dreißigjähriger Mann, breitschultrig, mit einem dicken braunblonden Bart auf der Oberlippe, hatte inzwischen in der Garderobe die Hände mit Bimsstein gesäubert, das Jackett gewechselt. Er kam nun durch die lange Reihe zwischen den leeren Pulten an dem Platz vorbei, wo Grahl vor dem Buch stand, leise murmelnd addierte und schrieb.
„Wir wären wieder die letzten ...“ sagte Herr Uri mit einem Seufzer. Der Alte nickte und murmelte fort. „Kommen Sie mit mir,“ forderte Uri auf, „Sie versäumen sonst gewiß noch die Zeit. Und Sie wissen, von welcher Wichtigkeit die Versammlung ist, die heute abend zu den geplanten Entlassungen Stellung nimmt. Nicht ein Mann von unserer Fakturenabteilung darf fehlen.“
„Kann ich denn?“ fragte Grahl und ein Lächeln, das beinahe schmerzlich zu nennen war, zog seinen schmalen Mund in die Breite. „Ich bin so entsetzlich im Rückstand mit meiner Arbeit. Sehen Sie, jenen Haufen Fakturen habe ich geprüft – und dieser Haufen bleibt mir zu prüfen übrig. Sie bemerken, daß dieser der größere von beiden ist. Ich soll bis zum dritten Oktober die Arbeit beendet haben, Sie wissen, bis dahin müssen die Rechnungen fertig zur Zahlung sein. Also vier Tage ... Aber wie soll ich – wie kann ich – wie werde ich fertig – wenn eben kein Wunder eintritt ...“
„Unmöglich, Herr Grahl,“ sagte Uri entschieden, „unmöglich, daß Sie, als Mitglied der Angestelltenvertretung fehlen.“
„Ich kann aber ... ich kann aber nicht ... Sie sehen doch selber ... Mein Gott, ich will ja nicht leugnen, daß ich den Kollegen durch das Mandat, das ich habe, verpflichtet bin. Aber bin ich nicht noch fester an meine Verpflichtung zur Arbeit gebunden, die mir die Firma bezahlt? Sehen Sie, ich gehe demnächst in die Sechzig. Und während meiner ganzen Laufbahn an diesen Pulten, länger als sechsundzwanzig Jahre, hat noch niemand Grund gefunden, zu sagen: Dieser Grahl ist nicht so verläßlich als man es wünschte. – Soll mir das nun mit grauen Haaren zum ersten Male passieren?“ Er machte eine Bewegung, um die Brille besser vor’s Auge zu rücken, und schrieb. Nach einer kleinen Weile, indessen Uri ihm stumm zugesehen hatte, sagte Grahl, als ob er alles, was er gesprochen, noch einmal bei sich wiederholt hätte, gleichsam abschließend: „Na ja. Das ist doch erklärlich –?“
Darauf sagte Uri – und er versuchte deutlich, seinen Worten Wichtigkeit zu verleihen: „Erklärlich? Erklärlich wäre es mir, Herr Grahl, wenn Sie eine halbe Stunde vor Beginn der Versammlung zur Stelle wären. Das wäre erklärlich.“
Grahl blickte ihn an.
„Nicht ich allein meine,“ fuhr Uri fort, „daß Sie, lieber Kollege Grahl, mehr noch als irgendein anderer, Vorteil finden, wenn heute Abend unsere Resolution stark und einig herauskommt.“
„Ich?“ Grahl riß die Brille herunter und starrte den Sprecher erschrocken an. „Ich? Meinen Sie ... ich?“ Und mit einemmal flog das schmerzliche Lächeln um den Mund, es wollte sich unter dem grauen hängenden Schnurrbart verstecken – aber Uri wußte bereits, daß Grahl ihn verstanden hatte.
„Ja,“ sagte er, mit ein wenig schauspielerischem Affekt, „Sie und kein anderer.“ Und scheinbar, um seinen werdenden Sieg recht zu genießen, fügte er hinzu: „Kommen Sie nun mit?“
Er hätte das nicht zu fragen brauchen, denn er sah, daß Grahl in nervöser Eile die Papiere zusammenschob, das Buch auf dem Boden gegen die Pultseite lehnte und schnell seine Utensilien im Innern verschloß. Er lief, vornübergebeugt, zur Garderobe, und als er in Hut und Ueberrock, aber mit ungewaschenen Händen und ein wenig schnaufend, zurückkam, rief er – es sollte Humor sein: „So ist der Mensch! Mich hätte nichts vermocht, mein Pult zu verlassen, als dieser Gedanke an meine eigene Existenz. Meinen Sie wirklich,“ fügte er leiser hinzu, „meinen Sie wirklich, ich ... ich befände mich in Gefahr? Aber, mein Gott, das ist doch unmöglich zu denken! Bin ich nicht siebenundzwanzig Jahre im Dienst? – Wir müssen den anderen Ausgang nehmen, um diese Zeit hat der Hauswart das große Portal schon geschlossen. – Und dazu bin ich Obmann der Angestellten. Es ist doch unmöglich. Ich bin nicht zu kündigen, wissen Sie? Dafür sorgt unser Ausschuß, nicht wahr – ich bin doch im Ausschuß, ich bin doch immun!“
„Um so wichtiger ist,“ sagte Uri, „daß Sie Ihr Amt nicht versäumen. – Da kommt eine Bahn!“
Sie befanden sich auf der Straße, im Regen. Das mächtige weite Haus, das nichts weniger als das Kontor eines der größten Warenhäuser der Stadt vorstellte, lag wie ein Schiff, in dem nur wenige Lichter brennen, mit seiner Front in einer belebten Straße der Handelsstadt – aber die Beiden waren durch die andere Ausgangstür in eine abseitige Straße gekommen. Sie hätten nötig gehabt, die Trambahn zu nehmen, auch wenn der Herbsthimmel freundlicher und das Pflaster weniger sprühend gewesen wäre – denn von der Sankt-Petri-Kirche schlug es achtmal. Auf acht Uhr war der Beginn der Versammlung in einem Vorstadtlokal, in der „Krone“ bestimmt. Das Innere des Wagens war ziemlich leer, im Herzen der Stadt schläft das Leben um diese Zeit.
Grahl war vom Laufen noch außer Atem.
„Es ist eine Schande,“ fing Uri an, „acht hat es geschlagen. Statt unser Recht, unser Arbeitsstundengesetz zu schützen, brechen wir es aus freien Stücken.“
„Was mich betrifft,“ antwortete Grahl, während hinter ihm an den Scheiben der Regen lief, „ich gestehe, daß ich mich trotz meiner Immunität nicht sicher fühle. Ich kann nicht umhin, die Unzufriedenheit meiner Vorgesetzten recht gut zu begreifen.“
„Sie haben den schwierigsten Posten in unserer Abteilung,“ warf Uri ein.
Grahl schwieg und blickte mit seinen nachdenklichen Augen auf die Stiefelspitzen. „Heute morgen kam ich wieder um einige Minuten zu spät. In der letzten Zeit passiert mir das oft, und unten am Eingang vermerkt die Kontrolle sogar die Zahl der Minuten. Ich bin gewiß, daß unser Bureauchef, Herr Karst, schon längst unserem Chef über mich einen gewissen Bericht erstattet hat? – Meinen Sie auch?“
„Es wäre leicht zu denken,“ antwortete Uri, „Karst sucht förmlich Vorkommnisse, an denen er seine Ergebenheit für Firma und Chef demonstrieren kann. – Aber bitte, erklären Sie mir, Herr Grahl – warum verhindern Sie nicht solche Unregelmäßigkeiten, da Sie doch wissen, wie Ihr Ruf unter ihnen leidet?“
„Ja, ja,“ sagte Grahl. Er lächelte wieder. „Sehen Sie, da ist eine Sache, die nimmt mich so sehr in Anspruch, daß ich so ziemlich den ganzen Tag daran denke. Daher auch lahmt meine Arbeit ein wenig. Die Konzentration ist nicht so billig zu haben, wenn solch ein Gedanke, der sich nicht auflösen läßt, in einem steckt. Aber laß!“ unterbrach er sich plötzlich mit einer abwehrenden Bewegung der Hand. Dann blickte er wieder wortlos auf seine Stiefel. Uri, der nicht ohne weiteres auf die erwünschte Erklärung verzichten wollte, stellte noch eine bezügliche Frage. Grahl hörte ihn nicht, wie es schien. Gleich darauf rief der Schaffner die Haltestation, an der sie den Wagen verlassen mußten. Sie gingen mit eiligen Schritten zur „Krone“.