Erstes Kapitel.

Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第17章

Erstes Kapitel.

I. Wer ich war und wer sie war.

...So lange wie sie hier liegt, – ist ja noch alles gut: jeden Augenblick gehe ich zu ihr hin und betrachte sie ... Aber morgen, wenn man sie fortbringt – wie ... wie soll ich dann allein bleiben? Sie liegt jetzt im Gastzimmer auf dem Tisch; man hat dort zwei Lhombretische zusammengeschoben; der Sarg wird erst morgen kommen, ein weißer, mit weißem Gros de Naples überzogen, übrigens, nicht davon wollte ich jetzt ... Ich gehe die ganze Zeit auf und ab und versuche mir das alles zu erklären. Schon sechs Stunden mühe ich mich damit, doch kann ich meine Gedanken noch immer nicht zusammenhalten. Es ist ja nur, daß ich ununterbrochen gehe, und gehe, und gehe ... Das war nämlich so. Ich werde einfach nach der Reihenfolge erzählen. Nach der Reihenfolge! Ich bin kein Literat, und Sie werden das ja selbst sehn. Einerlei: Aber erzählen werde ich es doch so, wie ich es verstehe. Ach, darin, gerade darin liegt ja mein ganzes Entsetzen, daß ich alles verstehe!

Das war, wenn Sie wissen wollen, – das heißt, wenn ich ganz von Anfang beginnen soll: ... sie kam damals ganz einfach zu mir ihre Sachen versetzen, um in der „Stimme“ annoncieren zu können, nun, daß, so und so, eine Gouvernante eine Stelle sucht, meinetwegen sogar auf dem Lande, sonst aber auch außer dem Hause Stunden geben würde, usw., usw. Das war ganz zu Anfang und sie fiel mir natürlich nicht weiter auf: sie kam, wie alle anderen gleichfalls kamen, – und das war alles. Dann aber fiel sie mir doch einmal auf: sie war solch ein schlankes, schmales Persönchen, von mittlerer Größe, mit blondem Haar, und im Verkehr mit mir immer so unbeholfen, so zurückhaltend, als ob sie in meiner Gegenwart geniert gewesen wäre. (Ich glaube, sie ist allen Fremden gegenüber ebenso gewesen, und ich war ihr natürlich genau so gleichgültig, wie dieser oder jener, versteht sich, nicht als Pfandleiher, sondern als Mensch genommen.) So wie sie das Geld bekommen hatte, drehte sie sich sofort um und ging. Und dabei immer ohne ein Wort zu sagen. Andere bitten noch, wollen mehr haben; sie aber nicht, nahm, was man ihr gab ... Ich glaube, meine Gedanken verwirren sich fortwährend ... Ja: zuerst wunderten mich ihre Sachen; kleine silbervergoldete Ohrringe, ein armseliges altes Medaillon, – Sachen zu zwanzig Kopeken. Sie wußte es auch selbst, daß sie für mich keinen Wert hatten, doch konnte man es an ihren Augen sehn, wie wertvoll ihr diese Dinger trotzdem waren, – und wirklich, hab’s später erfahren: das war alles, was sie noch von den Eltern besaß. Nur einmal erlaubte ich mir, über ihre Sachen zu lächeln. Das heißt, sehen Sie mal, ich erlaube mir so etwas nie, ich gehe mit dem Publikum stets taktvoll um: wenig Worte, höflich und streng. „Streng, streng und streng“ – erste Regel. Als sie es aber einmal wirklich für möglich hielt, mir die Überbleibsel – ja, buchstäblich – die Überbleibsel einer alten Hasenfelljacke zu bringen, nun, da konnte ich mich nicht beherrschen und sagte ihr plötzlich irgend etwas, ... so was wie eine Bemerkung. Herrgott, wie sie zusammenfuhr und rot wurde! Sie hat blaue Augen, große, nachdenkliche, – wie die aufblitzten! Aber sie sagte kein Wort, nahm ihre „Überbleibsel“ und – ging. Da war es denn, daß ich sie zum ersten Mal besonders bemerkte und etwas in der Art von ihr dachte, wollte sagen, gerade so etwas in gewissem Sinne ... Ja: ich erinnere mich noch eines Eindrucks, wenn Sie wollen, des Haupteindrucks, – der Synthese des Ganzen: daß sie furchtbar jung war, so jung, daß man sie für vierzehnjährig halten konnte, während sie damals doch schon fünfzehn Jahre und neun Monate alt war ... Übrigens, nicht das wollte ich sagen, nicht darin lag die Synthese. Am nächsten Tage kam sie wieder. Später erfuhr ich, daß sie auch bei Dobronrawoff und bei Moser mit diesen Überbleibseln ihrer Hasenfelljacke gewesen war, die aber nehmen außer Gold überhaupt nichts – haben sie nicht mal zu Wort kommen lassen. Ich aber hatte von ihr einmal eine Gemme angenommen – solch ein billiges Ding – und als ich damals, nachdem es schon geschehen war, nachdachte, wunderte ich mich noch selbst darüber: ich nehme ja außer Gold und Silber auch nichts an, von ihr aber hatte ich diese Gemme angenommen! Das – ich weiß es noch genau – war der zweite Gedanke, den ich über sie hatte.

Das nächste Mal, also nach Moser, brachte sie eine Bernsteinzigarrenspitze, – kein übles Dingelchen, so ’n Liebhabergegenstand, für mich aber wertlos, denn „wir nehmen ja nur Gold“, wie gesagt. Es war gleich am zweiten Tag nach jener kleinen Szene, von der ich gesprochen. Ich empfing sie deshalb mit strenger Miene. Meine Strenge ist – Trockenheit. Doch als ich ihr die zwei Rubel dafür gab, konnte ich mich nicht enthalten, ihr, gewissermaßen als ob ich gereizt wäre, zu sagen: „Ich tue es ja nur für Sie, Moser würde so etwas niemals annehmen.“ Die Worte: „für Sie“ betonte ich besonders und gerade so in gewissem Sinne. War wütend. Sie flammte wieder auf, als sie dieses „für Sie“ hörte, schwieg aber, warf das Geld nicht zurück, nahm’s ... Ja, ja –: die Armut! Wie sie aber rot wurde! Ich begriff, daß ich sie verletzt hatte. Als sie fort war, fragte ich mich: also ist Dir dieser Triumph über das kleine Ding wirklich zwei Rubel wert? He – he – he! Ich weiß: noch zweimal stellte ich mir diese Frage: „Ist er’s wert? Ist er’s?“ Und lachend bejahte ich sie. Wurde damals schon gar zu heiter. Aber das war kein schlechtes Gefühl: ich tat’s doch mit Absicht, mit Absicht! Ich wollte sie prüfen, denn mir waren plötzlich in Bezug auf sie einige Gedanken gekommen. Das war mein dritter besonderer Gedanke über sie.

... Nun, und seit der Zeit hat denn alles angefangen. Versteht sich: ich bemühte mich sofort, auf Umwegen Näheres über sie zu erfahren und erwartete ihr Kommen mit ganz besonderer Ungeduld. Ich ahnte es ja, daß sie bald kommen würde. Als sie kam, knüpfte ich ein liebenswürdiges Gespräch mit ihr an, natürlich ungemein höflich. Bin doch gut erzogen, habe gute Manieren ... Hm! – Da erriet ich denn, daß sie gut und sanftmütig war. Gute und sanftmütige Menschen widersetzen sich nicht lange, und wenn sie auch nicht gleich sehr mitteilsam sind, so verstehen sie es doch nicht, dem Gespräch auszuweichen: sie antworten kurz, aber sie antworten und je weiter, desto mehr, man muß nur selbst nicht müde werden, wenn einem etwas an dem Gespräch gelegen ist. Natürlich hat sie mir damals nichts gesagt. Auch das von den Annoncen in der „Stimme“ und alles übrige erfuhr ich erst später. Sie annoncierte damals noch für ihre letzten Kopeken, zuerst selbstverständlich ganz stolz: „Gouvernante sucht Stelle – auch auf dem Lande – Bedingungen in geschlossenem Brief erbeten –“ etc., etc., dann aber: „– zu allem bereit – zu unterrichten – als Gesellschaftsdame – nach dem Haushalt zu sehn – oder Kranke zu pflegen – verstehe auch zu nähen ...“ und wie man das so gewöhnlich annonciert, wir kennen’s ja! Alles das wurde natürlich immer in verschiedener Form publiziert, zum Schluß aber, als die Verzweiflung kam, da sogar: „ohne Gehalt, für Beköstigung“. Nein, sie fand keine Stelle! Da beschloß ich, sie noch einmal zu prüfen: plötzlich nehme ich die letzte Nummer der „Stimme“ und zeige ihr eine Annonce: „Eine junge Person, Ganzwaise, sucht Gouvernantenstelle bei kleinen Kindern, vorzugsweise bei älterem Witwer. Kann im Haushalt helfen“.

„Sehen Sie,“ sagte ich, „die hat heute morgen annonciert und zum Abend wird sie sicher eine Stelle gefunden haben. Sehen Sie, so muß man annoncieren!“

Wieder wurde sie feuerrot und wieder blitzten ihre Augen auf; sie kehrte sich sofort um und ging. Das gefiel mir sehr. Übrigens war ich damals schon sicher und fürchtete nichts mehr: Zigarrenspitzen wird niemand annehmen. Sie aber besaß selbst die nicht mehr. So war es denn auch: am dritten Tage kam sie wieder, ganz bleich und aufgeregt, – ich begriff sofort, daß es bei ihr zu Hause zu irgend etwas Schlimmem gekommen sein mußte, und so verhielt es sich auch in der Tat. Ich werde später erzählen, wozu es gekommen war, jetzt aber will ich mich erst erinnern, wie ich ihr damals mit einem Mal imponierte, in ihren Augen wuchs; und zwar hatte ich mir das ganz plötzlich so vorgenommen ... Richtig, so war’s: sie brachte dieses Heiligenbild – hatte sich entschlossen, es zu bringen ... – Ja, richtig! jetzt, jetzt fällt mir alles ein, warten Sie, warten Sie, vorhin war ich ja noch ganz verwirrt ... Jetzt aber will ich mich all dessen entsinnen, jeder kleinen Einzelheit, jedes Strichelchens. Ich will die ganze Zeit meine Gedanken auf einen einzigen Punkt konzentrieren. Doch noch immer gelingt es mir nicht; und werde ich es überhaupt können? Doch diese Strichelchen, Strichelchen ...

Das Bild der Muttergottes. Die Jungfrau mit dem Kinde, ein Familienheiligenbild, ein altes, die Verzierung aus vergoldetem Silber; wert – nun, sechs Rubel wert. Ich sehe, lieb hat sie das Heiligenbild, versetzt es ganz, – ohne die silberne Bekleidung abzunehmen. Ich sage ihr: besser, man nimmt das Silber ab, dann können Sie das Bild wieder mitnehmen; denn sonst ein Heiligenbild zu versetzen, das ist doch immerhin ...

„Dürfen Sie es nicht nehmen? Ist es Ihnen denn verboten?“

„Nein, nicht daß es verboten wäre, ich meinte nur, daß es vielleicht Ihnen selbst ...“

„Nun gut, nehmen Sie es ab.“

„Wissen Sie was, ich werde es lieber nicht abnehmen; ich werde es dort in meinen Heiligenschrank stellen,“ sagte ich, nachdem ich etwas nachgedacht hatte, „zu den anderen Heiligenbildern, unter das Lämpchen“ (seitdem ich mein Pfandgeschäft eröffnet hatte, brannte das Lämpchen bei mir Tag und Nacht) „und nehmen Sie einfach zehn Rubel.“

„Zehn brauche ich nicht, geben Sie mir fünf, ich werde es unbedingt auslösen.“

„Sie wollen nicht zehn? So viel ist es wert,“ fügte ich noch hinzu, da ich bemerkte, daß ihre Augen wieder dunkler wurden.

Sie schwieg darauf. Ich brachte ihr fünf Rubel.

„Verachten Sie niemanden ... ich bin selbst in Verlegenheit gewesen, ja, in noch schlimmerer, und wenn Sie mich jetzt bei dieser Beschäftigung sehen, ... so ist das doch, nach allem, was ich ertragen habe ...“

„Sie wollen sich an der Gesellschaft rächen? Ja?“ unterbrach sie mich plötzlich mit ziemlich bitterem Spott, in dem aber viel Unbeabsichtigtes lag (das heißt, Unpersönliches, denn damals unterschied sie mich bestimmt noch nicht von den anderen, so daß sie es fast unverletzend sagte.)

„Aha!“ dachte ich, „also so bist Du! Der Charakter tut sich kund, hm, gehört zur neuen Richtung.“

„Sehen Sie,“ bemerkte ich sofort halb scherzend, halb geheimnisvoll: „Ich – ‚ich bin ein Teil jenes Teiles des Ganzen, der stets das Böse will, doch stets das Gute schafft‘ ...“

Sie blickte schnell und mit großem Interesse zu mir auf – viel kindliches lag darin.

„Warten Sie ... Was ist das für ein Gedanke? Woher ist dieser Ausspruch? Ich habe ihn irgendwo gehört ...“

„Oh, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber; mit diesen Worten empfiehlt sich Mephistopheles dem Faust. Haben Sie den Faust gelesen?“

„N – nicht aufmerksam ...“

„Das heißt wohl so viel, daß Sie ihn überhaupt nicht gelesen haben. Das müssen Sie aber tun. Doch übrigens bemerke ich, daß Sie wieder spöttisch zu lächeln belieben. Bitte glauben Sie nicht, ich wäre so geschmacklos, meine Rolle als Pfandleiher durch die Rekommandation Mephistos verschönen zu wollen. Ein Pfandleiher bleibt Pfandleiher – wissen wir.“

„Wie, wie sonderbar Sie sind! ... Ich habe Ihnen durchaus nicht so etwas sagen wollen ...“

Sie hatte sagen wollen: „Ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein gebildeter Mensch sind,“ aber sie sagte es nicht; dafür jedoch wußte ich, daß sie es gedacht hatte; jedenfalls gefiel ihr meine Bemerkung sehr.

„Sehen Sie,“ sagte ich, „auf jedem Gebiet kann man Gutes tun. Ich rede natürlich nicht von mir: ich tue, sagen wir, außer Bösem überhaupt nichts, doch ...“

„Natürlich, selbstverständlich kann man überall Gutes tun,“ unterbrach sie mich eilig, und sah mich dabei so aufrichtig an. „Gerade auf jedem Gebiet,“ fügte sie plötzlich noch hinzu.

Oh, ich weiß noch, ich erinnere mich noch deutlich dieser Augenblicke! Wenn diese Jugend, diese liebe Jugend irgend etwas so Kluges und Durchdachtes sagen will, dann kann man es auf ihrem naiven, aufrichtigen Gesicht förmlich lesen, was sie dabei denkt –: „siehst Du, jetzt sage ich Dir etwas Kluges, Durchdachtes!“ – Und nicht, daß sie es etwa aus Ruhmsucht täte, wie zum Beispiel unsereiner! Man sieht es ja, daß diese Jugend es selbst furchtbar hochschätzt, und daran glaubt, und es achtet, und daß sie denkt, man achte es gleichfalls ganz so, wie sie. Oh Aufrichtigkeit! Das ist’s ja, womit diese Jugend besiegt! Und wie war das doch so schön an der Kleinen!

... Ich weiß noch, hab nichts vergessen! Als sie hinausgegangen war, faßte ich mit einem Mal meinen Entschluß. Am selben Tage noch ging ich aus, um das Letzte über sie, ihre Umgebung und ihre Verhältnisse zu erfahren; das Meiste wußte ich bereits durch Lukerja, ihre Küchenmagd, die ich schon vor ein paar Tagen bestochen hatte. Was ich erfuhr, war so schrecklich, daß ich nicht begriff, wie man noch, wie sie vorhin, lachen und sich für Mephistos Worte interessieren konnte, – wenn man selbst unter solch einem Entsetzen lebte! Aber – das ist eben die Jugend! Gerade dieses dachte ich damals stolz und freudig über sie, denn hierbei war doch auch Hochherzigkeit: selbst steht sie am Rande des Verderbens, doch nichtsdestoweniger werden die großen Worte Goethes verehrt. Die Jugend ist immer hochherzig, – wenn auch nur ein kleines wenig, und wenn auch in falscher Richtung. Das heißt, ich spreche ja nur von ihr, von ihr allein. Und vor allen Dingen, damals betrachtete ich sie schon als die Meine, und zweifelte nicht mehr an meiner Macht über sie ... Wissen Sie, wunder-wunderbar ist dieser Gedanke, wenn man schon nicht mehr zweifelt ...

Doch was ist mit mir! Wenn ich so fortfahre, wann werde ich dann alles in einen Punkt zusammenfassen? Schneller, – kurz und gut, – ach, es handelt sich ja nicht darum! – oh Gott!

II. Der Heiratsantrag.

Alles, was ich über sie erfuhr, ist kurz folgendes: ihre Eltern waren schon tot, vor drei Jahren gestorben und sie war bei – hm! – bei unordentlichen Tanten zurückgeblieben. Es ist eigentlich zu milde, sie bloß unordentlich zu nennen. Die eine von ihnen war Witwe, die andere eine scheußliche alte Jungfer. Ihr Vater war ein kleiner Beamter gewesen. Mit einem Wort: alles war günstig für mich. Ich kam wie aus einer höheren Welt: immerhin war ich Hauptmann eines glänzenden Regiments, wenn auch außer Diensten, war Edelmann, unabhängig u. s. w., und was meine Pfandkasse anbetrifft, nun, so konnten die Tanten vor ihr nur Respekt haben. Bei den Tanten war sie drei Jahre lang in der Sklaverei gewesen; trotzdem aber hatte sie irgendwo das Examen bestanden, hatte es fertig gebracht, das Examen zu bestehn, sich die Zeit dazu abgespart von ihrer täglichen unbarmherzigen Arbeit; – das aber hatte doch etwas zu bedeuten, solch ein Streben nach dem Höheren und Edleren! Warum wollte ich sie denn heiraten? Ach, übrigens, zum Teufel mit mir, davon später ... Und handelt es sich denn darum! – Die Kinder der Tante mußte sie unterrichten, Wäsche nähen und zum Schluß sogar (sie mit ihrer schmalen Brust!) die Dielen scheuern!! Und zum Lohn dafür haben sie ihr noch ihr tägliches Stück Brot vorgehalten und zu guter Letzt ihr sogar Schläge verabreicht. Es endete damit, daß sie sie einfach zu verkaufen beschlossen. Pfui Teufel! Den Schmutz der Einzelheiten übergehe ich lieber ... Später hat sie mir alles ausführlich erzählt.

Alles dieses beobachtete ein ganzes Jahr lang ihr Nachbar, ein dicker Kaufmann, und zwar kein gewöhnlicher, sondern einer, der zwei Kolonialwarenhandlungen besaß. Er hatte schon zwei Frauen unter die Erde gebracht und suchte nun die dritte: und da war denn seine Wahl auf sie gefallen. Hm –: „Sie ist still und sanft, in Armut aufgewachsen, ich aber heirate nur, um meinen verwaisten Kindern eine Mutter zu geben“ – und ähnliche schöne Worte – kennt man ... Er hatte tatsächlich Kinder von den beiden ersten, zu Tode gequälten Frauen. Da bewarb er sich denn um sie, hatte schon mit den Tanten gesprochen. Er war dabei fünfzig Jahre alt. Sie in Angst, entsetzt! Und eben in dieser Zeit war es denn, daß sie so oft zu mir kam, um in der „Stimme“ annoncieren zu können. Endlich bat sie die Tanten, man möge ihr doch noch ein wenig, ein kleines wenig Zeit zum Nachdenken geben. Nun, die gab man ihr denn schließlich, aber nur ein wenig, ließ ihr keine Ruh –: „Wissen auch ohne Deinen überflüssigen Mund nicht, was wir selber beißen sollen.“ Das alles wußte ich bereits, und so entschloß ich mich denn, wie gesagt, zu handeln. Das war an jenem Tage nach dem Gespräch am Vormittag. An jenem Abend war gerade der Kaufmann gekommen und hatte aus seinem Geschäft ein Pfund Konfekt – zu 50 Kopeken – mitgebracht. Sie saß mit ihm im Gastzimmer, ich aber rief Lukerja aus der Küche und sagte ihr, sie solle zu ihr gehn und ihr heimlich zuflüstern, daß ich an der Hoftür sei und ihr etwas sehr Wichtiges zu sagen wünschte. Ich war zufrieden mit mir. Überhaupt war ich an jenem ganzen Tage ungemein zufrieden.

Und dort an der Hoftür erklärte ich ihr – die allein schon deswegen verwundert war, daß ich, ein ihr ganz fremder Mensch, sie plötzlich hatte rufen lassen – in Lukerjas Gegenwart, daß ich mich glücklich schätzen würde und es mir als Ehre anrechnete, sie zu heiraten ... Zweitens: sie solle sich nicht über mein Auftreten wundern, und daß ich an der Hoftür, u. s. w. Hm, –: „bin ein aufrichtiger Mensch, trage den Umständen Rechnung ...“ Und ich log nicht, als ich sagte, daß ich aufrichtig bin. Nun, – zum Teufel damit! Sprach ich doch nicht nur wie es sich gehört, wie ein wohlerzogener Mensch, sondern auch „originell“; das aber ist ja die Hauptsache. Wie? – ist’s denn etwa Sünde, das zu bekennen? Ich will mein eigener Richter sein; ich muß also pro und contra reden, und so tu ich’s denn. Auch später habe ich mich dessen immer mit Genugtuung erinnert, wenn’s auch dumm ist. Ich erklärte ihr damals unumwunden, ohne jede Verwirrung, daß ich, erstens, nicht besonders talentiert, nicht besonders klug, vielleicht sogar nicht mal besonders gut, ein ziemlich billiger Egoist sei (hab noch den Ausdruck behalten, hatte ihn mir auf dem Wege dahin ausgedacht und war mit ihm zufrieden), und es sehr, sehr leicht möglich sein könne, daß ich auch in anderen Beziehungen sehr viel Unangenehmes habe. Das war alles mit einer bestimmten Art von Stolz gesagt, – wir wissen ja, wie so etwas gesagt wird. Selbstverständlich war ich nicht so geschmacklos, daß ich, nachdem ich edelmütig meine Fehler aufgezählt hatte, nun auch anfing, meine guten Seiten hervorzuheben, wie etwa: „dafür aber bin ich so und so und so.“ Ich bemerkte sehr wohl, daß sie noch furchtbar bange war, ließ mich aber doch nicht rühren; ja, umgekehrt, ich verschlimmerte noch absichtlich: sagte ihr gerade heraus, daß sie immer satt zu essen haben würde, aber Theater, Bälle, Toiletten – „davon gibt’s nichts, – vielleicht später einmal, wenn ich mein Ziel erreicht habe.“ Dieser strenge Ton bezauberte mich. Ich fügte noch hinzu, gleichfalls so nebensächlich als möglich, daß ich, wenn ich auch solch eine Beschäftigung gewählt hätte, es eben nur mit einem besonderen Ziel getan, hm, – so aus einem ganz besonderen Grunde ... Glauben Sie mir, ich habe doch selbst mein Leben lang diese Pfandkasse gehaßt, aber in Wirklichkeit, – wenn’s auch lächerlich ist, sich selbst geheimnisvolle Phrasen zu sagen, aber – „ich wollte mich doch an der Gesellschaft rächen!“ Ja ja, – wirklich, wirklich, wirklich! So daß ihre spitze Bemerkung am Vormittag darüber, daß ich mich „rächte“, doch nicht so falsch gewesen war. Das heißt, sehen Sie mal: würde ich ihr einfach gesagt haben: „Ja, ich räche mich an der Gesellschaft,“ so hätte sie mich ausgelacht, so wie vorhin am Morgen, und es wäre auch wirklich lächerlich gewesen. Nun aber, mit einer indirekten Anspielung, so mit einer geheimnisvollen Phrase, – damit konnte man, wie es sich erwies, leicht die Einbildungskraft bestechen. Zudem fürchtete ich damals ja schon nichts mehr: ich wußte doch, daß ihr der dicke Kaufmann jedenfalls widriger war, als ich, und daß ich, als ich an der Hoftür stand, wie ein Befreier erschien. Das begriff ich doch. Oh, die Gemeinheit begreift der Mensch vorzüglich! Aber – war’s denn wirklich Gemeinheit? Wie soll man nun den Menschen richten? Liebte ich sie denn etwa nicht schon damals?

... Warten Sie: von Wohltat sagte ich ihr damals natürlich kein Wort; im Gegenteil, oh, ganz im Gegenteil: „ich bin’s, dem Wohltat erwiesen wird, aber nicht Sie.“ So daß ich es sogar in Worten aussprach, konnte mich nicht bezwingen und es kam vielleicht dumm heraus, denn ich bemerkte ein flüchtiges Lächeln auf ihren Lippen. Doch so im Ganzen gewann ich zweifellos. Warten Sie ... wenn man sich schon einmal diese ganze Schändlichkeit ins Gedächtnis zurückruft, so will ich mich auch noch der letzten Schändlichkeit erinnern: ... als ich so vor ihr stand ... schlich sich plötzlich ganz leise durch meine Gedanken: „Du bist wohlgestaltet, schlank, gut erzogen und schließlich, ganz ohne Prahlerei gesagt, bist nicht häßlich.“ Das war’s, das war’s, was in jenem Augenblick in meinem Hirn spielte! Selbstverständlich sagte sie mir noch dort unten an der Hoftür „ja“. Aber ... aber ich muß hinzufügen: dort an der Hoftür dachte sie noch lange nach, bevor sie „ja“ sagte. So tief, so tief dachte sie nach, daß ich schon beinahe fragen wollte: „nun, wie?“ – ja, ich tat’s ja auch, konnt’s nicht zurückbehalten. „Nun, wie denn?“ fragte ich, ja ja, gerade mit „denn“, ich weiß es noch ganz genau!

... Warten Sie, ich werde nachdenken ...

... Und solch ein ernstes Gesichtchen machte sie, solch ein ... – daß ich schon damals hätte begreifen können! Ich aber fühlte mich gekränkt. „Sollte sie wirklich,“ dachte ich, „noch zwischen mir und dem Krämer wählen?“ Oh, damals begriff ich noch nichts! Nichts, nichts begriff ich damals! Bis auf den heutigen Tag habe ich nichts begriffen! Ich weiß noch: Lukerja kam mir nachgelaufen, hielt mich mitten auf der Straße auf und sagte atemlos: „Gott wird’s Ihnen lohnen, Herr, daß Sie unser liebes Fräuleinchen nehmen! Nur sagen Sie ihr das ja nicht, sie ist so stolz ...“

Nun, – stolz! Liebe selbst, dachte ich, die Kleinen, Stolzen. Die Stolzen sind ganz besonders schön, wenn ... nun, wenn man an seiner Macht über sie nicht mehr zweifelt, – wie? Oh niedriger, ungeschickter Mensch! Wie war ich zufrieden! Wissen Sie, als sie damals an der Hoftür stand und nachdachte, ob sie „ja“ sagen sollte oder nicht, und ich mich über dieses Bedenken wunderte, – wissen Sie auch, daß sie damals sogar solch einen Gedanken hätte haben können, wie: „Wenn schon einmal Unglück, hier wie dort, sollte es da nicht besser sein, das größere Unglück zu wählen, also den dicken Kaufmann? Mag der mich schneller in der Trunkenheit totprügeln!“ – Wie? Was meinen Sie, hätte sie solch einen Gedanken haben können?

Doch auch jetzt verstehe ich nicht ... selbst jetzt verstehe ich nichts! Soeben habe ich gesagt, daß sie diesen Gedanken hätte haben können: das größere Unglück zu wählen, das wäre – etwa der dicke Kaufmann –? Wer aber war ihr damals widerlicher: – ich oder der Kaufmann? Der Kaufmann oder der Goethe zitierende Pfandleiher? Das ist noch eine Frage! ... Was für eine Frage? Und das verstehst Du nicht? – Die Antwort ist doch sonnenklar, Du aber sagst, es sei noch eine Frage! Ach, zum Teufel mit mir! Nicht um mich handelt es sich jetzt ... Doch, bei der Gelegenheit: was ist denn jetzt für mich wichtig: – handelt es sich nun um mich oder nicht? Ach, diese Frage, die kann ich überhaupt nicht beantworten ... Besser, ich lege mich schlafen. Mein Kopf tut mir weh.

III. Bin der edelste Mensch, glaub’s jedoch selbst nicht.

Kann nicht schlafen. Wie soll ich denn: die ganze Zeit über tuckt mir irgend ein Puls im Kopf. Ich will alles erfassen, die ganze Schändlichkeit. Oh, aus welch einem Schmutz ich sie damals herauszog! Das mußte sie doch begreifen und meine ganze Handlung schätzen! ... Auch gefielen mir verschiedene Gedanken, wie zum Beispiel, daß ich einundvierzig war, sie aber erst sechzehn. Es bezauberte mich geradezu, dieses Gefühl der Ungleichheit ... süß ist’s, so süß ist es ...

Ich wollte, zum Beispiel, daß die Trauung à l’anglaise sei, mit höchstens zwei Zeugen, Lukerja und noch irgend jemand, und dann direkt in den Waggon und so auf zwei Wochen nach Moskau in ein Hôtel (ich hatte dort gerade Geschäftliches zu erledigen). Sie aber widersetzte sich dem und ich war gezwungen, zu den Tanten zu fahren, um ihnen, als Anverwandten, von denen ich sie erhielt, meine Aufwartung zu machen. Schön, ich gab nach und den Tanten wurde die nötige Ehrerbietung erwiesen, so wie sich’s gehört. Ich gab diesen Kreaturen sogar zweihundert Rubel, jeder von ihnen hundert, und versprach noch mehr zu geben; versteht sich, ohne ihr etwas davon zu sagen, um sie nicht durch die Niedrigkeit ihrer Umgebung zu kränken. Die Tanten wurden natürlich sofort zuckersüß. Auch gab es Streit wegen der Aussteuer: sie hatte nichts, fast buchstäblich nichts, aber sie wollte auch nichts. Einstweilen jedoch gelang es mir, ihr klar zu machen, daß es ganz ohne Sachen nicht ginge, und so kaufte ich also die Aussteuer, denn wer hätte es sonst für sie tun sollen? Nun, ach zum Teufel mit mir ... Immerhin fand ich noch Zeit, ihr einige meiner Gedanken auseinanderzusetzen, damit sie sie wenigstens kennen lernte. Ich beeilte mich sogar mit dem Auseinandersetzen. Das Wichtigste aber war, daß sie mir schon gleich zu Anfang, wie sehr sie sich auch zu bezwingen suchte, ihre ganze Liebe entgegenbrachte. Wenn ich des Abends angefahren kam, empfing sie mich immer ganz begeistert, erzählte mir dann in ihrer kindlich-stammelnden Weise – wie reizend war das an ihr! – ihre ganze erste Jugend, erzählte von ihrem Elternhause, vom Vater und von der Mutter. Ich aber begoß diese ganze Verzückung sofort mit kaltem Wasser. Gerade darin lag ja mein ganzer Plan. Auf diese Ekstasen antwortete ich mit Schweigen, mit wohlwollendem, natürlich, ... aber sie begriff doch bald, daß wir verschiedene Menschen waren und ich – ein Rätsel. Das aber wollte ich doch gerade, das bezweckte ich ja nur – ein Rätsel scheinen! Um ihr dieses Rätsel zu raten zu geben, – hatte ich ja vielleicht die ganze Dummheit ausgedacht! Erstens: Strenge, – damit führte ich sie auch in mein Haus. Kurz, damals dachte ich mir ein ganzes System aus. Oh, das ergab sich eigentlich ohne jede Anstrengung ganz von selbst. Und es war doch anders gar nicht möglich, ich mußte doch dieses System schaffen, – gezwungen durch eine unabweisbare Tatsache ... Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich da immer noch selbst beschuldige! Ein wirklich erlebtes System war’s. Nein, hören Sie mal, wenn man schon einmal einen Menschen beurteilt, so muß man es nur mit Kenntnis aller Umstände tun ... Hören Sie:

... Wie soll man da eigentlich beginnen? ... Das ist nicht so leicht zu erzählen. Sobald man anfängt sich zu rechtfertigen – wird es sofort schwer. Sehen Sie: Die Jugend verachtet z. B. – das Geld. Ich aber legte sofort Gewicht auf das Geld, betonte es fortwährend, so daß sie immer mehr und mehr verstummte. Sie machte große, verwunderte Augen, hörte, sah und – verstummte ... Sehen Sie mal: Die Jugend ist hochherzig, d. h. gute Jugend, hochherzig, aber heftig: hat wenig Duldsamkeit. Ist etwas auch nur ein wenig anders, so wird es sofort verachtet. Ich aber wollte ihr das „Alles-verstehen“ direkt ins Herz einimpfen, direkt in die Auffassung ihres Herzens, – nicht wahr? Nehmen wir nun ein triviales Beispiel: wie hätte ich diesem Charakter, sagen wir, meinen freiwillig erwählten Beruf erklären sollen? Ich fing natürlich nicht direkt an, davon zu sprechen; sonst hätte es ja geschienen, daß ich seinetwegen um Verzeihung bäte, ich aber handelte stolz, sprach durch Schweigen. Oh, darin bin ich Meister! Habe mein ganzes Leben lang schweigend gesprochen, habe mit mir selbst ganze Tragödien schweigend durchlebt. Oh, auch ich war doch unglücklich! Ich war von allen verstoßen, verstoßen und vergessen, und keiner, kein einziger wußte das! Und plötzlich schnappte diese Sechzehnjährige von gemeinen Menschen Klatschgeschichten über mein Leben auf und glaubte, daß sie bereits alles wisse, während doch das Kostbare, der Schatz, einzig in der Brust dieses Menschen selbst verschlossen blieb! Ich schwieg die ganze Zeit über und besonders, besonders wenn ich mit ihr zusammen war, schwieg ich – bis auf den gestrigen Tag! – Warum ich schwieg? Weil ich eben ein stolzer Mensch war. Ich wollte, daß sie das selbst begriff, ohne mein Dazutun, aber nicht aus den Erzählungen gemeiner Klatschbasen, sondern daß sie diesen Menschen selbst erriet und ihn begriff! Als ich sie in mein Haus nahm, verlangte ich von ihr volle Achtung meiner Person gegenüber. Ich wollte, daß sie mich für meine Leiden anbetete – und ich war’s wert. Oh, ich bin immer stolz gewesen, ich habe immer entweder alles – oder nichts gewollt! Und gerade, weil ich kein armseliges Stückchen Glück, sondern ein ganzes, großes haben wollte – gerade deswegen war ich gezwungen, so zu handeln. – „Errate selbst und werte dann!“ Denn, nicht wahr, Sie müssen mir doch zugeben, wenn ich selbst angefangen hätte, ihr zu erklären und vorzusagen, Finten zu machen und Achtung zu erflehen, – dann wär’s doch gleichbedeutend gewesen, mit – Almosen erbetteln ... Übrigens ... übrigens – wozu rede ich davon!

Dumm, dumm, dumm und nochmals dumm! Ich erklärte ihr damals in zwei Worten, ohne Umschweife, unbarmherzig (ich betone es, daß es unbarmherzig war), daß die Hochherzigkeit der Jugend an sich ja wunderschön, aber – keine Kopeke wert sei. Warum nicht? – Weil sie ihr billig zufällt, weil sie ihr zu Teil wird, noch bevor sie gelebt hat; alles das sind, wie man zu sagen pflegt, „die ersten Eindrücke des Seins“. Wollen wir aber mal erst abwarten, wie Ihr Euch in der Not bewährt! Billige Hochherzigkeit ist immer leicht, billige Großmut immer flach; sogar das Leben fortzugeben – auch das ist dann billig, denn da kocht nur das junge Blut und schäumen die Kräfte des Überflusses. Schönheit, Schönheit verlangt man leidenschaftlich! Nein, nehmt eine andere Heldentat der Hochherzigkeit, die schwere, stille, unhörbare, ohne Glanz, die, die viele, viele Opfer verlangt und keinen Tropfen Ruhm einbringt, – wohl aber bittere Verleumdung; – wo der wertvollste Mensch von der ganzen Welt als Schurke hingestellt wird, während er doch ehrlicher ist, als alle Ehrenmänner der Welt zusammengenommen. – Nun, versucht mal solch eine Heldentat zu vollbringen! – Nein, dafür werdet Ihr danken! ... Ich aber, – ich aber habe mein ganzes Leben lang nichts anderes getan, wie diese Heldentat – getragen.

Zuerst widersprach sie; ach Gott, wie sie mit mir stritt! Dann aber verstummte sie allmählich, zuletzt sogar ganz. Nur die Augen öffnete sie furchtsam weit, wenn sie mir zuhörte: so groß, groß waren diese Augen, so aufmerksam. Und ... und plötzlich bemerkte ich ein Lächeln, ein mißtrauisches, schweigsames, kein gutes ... Und mit diesem, mit diesem selben Lächeln war’s, daß ich sie in mein Haus führte. Allerdings, sie hatte sonst niemanden, zu dem sie hätte gehen können ...

IV. Lauter Pläne und Pläne.

Wer von uns fing damals zuerst an?

Keiner. Es fing von selbst an, vom ersten Schritt. Ich habe gesagt, daß ich sie unter Strenge ins Haus führte, einstweilen aber milderte ich die doch schon am ersten Tage. Noch vor der Trauung hatte ich ihr gesagt, daß sie die Pfänder in Empfang nehmen und das Geld herausgeben würde – und sie hatte damals nicht widersprochen (bitte das nicht zu vergessen). Ja, sie machte sich sogar mit Eifer an die Sache. Nun, versteht sich, die Wohnung, die Einrichtung, – alles blieb so, wie es war. Zwei Zimmer, – das eine, ein großes – das Wohnzimmer, in dem für die Kasse eine Hälfte abgeteilt ist, das andere, gleichfalls groß, unser Schlafzimmer. Meine Möbel sind ärmlich, sogar die Tanten hatten bessere. Mein Heiligenschrank mit dem Lämpchen hängt im ersten Zimmer, dort wo die Kasse ist; bei mir aber, in meinem Zimmer, steht mein Schrank, in dem auch einige Bücher liegen, und mein Koffer; die Schlüssel trage ich bei mir. Nun und dann natürlich noch das Bett, Tische, Stühle. Bereits vor der Trauung hatte ich ihr gesagt, daß zu unserem Unterhalt, d. h. zur Beköstigung für mich, für sie und Lukerja, die ich zu uns genommen hatte, täglich ein Rubel und nicht mehr verausgabt werden würde –: „Muß in drei Jahren dreißig Tausend haben, anders aber kommt man nicht zu Geld.“ Sie widersprach nicht, aber ich legte selbst noch dreißig Kopeken hinzu. Desgleichen Theater. Ich hatte ihr gesagt, daß wir nicht ins Theater gehen würden, beschloß aber dann doch einmal im Monat mit ihr ins Theater zu gehn, und anständig – Parkett. Wir gingen zusammen, waren zweimal, sahen, glaub ich, „Die Jagd nach dem Glück“ und „Singvögel“ – oh, zum Teufel, zum Teufel damit! – Schweigend gingen wir hin und schweigend kamen wir nach Haus. Warum, warum wir uns von Anfang an vorgenommen hatten zu schweigen? Zuerst gab es doch noch keine Streitigkeiten zwischen uns – nur Schweigen. Ich weiß noch, damals sah sie mich immer heimlich an; ich aber, als ich das bemerkte, da schwieg ich erst recht. ’S ist allerdings wahr: ich war es, der auf dem Schweigen beharrte, nicht sie. Ihrerseits gab’s sogar ein- oder zweimal leidenschaftliche Ausbrüche: stürzte zu mir, umarmte mich. Da aber diese Ausbrüche krankhaft waren, hysterisch, ich jedoch ein starkes Glück brauchte, und als erstes ihre volle Achtung, so blieb ich natürlich kühl. War auch im Recht: jedesmal nach diesen Ausbrüchen gab’s am nächsten Tage Streit.

Das heißt, Streit gabs eigentlich nicht, aber es gab Schweigen und – und immer dreisteres, frecheres Aussehen ihrerseits. „Rebellion und Unabhängigkeit“ – das war’s, nur verstand sie’s nicht. Ja, dieses sanfte Gesicht nahm einen immer vermesseneren Ausdruck an. Glauben Sie es mir, ich wurde ihr einfach zuwider; – ich kenne das, hab’s doch selbst erlebt. Jedenfalls: daß sie zuweilen außer sich geriet, – daran war nicht zu zweifeln. Nun wie, zum Beispiel, nachdem man aus solchem Schmutz, aus solcher Armut herausgekommen ist, wie kann man denn da plötzlich über unsere Armut die Nase rümpfen! Sehen Sie mal: es war keine Armut, aber es war Ökonomie und dort, wo es sich gehörte, sogar Luxus, – in der Wäsche, zum Beispiel, in der Sauberkeit. Ich habe immer gedacht, daß die Sauberkeit der Männer den Frauen angenehm sein muß. Übrigens tat sie’s nicht über die Armut, sondern über meinen, wie sie glaubte, schmutzigen Geiz –: „Behauptet, er verfolge ein Ziel, will Charakter beweisen!“ Für das Theater dankte sie plötzlich selbst. Und immer spöttischer, immer spöttischer wurde der Zug um ihren Mund ... ich aber verstärkte das Schweigen, ich aber verstärkte das Schweigen.

Konnte doch nicht anfangen, mich zu rechtfertigen!? Die Hauptrolle spielte dabei natürlich die Leihkasse. Sehen Sie: ich wußte, daß eine Frau, und noch dazu eine sechzehnjährige, nicht umhin kann, sich dem Manne ganz und gar unterzuordnen. Es ist keine Originalität in den Frauen, das – das ist ein Axiom, sogar jetzt noch, sogar jetzt noch ein Axiom für mich! Was ist’s denn, was dort im Saal auf dem Tische liegt: Wahrheit bleibt Wahrheit, an der kann selbst Mill nichts ändern! Aber die liebende Frau, – oh, die liebende Frau, – die vergöttert selbst die Laster, selbst die Verbrechen des Geliebten. Er wird für seine Verbrechen niemals solche Rechtfertigungen finden können, wie sie sie ihm ausdenken wird. Das ist großmütig, aber nicht originell. Einzig die Unoriginalität hat die Frauen ins Verderben gebracht. Und warum nun, wiederhole ich, zeigen Sie denn dort hin auf den Tisch? Ja, ist denn das etwa Originalität, was dort auf dem Tisch liegt? O – oh!

Hören Sie: von ihrer Liebe war ich damals überzeugt. Warf sie sich doch stürmisch an meinen Hals. Also liebte sie doch, richtiger – wollte sie doch lieben. Ja ja, so war es auch: sie wollte lieben, sie versuchte zu lieben. Aber die Hauptsache lag eben darin, daß ich ja gar nicht solche Verbrechen begangen hatte, für die sie sich hätte Entschuldigungen ausdenken müssen. Sie sagen: „ein Pfandleiher“! – ja, und alle sagen es. Aber was will denn das sagen, – „Pfandleiher“? Also muß es doch Gründe gegeben haben, daß der großmütigste Mensch zum – Pfandleiher geworden ist? Sehen Sie: es gibt Ideen ... das heißt, sehen Sie mal, es gibt manche Ideen, die, wenn man sie ausdrücken, in Worten aussprechen will, furchtbar dumm erscheinen. Wirklich – so dumm, daß man sich schämt. Und woher kommt das? – Einfach so. Weil wir alle Lumpen sind und die Wahrheit nicht ertragen können, oder ... ich weiß wirklich nicht ... Ich sagte vorhin: „der großmütigste Mensch“. Das ist lächerlich. Währenddessen aber war es doch wirklich so. Das ist doch Wahrheit, was ich sage, die allerallerwahrhaftigste Wahrheit! Ja; ich hatte damals das Recht, mich pekuniär sicher stellen zu wollen und dieses Pfandgeschäft zu eröffnen. „Ihr habt mich verstoßen, Ihr (Ihr Menschen natürlich), Ihr habt mich mit verachtendem Schweigen fortgejagt! Auf meinen leidenschaftlichen Drang zu Euch habt Ihr mir mit einer Beleidigung für mein ganzes Leben geantwortet. Somit war ich denn im Recht, als ich mich von Euch trennte, zwischen Euch und mir eine Mauer zog; bin im Recht, wenn ich diese dreißig Tausend Rubel ersparen und irgendwo in der Krim, am Schwarzen Meere zwischen Bergen und Weingärten auf meinem für diese dreißig Tausend gekauften Gute mein Leben beschließen will. Und vor allen Dingen: ich will ohne Groll auf Euch, aber nur fern von Euch leben, leben mit dem Ideal in der Seele, zusammen mit meiner herzliebsten Frau und mit meinen Kindern, wenn Gott sie uns schenken sollte. Und den Freunden und Nachbarn in der Not würde ich eine helfende Hand sein.“ Gut, wenn ich das jetzt allein zu mir sage, was aber hätte es Dümmeres geben können, als wenn ich damals ihr das vorerzählt und ausgemalt hätte? Das war’s ja, warum ich stolz schwieg, warum wir uns schweigend gegenübersaßen. Was hätte sie denn davon begriffen? Sechzehn Jahre – das ist ja doch noch die erste Jugend! Und was hätte sie denn verstehen können von meinen Rechtfertigungen, von meinen Leiden? Offenherzigkeit, Unkenntnis des Lebens, jugendliche, billige Überzeugungen, wahre Hühnerblindheit der „prachtvollen Herzen“, aber vor allen Dingen – da war ja die Leihkasse und das genügte! – War ich denn etwa ein Räuber, hatte sie denn nicht selbst gesehn, wie ich war und daß ich nichts Unrechtmäßiges nahm? Oh, wie furchtbar ist die Wahrheit auf Erden! Dieses reizende Wesen, diese sanfte Kleine, dieser Himmel – war mein Tyrann, war der unerträgliche Peiniger meiner Seele! Würde ich mich doch selbst anschwärzen, wenn ich das nicht sagte! Sie glauben vielleicht, daß ich sie nicht geliebt habe? Wer kann mir sagen, ich hätte sie nicht geliebt? Sehen Sie: hieraus wurde boshafte Ironie des Schicksals und der Natur! Wir sind verflucht, das Leben der Menschen ist verflucht! – meines noch ganz besonders! – Ich begreife jetzt, daß ich mich hierbei in irgend etwas versehen hatte! Hierbei kam etwas nicht so heraus. Alles war doch so klar, so klar wie der Himmel war mein Plan: „Hart, stolz, braucht niemandes moralischen Trost, leidet schweigend.“ So war’s ja auch, ich log doch nicht, ich log doch wahrhaftig nicht! „Sie wird dann selbst die Hochherzigkeit entdecken, nur versteht sie vorläufig noch nicht, sie zu bemerken; doch wenn sie das irgend einmal errät, so wird sie es dann zehnfach zu schätzen wissen und in den Staub vor mir niederknieen, mit betend gefalteten Händen.“ – Das war der Plan! Aber hier mußte ich etwas vergessen oder aus dem Auge gelassen haben. Irgend etwas habe ich hier nicht zu machen verstanden. Doch genug, genug! Und wen soll ich denn jetzt um Verzeihung bitten? Ist’s aus, dann ist’s aus. Mutiger, Mensch, und sei stolz! Nicht du trägst die Schuld! ...

Nein, ich sage die Wahrheit, ich fürchte mich nicht, vor das Angesicht der Wahrheit hinzutreten: sie trägt die Schuld daran, sie trägt die Schuld! ...

V. Die Kleine revoltiert.

Die Uneinigkeit begann damit, daß es ihr plötzlich einfiel, das Geld wie es ihr gut dünkte auszugeben, die Pfänder über ihren Wert einzuschätzen, und zweimal geruhte sie sogar, über dieses Thema mit mir zu streiten. Ich erklärte mich damit nicht einverstanden. Und da kreuzte denn noch diese Offizierswitwe unseren Weg.

Es kam eine alte Frau, die Witwe eines Hauptmanns, mit einem Medaillon, – Geschenk des verstorbenen Gatten, nun, man weiß ja: eine Erinnerung. Ich gab ihr dreißig Rubel. Da hob denn das Weinen an –: man solle das Ding nur ja gut aufbewahren. – Selbstverständlich bewahren wir es gut auf. Nun, kurz und gut, plötzlich, nach fünf Tagen kommt sie wieder, um das Ding gegen ein Armband, das nicht mal acht Rubel wert war, einzulösen. Ich schlug ihr’s natürlich ab. Wahrscheinlich hat sie wohl damals schon etwas aus den Augen meiner Frau erraten, denn als sie das zweite Mal in meiner Abwesenheit kam, tauschte die es tatsächlich gegen ihr Medaillon ein.

Als ich das noch am selben Tage erfahren hatte, sprach ich sanft, doch bestimmt und vernünftig mit ihr. Sie saß auf dem Bett, sah zu Boden und baumelte mit dem rechten Fuß – ihre charakteristische Angewohnheit –, wobei sie mit dem Schuhspitzchen immer über den Betteppich fuhr; ein häßliches Lächeln lag auf ihren Lippen. Da erklärte ich ihr ruhig, ohne auch nur die Stimme zu erheben, daß das Geld mir gehöre, daß ich das Recht habe, auf das Leben mit meinen Augen zu sehn, und – daß ich, als ich sie um ihre Hand gebeten, ihr doch nichts verheimlicht hatte.

Sie sprang auf, erzitterte am ganzen Körper und – was glauben Sie wohl – stampfte plötzlich wie wahnsinnig mit den Füßen los! Das war einfach ein Tier, das war ein Anfall, das war ein Tier im Krampf!! Ich war starr vor Erstaunen: solch einen Ausfall hätte ich nie und nimmer erwartet! Verlor aber nicht den Kopf, zuckte nicht einmal und erklärte nur, wieder mit derselben ruhigen Stimme, daß ich ihr von nun ab die Anteilnahme an meinen Beschäftigungen entziehen würde. Sie lachte mir ins Gesicht und ging, – ging aus der Wohnung.

Die Sache war aber, daß sie nicht das Recht hatte, die Wohnung zu verlassen. Nicht ohne meinen Willen auszugehen – so war es zwischen uns noch während der Brautschaft abgemacht worden. Zum Abend kehrte sie zurück; ich sprach kein Wort.

Am nächsten Tage ging sie wieder gleich am Morgen aus, am übernächsten wieder. Ich schloß die Kasse und begab mich zu den Tanten. Mit ihnen hatte ich gleich nach der Trauung jegliche Beziehungen abgebrochen –: weder kamen sie zu uns, noch wir zu ihnen. Es stellte sich heraus, daß meine Frau nicht bei ihnen gewesen war. Sie hörten mir neugierig zu, lachten mich aus: „Geschieht Ihnen recht.“ Aber ich hatte es ja nicht anders erwartet. Bei derselben Gelegenheit gewann ich die jüngere Tante, die Jungfer, bestach sie mit hundert Rubeln, von denen ich ihr fünfundzwanzig sofort einhändigte. Nach zwei Tagen kam sie zu mir.

„Da ist ein Offizier,“ sagte sie, „ein Leutnant Jefimowitsch, Ihr früherer Regimentskamerad, im Spiel.“

Ich war sehr verwundert. Von diesem Jefimowitsch hatte ich im Regiment am allermeisten Bosheit erfahren müssen. Vor einem Monat aber war er, schamlos wie er stets gewesen, zweimal unter dem Vorwand etwas versetzen zu wollen, zu uns gekommen. Ich weiß noch, daß er damals mit meiner Frau zu scherzen versucht hatte. Da war ich denn an ihn herangetreten und hatte ihm gesagt, er solle es nicht wagen, wiederzukommen, – so wie unsere Beziehungen nun einmal stünden. Doch nicht mal ein Gedanke an irgend so etwas war mir in den Kopf gekommen; ich dachte einfach, daß er nichts als frech und zudringlich war. Und nun sagte mir plötzlich dieses Weibsbild von Tante, daß sie sich ein Rendezvous geben werden, und daß die ganze Geschichte von einer früheren Bekannten der anderen Tante, einer Julija Ssamssonowna, die noch dazu Witwe eines Obersten sein sollte, unterstützt würde. – „Und zu dieser Witwe geht Ihre Frau.“

Ich werde mich kürzer fassen. Im ganzen kam mich die Sache auf zirka dreihundert Rubel zu stehn; dafür aber war es nach zweimal vierundzwanzig Stunden abgemacht, daß ich im Nebenzimmer hinter der Tür stehen und auf diese Weise dem ersten tête-à-tête meiner Frau mit Jefimowitsch beiwohnen sollte. In der Erwartung dessen kam es nun noch am Abend vorher zu einer kurzen, doch nur zu bedeutsamen kleinen Szene zwischen ihr und mir.

Sie kam kurz vor Abend zurück, setzte sich aufs Bett, blickte mich spöttisch an und baumelte wieder mit dem Beinchen überm Teppich. Da, als ich sie so sah, fiel es mir plötzlich auf, daß sie in diesem ganzen letzten Monat oder wenigstens in den letzten zwei Wochen – ja gar nicht mehr sie selbst gewesen war. Das war plötzlich ein wildes, unordentliches Geschöpf geworden, das bereit war, sich ins Verderben zu stürzen, das den Strudel geradezu suchte. Solch ein Wesen kann sich mit seiner Vernunft und seinem Schamgefühl, wenn es einmal die Grenzen überschritten, nicht mehr zurechtfinden. Es gerät in einer Weise aus dem Gleise, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Dagegen wird sich eine verderbte Seele immer zu mäßigen wissen, wird vielleicht das Gemeinste tun, aber dabei doch immer noch Ordnung und Anstand wahren und obendrein womöglich noch die Anmaßung haben, einem überlegen zu sein.

„Ist es wahr, daß man Sie aus dem Regiment fortgejagt hat, weil Sie aus Furcht ein Duell ausgeschlagen haben?“ fragte sie plötzlich und ihre Augen erglänzten.

„Ja, es ist wahr. Man bat mich nach dem Urteilsspruch der Offiziere, das Regiment zu verlassen, obgleich ich übrigens schon vorher selbst mein Abschiedsgesuch eingereicht hatte.“

„Als Feigling fortgejagt?“

„Ja, ich wurde als Feigling verurteilt. Doch hatte ich das Duell nicht aus Furcht ausgeschlagen, sondern weil ich mich nicht ihrem tyrannischen Urteilsspruch fügen wollte: zum Duell herauszufordern, wenn ich selbst eine Beleidigung nicht anerkennen konnte ... Wissen Sie,“ – sagte ich plötzlich, denn ich konnte nicht an mich halten – „daß mit der Tat sich gegen solche Tyrannei auflehnen und alle Folgen dieser Handlung auf sich nehmen, viel mehr Männlichkeit beweisen hieß, als zu einem Duell herausfordern.“

Ich hatte mich nicht beherrschen können und mit den letzten Worten gleichsam mich zu rechtfertigen begonnen; das aber wollte sie ja nur, diese meine neue Erniedrigung! Sie lachte boshaft auf.

„Und ist es wahr, daß Sie sich darauf drei Jahre lang in den Straßen Petersburgs wie ein Strolch herumgetrieben haben, um zehn Kopeken die Leute angesprochen und unter den Billards genächtigt haben?“

„Ich habe sogar in der Ssennaja im Wjäsemskischen Hause[6] genächtigt. Ja, es ist wahr; in meinem Leben war später, nach dem Ausschluß aus dem Regiment, viel Schmach und Verkommenheit, doch keine moralische Verkommenheit, denn ich war ja doch selbst der erste, der mich und meine Handlungen haßte. Das war bloß eine Ohnmacht meines Willens, die durch die Verzweiflung meiner Lage hervorgerufen wurde ... Aber das ist jetzt vorüber, ist gewesen ...“

„Oh, natürlich. Jetzt sind Sie ja eine große Persönlichkeit: ein Finanzmann!“

Das war natürlich eine Anspielung auf die Pfandkasse. Doch ich beherrschte mich schon wieder. Ich sagte mir, daß sie es ja doch nur auf Erklärungen meinerseits abgesehen hatte, die mich erniedrigen sollten und – ich schwieg. Zudem klingelte gerade jemand und so ging ich denn aus dem Schlafzimmer an meine Kasse. Darauf, nach einer Stunde ungefähr, als sie sich angekleidet hatte, um wieder auszugehn, blieb sie plötzlich noch vor mir stehen und sagte:

„Vor der Hochzeit aber haben Sie mir nichts davon gesagt?“

Ich antwortete nicht und sie ging.

Und so war’s denn am folgenden Tage, daß ich dort in jenem Zimmer hinter der Tür stand und zuhörte, wie sich mein Schicksal entschied, – doch in meiner Tasche hatte ich einen Revolver. Sie war sorgfältig angekleidet, saß hinter dem Tisch auf dem Sofa und Jefimowitsch gab sich alle Mühe. Nun, und –: es geschah das (ich sage es zu meiner Ehre), es geschah genau das, was ich vorausgefühlt hatte, was ich angenommen, daß geschehen würde ... wenn ich mir auch dessen nicht bewußt war, daß ich es tat ... Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke.

Und zwar geschah folgendes: Ich hörte eine ganze Stunde lang zu, eine ganze Stunde lang dem Zweikampf eines Weibes, des edelsten und keuschesten, mit einer stumpfen, verderbten Lebeweltkreatur. Und woher – fragte ich mich erstaunt, woher kann diese naive, diese keusche, diese unerfahrene junge Seele alles das wissen? Selbst der geistreichste Autor einer mondänen Komödie hätte nicht solch eine Szene erdichten können, solch einen Spott, solch ein allernaivstes Lächeln mit dieser heiligen Verachtung, die der reine Mensch für das Laster hat. Und wieviel Geist war doch in ihren Worten und kleinen Wörtchen, welch ein Scharfsinn in ihren schnellen Antworten und welche Sicherheit und Wahrheit in ihren Urteilen. Und zu gleicher Zeit wieviel – ich möchte sagen – mädchenhafte Gutmütigkeit! Auf seine Liebeserklärungen hin lachte sie ihn einfach aus. Er, der mit seinen rohen Absichten gekommen war, saß plötzlich ganz kleinlaut da und wußte nicht, wie ihm geschah. Zuerst hätte ich glauben können, daß es ihrerseits nur Koketterie war – „Koketterie eines, wenn auch verderbten, so doch jedenfalls geistreichen Weibes, um sich kostbarer zu machen“. Aber nein, die Wahrheit war so sonnenklar, daß ein Zweifel überhaupt nicht bestehen konnte. Nur aus Haß zu mir, aus sich selbst vorgetäuschtem, eingebildetem plötzlichem Haß zu mir, hatte sie, dies unerfahrene Ding, sich zu diesem Rendezvous entschließen können; sobald es aber zur Tat kam – erwachte sie sofort. Sie quälte sich selbst, um mich irgendwie, einerlei wodurch, zu beleidigen, doch ist es ja nur zu verständlich, daß sie, die sich zu etwas so Scheußlichem entschlossen zu haben schien, sofort auf diesem Wege stehen blieb und umkehrte, als sie ihm gegenüberstand: sie ertrug es nicht. Und sie, diese sündenlose, keusche Seele, die ihr Ideal besaß, hätte solch ein Jefimowitsch oder einerlei wer von diesem Lebeweltgesindel verführen können? Er rief ja bei ihr nur Gelächter hervor. Die ganze Wahrheit erhob sich in ihrer Seele und der Unwille erweckte bloß Spott in ihrem Herzen. Ich wiederhole: dieser Narr saß zum Schluß ganz verdutzt auf seinem Stuhl, blickte mürrisch drein und antwortete kaum, so daß ich schon befürchtete, er würde vielleicht aus niedriger Rachsucht sie zu beleidigen suchen. Und ich wiederhole nochmals, zu meiner Ehre sei es gesagt –: ich hörte das ganze Gespräch so gut wie ohne jegliche Verwunderung an. Es war mir, als ob ich etwas Bekanntes wiederfand. Ich war gleichsam nur deswegen hingegangen, um dieses Bekannte wiederzufinden. Ich ging hin, ohne einer einzigen Beschuldigung zu glauben, obgleich ich mir den Revolver in die Tasche gesteckt hatte –, das ist die ganze Wahrheit. Und wie hätte ich sie mir denn überhaupt anders denken können? Warum liebte ich sie denn, warum schätzte ich sie denn so hoch, warum hatte ich sie denn geheiratet? Oh, natürlich wurde mir klar, wie sehr sie mich haßte, doch wurde mir auch das klar, wie unverdorben, wie rein sie war. Ich machte der Szene plötzlich ein Ende, indem ich die Tür öffnete. Jefimowitsch sprang auf; ich bot ihr den Arm und bat sie, mit mir das Haus zu verlassen. Jefimowitsch faßte sich ziemlich schnell und lachte belustigt laut auf.

„Oh, gegen die geheiligten Gattenrechte habe ich natürlich nichts einzuwenden! Bitte, führen Sie sie fort, bitte! Und wissen Sie,“ rief er mir noch nach, „obgleich sich ja ein anständiger Mensch mit Ihnen eigentlich nicht schlagen kann, so stehe ich doch, aus Achtung vor Ihrer Frau, zu Ihrer Verfügung ... Wenn Sie, übrigens, selbst riskieren sollten ...“

„Hören Sie!“ sagte ich ihr, und hielt sie noch einen Augenblick auf der Türschwelle zurück.

Darauf den ganzen Weg bis nach Haus kein Wort. Ich führte sie an der Hand und sie widersetzte sich nicht. Im Gegenteil, sie war furchtbar betroffen, und das nicht nur auf dem Wege bis zu unserer Wohnung. Bei uns angekommen, setzte sie sich auf einen Stuhl und richtete dann starr ihren Blick auf mich. Sie war ungewöhnlich bleich; wenn sich auch ihre Lippen sofort wieder spöttisch verzogen, so sah sie mich doch mit einem Blick stolzer Herausforderung an und war, glaube ich, fest überzeugt, wenigstens in den ersten Minuten, daß ich sie nun sofort niederschießen würde. Ich aber zog meinen Revolver schweigend aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. Sie blickte von mir auf den Revolver, vom Revolver auf mich. (Beachten Sie folgendes: dieser Revolver war ihr schon bekannt. Ich hatte ihn mir gekauft, weil ich nicht beabsichtigte, große Hunde oder einen starken Diener, wie ihn zum Beispiel Moser hat, zu halten. Bei mir öffnet die Magd die Tür. Andrerseits aber können wir uns doch nicht ganz des Selbstschutzes berauben, – wenn die Leute nun einmal wissen, daß man immer Geld im Hause hat. Und so hatte ich mir denn diesen Revolver gekauft. Sie nun, als sie zu mir ins Haus kam, interessierte sich in den ersten Tagen ganz besonders für das Ding und ich erklärte ihr daraufhin das ganze System und beredete sie sogar einmal, nach einem Ziel zu schießen. Bitte sich das zu merken.)

Ohne ihren erschrockenen Blick weiter zu beachten, legte ich mich halb ausgekleidet auf das Bett. Ich war nicht wenig erschöpft. Es war schon elf Uhr. Sie blieb auf ihrem Platz sitzen, ohne sich zu rühren, ungefähr noch eine Stunde lang. Darauf löschte sie das Licht aus und legte sich, gleichfalls angekleidet, an der Wand auf den Diwan. Zum ersten Mal legte sie sich nicht mit mir nieder. – Das bitte gleichfalls zu behalten.

VI. Eine furchtbare Erinnerung.

Jetzt ist es eine furchtbare Erinnerung ...

Ich erwachte am Morgen, ungefähr um acht. Im Zimmer war es fast schon ganz hell. Ich erwachte plötzlich mit vollem Bewußtsein und schlug die Augen auf: sie stand am Tisch und hielt den Revolver in der Hand. Sie bemerkte es nicht, daß ich aufgewacht war und sie beobachtete. Und plötzlich sehe ich: sie bewegt sich auf mich zu, mit dem Revolver in der Hand ... Ich schloß sofort die Augen und stellte mich schlafend.

Sie kam bis ans Bett und beugte sich über mich ... Ich hörte alles ... wenn es auch totenstill war, so hörte ich doch diese Stille ... Da – es war eine krampfhafte Bewegung –: ich schlug plötzlich, gegen meinen Willen die Augen auf: sie stand über mich gebeugt und sah mich an, blickte mir gerade in die Augen – und der Revolver war schon dicht an meiner Schläfe. Unsere Blicke trafen sich. Wir sahen einander nicht länger als eine Sekunde an. Mit Anstrengung all meiner Kräfte schloß ich wieder die Augen und im selben Moment faßte ich auch aus der ganzen Kraft meiner Seele den Entschluß, mich nicht mehr zu rühren und nicht mehr die Augen zu öffnen, einerlei, was mich auch erwarten mochte.

Es kommt in der Tat zuweilen vor, daß auch ein festschlafender Mensch plötzlich die Augen aufschlägt, sogar den Kopf erhebt und sich im Zimmer umblickt, darauf, nach einer Sekunde, den Kopf wieder auf das Kissen legt und einschläft, ohne sich seiner ganzen Bewegung bewußt zu sein oder sich später noch ihrer zu entsinnen. Als ich, nachdem sich unsere Blicke getroffen und ich den Revolver ganz nah an meiner Schläfe gesehn hatte, plötzlich wieder meine Augen schloß und mich regungslos verhielt, wie ein Festschlafender, – da konnte sie entschieden glauben, daß ich tatsächlich schlief und nichts gesehn hatte, um so mehr, als es doch ganz unwahrscheinlich sein mußte, ich hätte, nachdem ich das gesehn, was ich gesehn, in solch einem Augenblick die Augen wieder schließen können.

Allerdings war es unwahrscheinlich. Aber trotzdem hätte sie doch die Wahrheit erraten können, – das war’s ja, was mir plötzlich in diesem selben Augenblick durch die Gedanken zuckte. Welch ein Wirbelsturm von Gedanken und Gefühlen in weniger als einer Sekunde durch meine Seele stob! – oh, Elektrizität des Menschengedankens! In diesem Falle – wenn sie die Wahrheit erraten hatte und wußte, daß ich nicht schlief – mußte ich sie schon durch meine Bereitwilligkeit, in den Tod zu gehn, niederdrücken, vernichten ... und ihre Hand hätte zurückzucken müssen. Die anfängliche Entschlossenheit hätte an einem neuen ungewöhnlichen Eindruck zerschellen können. Man sagt, wer auf der Höhe steht, fühle sich unwillkürlich hinabgezogen in den Abgrund: Ich glaube, viele Selbstmorde und Morde sind nur begangen worden, weil der Revolver schon in der Hand war. Da ist es gleichfalls ein Abgrund, ein Abhang von fünfundvierzig Grad und da kann man nicht umhin, diesen Abhang hinunterzugleiten und es ist da etwas, was einen unwiderstehlich herausfordert, den Hahn abzudrücken. Doch wenn sie sich sagte, daß ich alles gesehn habe, alles weiß und schweigend von ihr den Tod erwarte – dieser Gedanke hätte sie doch vielleicht auf dem Abhange aufhalten können.

Die Stille dauerte an und – plötzlich fühlte ich an der Schläfe, dicht an meinem Haar die kalte Berührung des Eisens ... Sie werden mich fragen, ob ich immer noch auf eine Rettung hoffte? Ich will Ihnen wie meinem Gott antworten: ich hatte nicht die geringste Hoffnung, außer vielleicht wie eins zu hundert, nicht erschossen zu werden. Warum – fragen Sie mich – nahm ich dann den Tod von ihr entgegen? Ich aber frage: was war mir denn das Leben noch, nachdem das von mir vergötterte Wesen den Revolver auf mich angelegt hatte? Außerdem fühlte ich mit meinem ganzen Ich, daß in diesem Augenblick zwischen uns ein Kampf vor sich ging, ein furchtbarer Zweikampf auf Leben oder Tod, der Kampf mit diesem selben früheren „Feigling“, der von den Kameraden wegen „Feigheit“ fortgejagt worden war! Ich wußte das, und auch sie wußte das, wenn sie nur die Wahrheit erraten hatte, – daß ich nicht schlief!

Vielleicht ist es auch nicht so gewesen, vielleicht habe ich all das in dem Augenblick auch nicht gedacht, aber das hätte doch alles so sein müssen, wenn auch ohne Gedanken. Ich habe ja nachher sonst nichts mehr getan, als in jeder Stunde meines Lebens daran gedacht.

Doch Sie können noch eine andere Frage stellen: warum bewahrte ich sie nicht vor dem Verbrechen? Oh, ich habe mir selbst nachher wohl an tausendmal diese Frage gestellt – jedesmal, wenn ich mir mit einem Schauer im Rücken diesen Augenblick zu vergegenwärtigen suchte. Doch meine Seele war damals in finsterer Verzweiflung: ich ging unter, ich ging selbst unter, wen hätte ich da noch retten können!? Und woher wissen Sie, ob ich da überhaupt noch jemanden hätte retten wollen? Woher soll man’s wissen, was ich damals habe fühlen können.

Einstweilen war mein Bewußtsein überwach, siedete, kochte in mir ... Die Sekunden kamen und gingen, es war totenstill ... Sie stand immer noch über mich gebeugt – und plötzlich durchzuckte mich eine Hoffnung! – Ich schlug schnell die Augen auf: sie war nicht mehr im Zimmer. Ich erhob mich vom Bett. – Ich, ich hatte gesiegt! – und sie war auf ewig besiegt!

Ich ging in das vordere Zimmer zum Frühstück. Der Samowar wurde bei uns immer im ersten Zimmer aufgestellt und den Tee goß stets sie ein. Ich setzte mich schweigend an den Tisch und nahm von ihr mein Glas in Empfang. So nach fünf Minuten sah ich zum ersten Mal auch zu ihr hinüber: sie war entsetzlich bleich, noch bleicher, als am Tage vorher, und blickte mich an. Und plötzlich – und plötzlich, als sie gewahr wurde, daß ich sie betrachtete, verzog sie ihre bleichen Lippen zu einem blassen Lächeln, mit scheuer Frage in den Augen ... So zweifelt sie immer noch? fragt sich wohl: weiß er es oder weiß er es nicht, hat er gesehn oder hat er nicht gesehn? Gleichmütig wandte ich meinen Blick von ihr ab.

Nach dem Tee schloß ich die Kasse, ging auf den Markt und kaufte ein eisernes Bett und einen großen Bettschirm. Nach Haus zurückgekehrt, ließ ich das Bett im ersten Zimmer aufstellen und mit dem Schirm gleichsam das Zimmer abteilen. Das war ein Bett für sie, doch sagte ich kein Wort davon. Auch ohne Worte begriff sie durch dieses Bett, daß ich „alles gesehn habe und alles weiß“. Für die Nacht legte ich den Revolver wie immer auf den Tisch. Spät abends legte sie sich in dieses neue Bett: die Ehe war aufgelöst. – „Sie war besiegt, doch war ihr noch nicht verziehen.“ In der Nacht fing sie an zu phantasieren und am nächsten Morgen hatte sie hohes Fieber. Sechs Wochen lag sie.