Elftes Kapitel.
Zu stark für dies Leben • 第13章
Am Abend saßen die Kinder Grahls, jedes für sich beschäftigt, am Tisch, während ihr Vater mit blauen Schläfen regungslos auf dem Sofa lag. Es klingelte an der Wohnungstür und Herr Uri kam. Beim Anblick der gramdurchfurchten Gesichter legte Herr Uri für einen Augenblick den Kopf auf die Seite, als sagte er bei sich selbst: Welch ein Unglück, ja, ja ... diese Kündigung. – Aber ehe er über die Ereignisse im Kontor hätte beginnen können, sagte der Alte mit einer bedeutungsvollen Bewegung: „Sie kommen zur rechten Zeit, mein Lieber. Ich möchte mit Ihnen ein wenig spazieren gehen. Ich brauche Luft um die Stirn.“
Er erhob sich vom Sofa. Aber indem er merklich erbleichte, fiel er zurück. „Es ist nichts,“ sagte er nach einer Pause mit schwachem Lächeln, „draußen wird das vorübergehen.“ Er strich seinen Kindern mit einer ruhigen Bewegung über die Scheitel. Gertrud neigte den Kopf noch tiefer und brachte endlich ihr Nähzeug lautlos bis an die Augen.
An der Treppe zögerte Grahl. „Geben Sie mir Ihren Arm, mein Lieber ... ich weiß nicht ... die Treppe ...“ Herr Uri führte ihn langsam hinunter. Die frische sternklare Straße machte ihn tiefer atmen, er seufzte. Es war, als ob von Augenblick zu Augenblick Regungen eines hohen Schmerzes zitternd vom Kopfe zum Herzen liefen, sein Gemüt mit jenem Frieden erfüllend, den die Demut unter das Schicksal erzeugt. – Herr Uri berichtete unterdessen, gleichsam zum Troste, von einigen Mißvergnügten im Personal, die ihrer Empörung über den Abschied des Alten Ausdruck zu geben begannen. Es hatte sich nun herausgestellt, daß der Nachfolger Grahls in der Paketannahme – eben derselbe Angestellte war, der früher den Posten gehalten hatte. Es war ein Bote, welchem die Firma den Urlaub für das vorgehende Jahr noch schuldete. – In seiner Abwesenheit hatte man Grahl auf den Posten gestellt, mit seinem Wiedererscheinen hatte man ihn entlassen.
„Glauben Sie denn,“ fragte Grahl, „daß diese Stimmen, die sich nun einzeln für mich erheben, nachdem sie so lange geschwiegen haben – glauben Sie, daß diese Stimmen etwas vermögen, nachdem die letzte Vertretung des Personals unter der Macht des Geldherrn und unter der Vorsichtigkeit der Angestellten vergangen ist?“
Herr Uri schwieg. Dann sagte er leiser: „Das ist wahr – unser Recht ist dahin.“
„Wir wollen nicht davon reden, Uri,“ sagte der Alte; „wenn es so und nicht anders auf Erden ist, kann man wohl schlecht was dagegen sagen. Geben Sie mir bitte Ihren Arm. – – Heute vormittag, Uri, hat meine Frau mittels eines Tuches, das sie sich etwas fest um den Hals wickelte, ihre aristokratische Gleichgültigkeit gegen dies Leben öffentlich kundgetan. Ich bin ganz verwirrt, muß ich sagen. Sie ist davon gegangen – sie hielt es für gut – mich ließ sie beinahe beschämt zurück. Uri, einige sterben, weil sie sich vor den Menschen fürchten; andere, weil sie sich eingestehen, daß sie nicht ins rechte Milieu geraten sind, als sie in die Menschenwelt eingelassen wurden. Ich weiß nicht recht ... ich habe einen Respekt. Wenn ein Mensch nicht mehr weiter kann und daher umkehrt – dann heißt man das: Schwäche. Meine Frau war stark, da ist gar kein Zweifel. Sie hat sich bestimmt nicht zurückgezogen aus Furcht. Sie konnte den Kopf so hoch wie sie wollte tragen. Das hätte sie auch in dieser Sache vermocht. Sie hatte da eine Sache, Uri, müssen Sie wissen ... Gut, Anna war also stark. Aber ich? Ich habe um Anna, wenn ich sie lächeln sah – ich verstand ihr Lächeln so gut, so ganz, daß ich mich heute nicht hätte wundern sollen – ich habe um sie so gezittert und so an der Seele geblutet, daß ich nichts mehr vom Leben wußte und sah, außer ihr. Die äußere Welt, in der ich gebunden war, verlor ihre Wirklichkeit, ich kannte in ihr meinen Platz nicht mehr, es gab für mich keine Sorgen, noch Pflichten – ich lebte mit ihrem Leben, mit ihrem Leiden hab ich gelitten, ich war über Tag und Nacht in der Seele der Frau, die so lächeln konnte, daß ich mich für die Menschheit schämte, die dies Lächeln herausgefordert hatte. Sie müssen wissen, man hat sie verklagt und vor die Richter gebracht. Um einen Dreck und nichts ... Aber weiter von mir. Sie sehen, das war meine Schwäche. Meine wesentliche Verwandlung, deren Zeuge Sie waren, Uri, in deren Verlauf meine Hände lahmten, und alle mich für stumpf und ermattet hielten – diese Verwandlung führte mich ins heftigste innerste Leben. Aber ich hätte da Einhalt gebieten müssen, nicht wahr ... Auf den Gedanken komme ich erst jetzt. Es sollten einige ausgemustert werden – und weil ich der Schwächste schien, griffen sie mich. Ich hätte auch, als sie im Ausschuß begannen, mich an den Rand zu drängen, mit ganz anderen Mitteln mich wehren müssen. Man kann sich ja wohl auch anders wehren, nicht wahr? Ich hätte Baaß nicht beleidigen sollen, oder, nachdem ich es einmal getan, hätte ich unternehmen sollen, ihn zu versöhnen. Ihn hätte ich auf den Abend an meinen Tisch zu einer Flasche Wein bitten sollen – statt dessen habe ich Sie eingeladen. Ich hätte ein Machtmittel bei mir behalten sollen, einen Austauschwert – statt dessen ließ ich mir alles nehmen und behielt nur mein Recht. Ich war bis zum Schluß der irrigen Meinung, die höchste Macht sei – das Recht. Uebrigens – und Sie können hieran meine ganze Schwäche erkennen – dieser Meinung bin ich noch jetzt. Ich habe keine Kraft, sie von mir zu tun, keine Gelegenheit – nämlich keinen Wunsch. Wenn ich wünschte, im Unrecht zu sein, wünschte ich nicht mehr, meine Sache zu gewinnen. Und wie ich nun einmal bin, rief ich nicht einmal Beistand zu Hilfe – ich sah alles so einfach an, ich war ja im Recht. Wenn die Natur mich für einen kurzen Abschnitt verwandelt, so daß meine Kraft, wie in Krankheit, lahmt, so bin ich doch eben im Recht ... und die Menschen müssen dies Recht respektieren, ohne Erklärung von meiner Seite, ohne Preisgabe eines Gefühls, dessen Art es ist, stumm im Leben zu bleiben. Gott sorgt für alle, heißt es zu unrecht, wie ich bemerke; aber ein reicher Mann, das Haupt einer Kommanditgesellschaft, kann für tausend sorgen, wenn er nur will. Unter den Tausenden einer mußte hinaus – denn dieses einen Monatssalär wollte ein Sparsamer sparen – dieser eine war ich – ich war schwach – denn ich war schwach – dies „denn“ ist sehr wichtig – verstehen Sie mich – es empört mich – ja ... ja, ich bin schwach ...“
Er hatte sich aus dem Arm Uris gerissen. Etwa zehn Schritte noch ging er fort. Dann wurde sein Gang ein Torkeln vornüber. Er torkelte auf die Seite, wo eine Laterne stand. Mit der Absicht, sich anzuklammern, hob er den rechten Arm. Aber plötzlich fiel der Arm herab. Grahl sank in die Knie, schlug zur Seite, machte noch eine kurze Bewegung und lag regungslos auf dem Pflaster.
„Was ist Ihnen ... Grahl ...“ sagte Uri, indem er die zerbrochene Brille hinter den Ohren des Liegenden löste. Dann wendete er ihn mühsam in das Licht der Laterne, blickte ihm in die Augen und schwieg.