Fünftes Kapitel.

Zu stark für dies Leben   •   第7章

Fünftes Kapitel.

Außer dem Kontenführer Grahl war noch dem „Geiger“ gekündigt worden, der erst kürzlich über den Lehrlingsgrad hinaus, in die Stellung eines Kommis geklettert war. Während aber der Kündigung Grahls ein Bemerken, das auf Ueberzähligkeit hinwies, als Begründung zugefügt war, entbehrte das Schreiben, welches der „Geiger“ erhalten hatte, einer entsprechenden Angabe ganz und gar. Der „Geiger“ empörte sich auch durchaus nicht dagegen. Er hatte in einem seiner Cafés, wo er abends spielte, ein Mädchen kennen gelernt, mit welchem er ohnehin schon einige Male über den Tag spazieren gegangen war, obgleich diese Tage weder als Fest- noch als Sonntage auf dem bürgerlichen Kalender standen. Das Geigenspiel konnte ihn über dem Abgrund vollkommenen Geldmangels halten. Dazu hatte der „Geiger“ einen Vater, der ebenso jovial war wie er. Der Vater hatte die Mittel, sich jedes Vergnügen zu leisten. Aus Gewissenszwang wollte er, was er sich selber gönnte, seinem Sohn nicht versagen.

Seide Freunde neckten den „Geiger“ mit einem unter den Angestellten beliebten Spruch. Einer rief:

„Du wirst Kommis –“

worauf der Chorus einfiel:

„Aber nich bi mi!“

Wenn sie in der Garderobe in der Nähe des Fensters standen und „durch die Nase rauchen“ probierten, neckten sie ihn. Er pfiff den Rauch weg und sagte: „Egal!“

Die innere Verfassung des anderen Gekündigten war anders. Der anfängliche Sturz der Empfindungen hatte die Denkkraft gelähmt. Und als er am Abend niemanden in der gleichwohl erleuchteten Wohnstube fand, aber Anna mit ihrem selbstvernichtenden Lächeln im Bett – nun nicht mehr glühend von innerlicher Erregung und Präparation für die Stunde am Richtertisch, sondern weiß bis in die schweigenden Lippen – da sah der Alte nur noch die Kurve des Untergangs, er fühlte die Hand eines Schicksals, der zu entrinnen vergeblich wäre. Diese Familie war ihr verfallen. Ich weiß nicht warum, sagte Grahl, ich weiß nur: es ist so. Er konnte sich keine Rettung mehr denken. Er wünschte einen beschleunigten Schluß. Er hoffte wirklich im Schlaf dies Ende zu finden. Indem er, beinahe stumpf von Leiden, in sein Bett, neben der verbissenen schweigenden Anna, hineinstieg, wanderten seine Gedanken zu Hermann und Gertrud, die nur die Hälfte des Schicksals kannten – nur das Teil, das ihre Mutter betroffen hatte. Ich wünsche euch eine andere Seele, als ich sie besitze, sagte er wie zum Nachtgebet. Mehr Kraft, mehr Härte des Herzens, Kinder ...

Er fand keinen Anfang für eine Frage, welche die Bestätigung dessen verlangte, was er schon wußte. Er fühlte, daß mit gebrochenem Schweigen der Schmerz, der dieser Frau wie ein eisiger Block die Tränen versperrte, sich lösen mußte. Von den Gedanken aufs neue bewegt, verbreitete sich innerlich eine Erleuchtung – als ob hier Schuld und Verfehlung keinerlei Rolle spielten. Und all das wäre das Schicksal, wie ein Jeder das Seine gesondert empfängt. Die Erkenntnis, daß seine vom Leben gefurchte Seele es war, die ihn die Niederlage des heutigen Tages und endlich den Untergang leiden ließ – dies Gefühl erfüllte ihn, ohne daß er nach einer Begründung fragte, gleichwie ein Glück. Er war stolz, sein Schicksal, je schwerer, je lieber, zu tragen. Da sagte er: „Anna!“ Der Glauben, der in ihm zu herrschen begann, machte ihn mächtig, die Wirklichkeit in dem heiteren Lichte der Unschuld zu sehen und er meinte diese Gabe des Sehens teilen zu können, mit wem er es wünschte.

Anna aber sagte nicht mehr als ein Wort, in dem sich eine Lippe rührte, sonst nichts: „Gefängnis.“

„Habe darum keinen Gram. Ueberwinde das mit dem Stolz deines Herzens, wie ich.“ Er blickte sie an.

Sie hob die blasse Hand von der Decke und drehte den Docht der kleinen Lampe so tief, daß sie verlöschte. Er nahm ihre Hand, sie entzog sie ihm nicht. Aber sie weinte auch nicht und sie sprach kein Wort. Auch er wußte nichts mehr zu sagen. Die Helligkeit in ihm war plötzlich erloschen. Er ließ ihre Hand los und bohrte den Kopf in die Kissen.

* * *

Gertruds Stimme weckte den Vater am folgenden Morgen. Er lag einige Minuten mit offenen Augen, ohne daß eine Erinnerung an die Dinge von gestern kam. Das Bett neben ihm war leer. Er hob sich erschreckt auf den Ellenbogen – in einer Sekunde standen die Tatsachen um ihn herum. Verwundert, wie das Gedächtnis an den verhängnisvollsten Tag seines Lebens, um soviel später in ihm erwachen konnte, als er selbst – und grübelnd, ob nicht die Fähigkeit, zu vergessen, was zu vergessen von Nutzen sei, ein zu erkämpfendes Können des Innern wäre ... so stand er auf, sah in den grauen, rieselnden Morgen, durch leckenden Regen, und kleidete sich langsam an. Eine Schwermut, körperlich, schien ihn zu lähmen.

Mit seinem Sohne ging er ein Stück des Weges. Er hatte sich von dem Anblick der leidenden Frau mit Gewalt getrennt. Hermann unterrichtete ihn mit leiser, von sachlichem Ausdruck beherrschter Stimme, von den Ereignissen des vergangenen Tages. Frau Anna Grahl war zu einer Gefängnisstrafe von dreiundeinhalb Monaten verurteilt worden. Sie war nicht einmal dazu gekommen, die wohlvorbereitete Verteidigung, alle die in schlaflosen Nächten eingeschärften und oft wiederholten Wendungen, am Richtertisch vorzutragen. Der Vorsitzende hatte ihr inneres Bekenntnis, zu dem sie nicht aufgefordert war, mit einem herrischen Ausbruch der Ueberlegenheit, die sich offenbar mit besonderer Anerkennung respektiert sehen wollte, unterdrückt, und die Angeklagte in die einzige Haltung gedrängt, die ihr in ihren eigenen Augen nun noch gemäß war: in stolzen, schweigenden Trotz. So hat sie also den Kampf aufgegeben, und ließ es gehen, ohne hinzuhören – schloß Hermann mit einem flüchtigen Seitenblick. „Ich biege hier ab. Guten Morgen, Vater.“

Grahl hatte die Kündigung sorglich verschwiegen. Sein Wunsch war, die bedrückten Herzen der Seinen durch die Form, die er selber hielt, zu erleichtern. Nichtsdestoweniger waren in ihm der leidensbereite Wille, die stolze Demut unter das Schicksal, die am vorigen Abend in eigenartiger Kraft aus der Schwäche erstanden waren – verstummt und vergessen. Aber das gleiche Gefühl für die Pflicht, das ihn am Kontorpult beherrschte, war in der Sorge um seine Familie wieder erwacht; es lenkte seine Entschlüsse in völliger Unbekümmertheit um die geschehenen Verstöße, mit welchen ein Vorgesetzter die Führung des Angestellten belasten konnte.

Er berief auf den selbigen Abend die Ausschußversammlung ein. Die Ausschußmitglieder bestanden aus sechs Vertretern des Personals, von denen Grahl der älteste war. Sie trafen am Abend in einer Restauration, die „Himmelspforte“ genannt, zusammen. Grahl forderte auf, seiner Entlassung den Ausschußwillen entgegenzusetzen, da er, als Mitglied des Ausschusses, in einem Verhältnis zur Firma stände, das bei erloschenem Mandat erst zu lösen wäre, nicht früher.

Aber zu seinem Erstaunen waren die übrigen Ausschußmitglieder durchaus nicht einig in ihrer Meinung. Es ergab sich, daß drei unter ihnen in ihrem Gewissen Bedenken empfanden, das Interesse ihres Kollegen zu schützen, ohne den Standpunkt der Firma in Rücksicht zu ziehen. Diesen Standpunkt, hieß es, kenne man wohl, obgleich er – wohl aus einer gewissen Milde – in dem Entlassungsschreiben verschwiegen war. Der eigentliche Grund zur Entlassung Grahls – darin waren diese drei Herren sicher – wäre natürlich der Mangel an Arbeitskraft und Zuverlässigkeit, der in den letzten Wochen vermocht hatte, den guten Kredit seiner siebenundzwanzig Arbeitsjahre zu annullieren. Wie sollten sich also diese gewissenhaften Ausschußmitglieder für Grahl entscheiden?

Widerrede wurde dagegen laut. Grahl selber erklärte, daß die Begründung, die das Kündigungsschreiben enthielt, maßgebend wäre – nicht eine verschwiegene. Wer nähme wohl an, die Firma wäre in ihrer Erklärung von zarter Rücksicht geleitet? Im übrigen hielt der Einwand, die mangelnden Qualitäten betreffend, nicht Stich. Wenn im Verlauf von mehr als einem Vierteljahrhundert ein Mann mit niemals lahmendem Willen die Kraft seines Denkens und Tuns in den Dienst einer Firma gestellt habe, so sei er nicht davonzujagen gleich einem ungebärdigen Hunde, wenn ihn in einem gefährlichen Augenblicke seines Familienlebens die Kraft für eine Spanne verlasse. Er setzte sich wieder und stützte den Kopf in die zitternde Hand.

Man fragte ihn, ob er nicht dies persönliche Schicksal als Begründung seiner offenbaren Veränderung vortragen wollte. Er schüttelte mit dem Kopf, ohne die Hand von den Augen zu lösen.

Den drei Vorsichtigen wurde noch andershin widersprochen. Wiewohl es auch möglich sei – führte ein Obmann aus –, daß die Entlassung des Kollegen Grahl aus den vorhin genannten Gründen erfolgt sei, so bestehe die Tatsache dennoch fort, daß Entlassungen zu Zwecken von Ersparnis einiger Angestelltensaläre ohnehin in Aussicht genommen waren. Mehrere Posten mit geringerer Arbeitsbelastung sollten, je zwei, vereinigt an einen der beiden Postenverwalter übertragen werden, um den zweiten zur Uebernahme anderer Tätigkeit freizumachen. Hätte das Schicksal also nicht Grahl getroffen, so wäre ihm gleichwohl ein anderer zum Opfer gefallen. Derjenige nämlich, der nach der Geschäftsleitung Ansicht am wenigsten Nutzen der Firma bringe. – Das sehe man ein, nicht wahr? Man müsse also dagegen sein, im Prinzip. Stände im Falle des „Geigers“ die unanfechtbare Begründung mit seiner Faulheit nicht fest zu erwarten, so wäre auch dieser Kündigung die notwendige Beistimmung des Ausschusses zu versagen. Es handle sich um Entscheidungen, die für Jeden einmal Bedeutung erlangen könnten. Ueber allem aber dies: Zu was bestände denn das Gesetz, das die Entlassung des Obmanns verbietet? Wer könnte bürgen, daß nicht eben sein Amt im Ausschuß es war, das ihn zum Fallen gereift hätte? Und wer von den Ausschußmitgliedern dächte hierbei nicht an sich selber? Er verlangte die Unterschriften.

Die drei Widerstrebenden dachten wahrscheinlich sehr intensiv an sich selber. Sie hielten die Macht ihres Mandats für gering im Verhältnis zur Macht eines Leiters der Personalabteilung, gegen dessen Beschlüsse man wohl am besten nicht knurrt. Ein Mandat hat auch einmal ein Ende, dachten sie wohl ... Und sie konnten sich nicht für ihren Kollegen entscheiden. Sie meinten, etwaige Mängel der Führung seien durchaus nicht durch ein im übrigen unantastbares Amt als gedeckt zu betrachten. Darauf berief sich Grahl erneut auf die Begründung des Kündigungsschreibens, in welchem mit keinem Worte irgendeines Mangels gedacht war. Es gelang ihm nicht, sie auf seine Seite zu ziehen. Und obgleich dem gegebenen Rechte nach kein Ausschußmitglied seine Unterschrift unter das Einspruchsschreiben, das inzwischen gefertigt war, hätte verweigern können, so zeigte es sich dennoch, daß die drei Nichtgewillten bis zum Ende in ihrer Opposition verharrten. Ihre Furcht vor dem Eindruck, den ihre Unterschrift unter ein dem Willen der Geschäftsleitung entgegengesetztes Schriftstück hervorrufen mußte, war begreiflich groß. Nach langem Widerstande bemerkte Grahl, daß sein beharrliches Dringen aufs Recht ihm dennoch keinen Vorteil brachte, und er ergab sich darein, seinen Fall als den Fall eines einfachen Angestellten zu führen. Noch bei einem Stimmenverhältnis von drei zu drei war für den Angestellten entschieden. Das Schriftstück, in welchem der Ausschuß die Einwilligung zur Entlassung des Buchhalters Grahl versagte, trug die folgenden Unterschriften: Baaß, Ehrlich, Grahl.

Grahl ging in bedrückter Stimmung nach Hause. Die Unzulänglichkeit dieser an sich so verläßlichen Institution hatte ihn überrascht und erschüttert. Er war für den Tag, für den Monat und für den nächstfolgenden auch, gerettet. Aber gewöhnt, bei der Bilanz seiner Lebenshaltung nicht nur die Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und Zukunft in Betrachtung zu ziehen, bangte ihm vor den kommenden Zeiten, die ihn zwingen würden, die Hilfe der Ausschußmitglieder erneut anzurufen. Wenn sie ihm dann sein Recht versagten? Gewiß, er würde es von höherer Stelle erhalten. Das Recht schützt der Staat ...

Als er nach Hause kam, fand er wieder die Stube erleuchtet und leer. Er ging schweigend durch alle Zimmer; Hermann und Gertrud fand er in ihrer gemeinsamen Stube lesend. Als er ihre hochgezogenen roten Stirnen wahrnahm, unterdrückte er seine Frage.

Frau Anna Grahl war bereits ins Gefängnis gegangen.