III.

Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第23章

III.

Ich sagte, daß ich ganz unmerklich einschlief; es war mir, als ob ich nur fortfuhr über dieselben Fragen nachzugrübeln. Plötzlich nehme ich den Revolver – d. h. es schien mir im Traum, daß ich ihn nahm – und setze ihn gerade an das Herz, – an das Herz, und nicht an die Stirn; ich aber hatte vorher fest beschlossen, mich durch einen Schuß in den Kopf, unbedingt in den Kopf, und zwar gerade durch die rechte Schläfe zu töten. Nachdem ich den Lauf auf die Brust gesetzt hatte, wartete ich eine, nein, zwei Sekunden lang und mein Licht, der Tisch und die Wand vor mir kamen plötzlich wie näher und fingen zu schaukeln an. Ich drückte schnell den Hahn ab.

Im Traum fällt man zuweilen von einer Höhe herab oder man wird ermordet, oder geschlagen, doch fühlt man dabei niemals einen Schmerz, es sei denn, daß man sich selbst irgendwie am Bett beschädigt: dann allerdings fühlt man einen Schmerz, von dem man denn auch gewöhnlich erwacht. So war es auch in meinem Traum: Schmerz fühlte ich nicht, aber es war mir, als ob durch meinen Schuß alles in mir – erschüttert wurde und plötzlich erlosch, und um mich herum alles furchtbar dunkel wurde. Ich wurde gleichsam blind und stumm, und siehe da, ich liege auf etwas Hartem ausgestreckt, auf dem Rücken, sehe nichts und kann nicht die geringste Bewegung machen. Um mich herum wird gegangen und geschrieen, ich höre die Baßstimme des Hauptmanns und die Fistelstimme meiner Wirtin, – und plötzlich wieder eine Unterbrechung ... und da trägt man mich schon in geschlossenem Sarge. Und ich fühle wie die Träger beim Gehen den Sarg schaukeln und denke noch so darüber nach, und plötzlich fällt mir zum ersten Mal der Gedanke auf, daß ich ja doch gestorben bin, daß ich tot bin, daß ich es weiß und nicht daran zweifeln will, nicht sehe und mich nicht bewege, trotzdem aber fühle und denke. Doch ich söhne mich schnell damit aus und nehme, wie man es gewöhnlich im Traum tut, die Wirklichkeit widerspruchslos an.

Und siehe, da senkt man mich in ein tiefes Grab hinab und begräbt mich in der Erde. Alle gehen fort, ich bin allein, vollständig, ganz und gar allein. Ich rühre mich nicht. Wenn ich mir früher vorstellte, wie man mich beerdigen würde, so verband ich mit dem Begriff Grab eigentlich nur das Gefühl von Feuchtigkeit und Kälte. Und so wars denn auch: ich fühlte, daß ich es sehr kalt hatte, besonders an den Zehenspitzen, doch sonst fühlte ich nichts.

Ich lag und, sonderbar, – erwartete nichts, da ich widerspruchslos annahm, daß ein Toter nichts zu erwarten hat. Aber es war feucht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit inzwischen verging, – eine Stunde oder einige Tage, oder viele Tage. Doch plötzlich – fiel auf mein linkes geschlossenes Auge ein durch den Sargdeckel durchgesickerter kalter Wassertropfen ... es verging eine Minute und es fiel ein zweiter – nach ihm ein dritter, und so weiter, und so weiter, immer nach einer Minute. Heftiger Unwille entbrannte darob mit einem Mal in meinem Herzen und plötzlich fühlte ich in ihm einen physischen Schmerz: „Das ist meine Wunde,“ dachte ich, „dort sitzt die Kugel“ ... Der Tropfen aber tropfte in jeder Minute und immer gerade auf mein linkes geschlossenes Auge. Da rief ich, nicht mit der Stimme, denn ich war unbeweglich, sondern mit meinem ganzen Wesen zum Beherrscher alles dessen, was mit mir geschah:

„Wer Du auch seist, doch wenn Du bist, und wenn es etwas Vernünftigeres gibt, als das, was soeben mit mir geschieht, so gebiete ihm auch hier zu sein. Wenn Du mich aber für meinen unvernünftigen Selbstmord mit dem Blödsinn eines weiteren Seins strafen willst, so wisse, daß sich nichts von dem, was mich auch erwartet, mit meiner Verachtung wird messen können, mit meiner Verachtung, die ich schweigend empfinden werde, und wenn auch im Verlauf von Jahrmillionen der Qual und des Märtyrertums! ...“

Ich rief es und verstummte. Fast eine ganze Minute lang dauerte das tiefe Schweigen an, und es tropfte sogar noch ein Tropfen auf mein geschlossenes Auge herab, doch ich wußte, grenzenlos und unerschütterlich wußte ich, und ich glaubte daran, daß sich unbedingt sofort alles verändern würde. Und siehe, plötzlich tat sich mein Grab auf. Das heißt, ich weiß nicht, ob es gerade aufgegraben wurde, ich weiß nur, daß ich von einem dunklen, mir unbekannten Wesen aufgenommen wurde und wir befanden uns im Weltenraum. Und plötzlich ward ich wieder sehend: Es war tiefe Nacht und niemals, niemals noch hatte es solch eine Dunkelheit gegeben! Wir durchzogen den Weltraum schon weit entfernt von der Erde. Ich stellte an den, der mich trug, keine einzige Frage, ich wartete und war stolz. Ich versicherte mir, daß ich mich nicht fürchtete, und erstarb fast vor Entzücken bei dem Gedanken, daß ich mich nicht fürchtete. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so schwebten und ich kann mir auch nicht recht vorstellen: geschah alles so, wie es gewöhnlich im Traum zu geschehen pflegt, wenn man Raum und Zeit und die Gesetze der Vernunft überspringt und nur auf den Punkten stehn bleibt, von denen das Herz träumt. Ich erinnere mich noch, daß ich plötzlich in der Dunkelheit einen kleinen Stern erblickte.

„Ist das der Sirius?“ fragte ich mit einem Mal ganz gegen meinen Willen, da ich nichts fragen wollte.

„Nein, das ist derselbe Stern, den Du zwischen den Wolken erblicktest, als Du nach Hause gingst,“ antwortete mir das Wesen, das mich trug. Ich wußte nur, daß es ein menschenartiges Antlitz hatte. Doch sonderbar: ich liebte dieses Wesen nicht, ich empfand sogar eine tiefe Abneigung gegen dasselbe. Ich hatte vollkommenes Nichtsein erwartet und mit dieser Annahme hatte ich mir den Tod gegeben. Und siehe, ich bin in den Armen eines Wesens, natürlich keines menschlichen Wesens, aber trotzdem eines Wesens, das wirklich ist.

„Also gibt es auch nach dem Tode ein Leben!“ dachte ich mit dem sonderbaren Leichtsinn des Traumes, doch das Wesen meines Herzens blieb mit mir in seiner ganzen Tiefe. „Und wenn ich von neuem sein muß,“ dachte ich, „und wieder nach irgend jemandes unabwendbarem Willen leben muß, so will ich nicht, daß man mich besiegt und erniedrigt!“

„Du weißt, daß ich mich vor Dir fürchte, und verachtest mich deswegen,“ sagte ich plötzlich zu meinem Gefährten: ich hatte mich nicht bezwingen können und so war denn die erniedrigende Frage, die das Bekenntnis in sich schloß, gestellt, und in meinem Herzen fühlte ich den Schmerz meiner Erniedrigung wie den Stich einer Stecknadel. Das Wesen antwortete auf meine Frage nicht, doch fühlte ich plötzlich, daß man mich nicht verachtete, und nicht über mich lachte, und daß man mich nicht einmal bemitleidete, und daß unser Flug sogar ein Ziel hatte, ein unbekanntes und geheimnisvolles, und das nur mich allein anging. Und die Angst wuchs in meinem Herzen. Irgend etwas ging von meinem stummen Gefährten schweigend, doch qualvoll auch auf mich über und durchdrang mich. Wir durchzogen dunkle, unbekannte Sphären. Schon längst waren die meinem Auge bekannten Gestirne verschwunden. Ich wußte, daß es im Weltenraum Sterne gibt, deren Strahlen erst in Jahrtausenden oder Jahrmillionen die Erde erreichen. Wir aber hatten vielleicht schon größere Entfernungen durchmessen. Ich erwartete irgend etwas und die Sehnsucht quälte mein Herz. Und plötzlich überkam mich ein bekanntes, heimisches Gefühl: ich erblickte unsere Sonne! Ich wußte, daß es nicht unsere Sonne sein konnte, die Mutter unserer Erde, die unsere Erde geboren hat, aber ich erfuhr durch irgend etwas, ich weiß nicht wodurch, doch mit meinem ganzen Wesen erfuhr ich es, daß es ganz eben solch eine Sonne war wie die unsrige, ihre Wiederholung und ihr Doppelgänger. Ein süßes, herrliches Gefühl durchdrang voll Entzücken meine Seele: die Kraft des Lichts, die jener Kraft verwandt war, die mich hervorgebracht, fand in meinem Herzen einen Widerschein und erweckte es wieder zu neuem Leben, und ich fühlte das Leben, das frühere Leben zum ersten Mal nach meinem Grabe.

„Aber wenn das die Sonne ist, wenn das ganz genau solch eine Sonne ist, wie die unsrige,“ rief ich, „– wo ist dann die Erde?“ Und mein Gefährte wies auf einen kleinen Stern, der in smaragdgrünem Glanze strahlte. Wir schwebten gerade auf ihn zu.

„Wie ist es möglich, daß es solche Wiederholungen im Weltall gibt, ist denn wirklich derart das Weltgesetz? ... Und wenn das dort die Erde ist, so sag mir doch, ist es eben solch eine Erde wie die unsrige? ... genau solch eine unglückliche, arme, doch so teure und ewig geliebte Erde, die ebenso qualvolle Liebe selbst in ihren undankbarsten Kindern zu sich erweckt, wie unsere Erde? ...“ rief ich, zitternd vor unbezwingbarer berauschender Liebe zu jener heiligen Mutter, der feuchten, sonnigen Erde, die ich verlassen hatte. Und die Gestalt des kleinen Mädchens, das ich angeschrieen hatte, tauchte auf einen Augenblick in meiner Erinnerung auf.

„Du wirst es selbst sehn,“ antwortete mein Gefährte und eine gewisse Trauer klang durch seine Worte. Wir näherten uns schnell dem Planeten. Er wuchs in meinen Augen, ich konnte schon die Ozeane unterscheiden, dann die Konturen Europas und plötzlich lohte eine große heilige Eifersucht in meinem Herzen auf:

„Wie darf es solch eine Wiederholung geben, und zu welch einem Zweck gibt es sie? Ich liebe und kann ja nur jene Erde lieben, die ich verlassen habe, auf der die Tropfen meines verspritzten Blutes blieben, als ich, ich Undankbarer, mein Leben durch Selbstmord von mir warf! Doch niemals, niemals habe ich aufgehört, unsere Erde zu lieben, und sogar in jener Nacht, in der ich sie verließ, habe ich sie vielleicht heißer, qualvoller denn je geliebt! Gibt es auch auf dieser neuen Erde Qual? Auf unserer Erde können wir nur mit Qualen oder durch Qualen wahrhaft lieben! Anders verstehn wir nicht zu lieben und wir kennen keine andere Liebe. Ich will Qual, um lieben zu können. Ich will, oh, ich lechze jetzt, in diesem Augenblick danach, tränenüberströmt einzig und allein die Erde küssen zu können, die ich verlassen habe! Und ich will nicht, ich nehme kein anderes Leben an, als nur eines auf unserer Erde! ...“

Mein Gefährte aber hatte mich schon verlassen. Für mich ganz unmerklich, war ich auf jener anderen Erde angekommen, im grellen Sonnenlicht eines paradiesisch schönen Tages. Ich stand, glaube ich, auf einer jener Inseln, die auf unserer Erde den Griechischen Archipel ausmachen, oder vielleicht war es irgendwo an der Küste des Festlandes, das dort das Ägäische Meer umgibt. Oh, alles war ganz so wie bei uns, nur schien alles in einer Feststimmung zu sein, und in einem großen, heiligen, endlich erreichten Siege zu leuchten. Das freundliche tiefblaue Meer plätscherte leis an das Gestade und drängte sich zu ihm wie in unendlicher, sichtbarer, fast bewußter Liebe. Die hohen schattigen Bäume standen in der ganzen Pracht ihrer Blüten, und ich bin überzeugt, daß mich ihre unzähligen Blättchen mit ihrem sanften freundlichen Rauschen willkommen hießen und mir unbekannte Worte der Liebe zuflüsterten. Das Gras war von so leuchtendem frischen Grün, die Vögel durchzogen in Scharen die Luft und die kleinen setzten sich mir furchtlos auf die Schulter und Arme und schlugen mich freudig mit ihren lieben bebenden Flügelchen, und schließlich erblickte und erkannte ich auch die Menschen dieser glücklichen Erde. Sie kamen von selbst zu mir, umringten und küßten mich. Es waren Kinder der Sonne, Kinder ihrer Sonne, – oh, wie sie schön waren! Niemals noch hatte ich auf unserer Erde solch eine Schönheit im Menschen gesehn. Höchstens in unseren Kindern, in ihren ersten Lebensjahren hätte man einen entfernten, wenn auch schwachen Widerschein dieser Schönheit finden können. Die Augen dieser seligen Menschen waren licht und klar. Aus ihren Gesichtern sprach Vernunft und eine, ich möchte sagen, bis zur Ruhe vollkommene Erkenntnis, doch waren diese Gesichter ausnahmslos heiter; in den Worten und der Stimme dieser Menschen klang kindliche Freude. Oh, sofort, schon beim ersten Blick auf diese Gesichter, begriff ich alles, alles! Das war die Erde, die nicht durch den Sündenfall entweihte Erde, auf ihr lebten Menschen, die nicht gesündigt hatten und sie lebten in ebensolch einem Paradiese, wie das, in dem nach den Überlieferungen der ganzen Menschheit auch unsere Urväter vor dem Sündenfall gelebt haben, nur mit dem Unterschied, daß die ganze Erde hier überall ein und dasselbe Paradies war. Diese Menschen drängten sich freudig und lächelnd zu mir und liebkosten mich; sie führten mich zu sich und ein jeder von ihnen wollte mich beruhigen. Oh, sie fragten mich nicht, sie schienen schon alles zu wissen, und sie wollten nur schneller das Leid aus meinem Gesichte verscheuchen.