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Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第25章

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Ja, ja, es endete damit, daß ich sie alle verdarb! Wie das geschehen konnte – weiß ich nicht. Ich weiß es nicht mehr, wie es geschah. Der Traum durchflog Jahrtausende und hinterließ in mir nur die Gesamtempfindung. Ich weiß nur noch, daß die Ursache des Sündenfalles ich war. Wie eine scheußliche Trichine, wie eine Pestbazille, die ganze Erdteile verwüstet, so verpestete auch ich diese ganze glückliche, sündenlose Erde. Sie lernten das Lügen und gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schönheit der Lüge. Oh, das begann vielleicht ganz unschuldig, nur als Spiel, aus Tändelei, es ging in der Tat vielleicht nur von einer Bazille aus, doch dieses Atom Lüge drang in ihre Herzen und gefiel ihnen. Darauf entstand bald Sinnenlust, und diese Sinnenlust zeugte Eifersucht, und die Eifersucht Grausamkeit ... Oh, ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht mehr, doch bald, sehr bald ward das erste Blut vergossen: sie waren zuerst nur erstaunt, dann erschraken sie aber und begannen, auseinander zu gehen und sich zu entzweien. Es entstanden Verbindungen, doch waren es bereits Verbindungen gegen einander. Es kam zu Vorwürfen und Beschuldigungen. Sie erkannten die Scham und erhoben die Scham zur Tugend. Es entstand der Begriff der Ehre und jede Gruppe sammelte sich unter einer besonderen Fahne. Sie fingen an, die Tiere zu quälen, und die Tiere entfernten sich von ihnen und verkrochen sich in den Wäldern und wurden ihnen feind. Es begann der Kampf um die Entzweiung, um die Absonderung, um die Persönlichkeit, um Mein und Dein. Sie fingen an, in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Sie lernten das Leid kennen und gewannen es lieb, sie lechzten nach Qual und sagten, daß die Wahrheit sich nur durch Märtyrertum erkaufen lasse. Da kam die Wissenschaft zu ihnen. Als sie böse geworden waren, fingen sie an von Brüderschaft und Humanität zu sprechen und sie begriffen diese Ideen. Als sie Verbrecher wurden, erfanden sie die Gerechtigkeit und schrieben sich Kodexe vor, um sie zu erhalten, und zur Sicherstellung der Kodexe errichteten sie die Guillotine. Kaum, kaum erinnerten sie sich dessen, was sie verloren hatten, ja, sie wollten es fast nicht glauben, daß sie einmal schuldlos und glücklich gewesen waren. Sie lachten sogar über die Möglichkeit dieses ihres früheren Glücks und nannten es einen phantastischen Traum. Sie konnten sich diesen Zustand nicht einmal vorstellen, doch war dabei eines sonderbar: nachdem sie allen Glauben an das gewesene Glück verloren hatten und es ein Märchen nannten, wollten sie dermaßen gern wieder unschuldig und glücklich sein, daß sie vor den Wünschen ihres Herzens niederknieten wie Kinder, dieses Wünschen vergötterten, ihm Tempel bauten und zu ihrer eigenen Idee, ihrem eigenen „Wollen“ beteten, während sie dabei doch unerschütterlich an die Unerfüllbarkeit, Unverwirklichbarkeit derselben glaubten, trotzdem aber beteten sie sie weinend an und sanken sie vor ihr auf die Kniee. Und doch, – wenn es hätte geschehen können, daß sie zu diesem unschuldigen und glücklichen Zustand, den sie verloren hatten, wieder hätten zurückkehren können, wenn ihn jemand ihnen wiedergezeigt und sie gefragt hätte: wollt Ihr zu ihm zurückkehren? – so würden sie bestimmt nicht gewollt haben. Sie sagten mir: „Gut, mögen wir verlogen, böse, ungerecht sein, wir wissen es und weinen darob, und quälen uns deswegen selbst, und martern uns und bestrafen uns dafür vielleicht mehr, als es jener barmherzige Richter tun würde, der uns einstmals in Zukunft richten wird, doch dessen Name uns unbekannt ist. Aber wir haben die Wissenschaft und durch sie werden wir von neuem die Wahrheit finden, doch werden wir sie dann bereits bewußt annehmen. Das Wissen steht über dem Gefühl, die Erkenntnis des Lebens – steht über dem Leben. Die Wissenschaft wird uns allwissend machen, die Allwissenheit kennt alle Gesetze, die Kenntnis aber der Gesetze des Glücks – steht über dem Glück.“ Also sprachen sie zu mir, und nach solchen Worten wurde sich ein jeder von ihnen noch lieber, wurde sich ein jeder der liebste von allen, ja – hätte es doch anders überhaupt nicht geschehn oder sein können. Ein jeder wurde so eifersüchtig auf sein Ich, daß er das Ich seines Nächsten mit allen Mitteln zu erniedrigen, zu unterdrücken und zu verringern trachtete; und nur darin setzte er sein Leben voraus. Es entwickelte sich die Sklaverei, es gab sogar freiwillige Sklaven; die Schwachen unterwarfen sich gern den Starken, doch nur mit der einen Bedingung, daß jene ihnen halfen, die noch Schwächeren zu unterdrücken. Es kamen Propheten zu diesen Menschen, und weinend sprachen sie zu ihnen von ihrem Stolz, dem Verlust des Maßes und der Harmonie, über die Einbuße der Scham. Sie wurden verlacht und verspottet und schließlich gesteinigt. Heiliges Blut rann über die Schwellen der Tempel. Dafür aber kamen Menschen, die anfingen sich auszudenken: wie wäre es möglich, daß alle sich wieder vereinigten, daß ein jeder, ohne aufzuhören sich selbst am meisten zu lieben, zu gleicher Zeit keinen anderen störte, und daß somit wieder alle zusammen lebten, als ob sie eine einzige friedliche einmütige Gesellschaft wären. Es kam zu ganzen Kriegen wegen dieser Idee. Alle Kämpfer glaubten zu gleicher Zeit, daß die Wissenschaft, die Allwissenheit und der Trieb der Selbsterhaltung den Menschen schließlich zwingen würden, sich mit allen zu einer vernünftigen und einmütigen Gesellschaft zu vereinigen, darum aber trachteten die „Allweisen“ zur Beschleunigung der Sache alle „Nichtallweisen“ und die, die ihre Idee nicht begreifen konnten, auszurotten, auf daß sie ihren Sieg nicht verhinderten. Aber das Gefühl der allgemeinen Selbsterhaltung fing bald an abzunehmen, es kamen stolze Wollüstlinge, die offen entweder alles oder nichts verlangen. Man ging zu Freveltaten aller Art über, und wenn man durch sie nichts erreichte – zum Selbstmord. Es kamen Religionen mit dem Kult des Nichtseins und der Selbstzerstörung um willen der ewigen Ruhe im Nichts. Endlich aber ermüdeten diese Menschen in der sinnlosen Mühe und auf ihren Gesichtern erschien das Leid, und diese Menschen verkündeten: das Leiden ist Schönheit, denn nur im Leiden liegt ein Sinn. Und sie besangen das Leiden in ihren Liedern. Ich ging verstört unter ihnen umher, rang die Hände und weinte über sie, aber ich liebte sie vielleicht noch mehr als früher, als auf ihren Gesichtern noch kein Leid war und sie noch so unschuldig und so schön waren. Mir wurde die von ihnen entweihte Erde noch teurer denn früher als Paradies, und das nur, weil auf ihr das Leid erschienen war. Oh, ich habe immer das Leid und die Trauer geliebt, aber nur für mich, für mich! Da sie es aber hatten, weinte ich vor Mitleid über sie. Ich streckte ihnen meine Arme entgegen und in der Verzweiflung beschuldigte, verfluchte und verachtete ich mich. Ich sagte ihnen, daß ich alles getan hatte, daß ich die Schuld an allem trug, ich, ich allein! Daß ich ihnen Verderbnis, Pest und Lüge gebracht! Ich flehte sie an, mich zu kreuzigen, ich lehrte sie ein Kreuz zu zimmern und zu errichten. Ich konnte nicht mich selbst töten, ich hatte nicht die Kraft dazu, aber ich wollte von ihnen Qualen empfangen, ich lechzte nach Qualen, ich lechzte danach, daß in diesen Qualen mein Blut bis auf den letzten Tropfen vergossen würde! Sie aber lachten nur über mich und schließlich sagten sie mir, ich sei ein blödsinniger Narr. Sie verteidigten mich sogar; sie sagten, sie hätten bloß das bekommen, was sie sich selbst gewünscht, und das alles, was bei ihnen ist, überhaupt nicht hätte nicht sein können. Und zum Schluß erklärten sie mir, daß ich für sie gefährlich wäre und sie mich in ein Irrenhaus einsperren würden, wenn ich nicht endlich aufhörte davon zu sprechen. Da wurde das Leid, das meine Seele durchdrang, so übergroß, daß mein Herz sich zusammenkrampfte, und ich fühlte, daß ich starb, und ... da erwachte ich aus meinem Traum.


Es war schon Morgen, das heißt, die Sonne war noch nicht aufgegangen: die Uhr war erst sechs. Ich erwachte in meinem Lehnstuhl, das Licht vor mir war schon ganz heruntergebrannt, im Nebenzimmer beim Hauptmann schlief man und es herrschte eine in unserer Wohnung seltene Stille. Zuerst sprang ich verwundert auf; noch nie war mit mir Ähnliches geschehen, selbst die kleinsten Dinge waren auffallend: z. B. war ich noch nie so im Lehnstuhl eingeschlafen. Und dann – während ich stand und zu mir kam, erblickte ich plötzlich meinen Revolver, den geladenen Revolver, – doch im selben Augenblick stieß ich ihn weit von mir! Oh, Leben, großes, heiliges Leben! Ich breitete meine Arme aus und rief die ewige Wahrheit an; ich schluchzte: Begeisterung, unermeßliche Begeisterung erhob mein ganzes Ich. Ja, Leben und – Verkünden! Das Verkünden beschloß ich in demselben Augenblick, – beschloß es für das ganze Leben! Ich gehe predigen, ich will verkünden – was? Die Wahrheit, denn ich habe sie gesehn, habe sie mit eigenen Augen gesehn, und habe ihre ganze Herrlichkeit erkannt!

Und seit der Zeit verkünde ich! ... Ich liebe alle, und die, die über mich lachen, liebe ich am meisten. Warum ich diese mehr liebe – weiß ich nicht und ich kann es auch nicht erklären, aber mag es so sein. Sie sagen, daß ich mich schon jetzt verirre, – wenn ich mich aber schon jetzt so verirrt habe, was würde dann noch weiter geschehn? Ja, es ist wahrhaftig wahr: ich verirre mich und je weiter, desto schlimmer wird es vielleicht werden. Natürlich werde ich noch oftmals fehlgehn, bevor ich es erlernen werde, wie man predigen muß, d. h. mit welchen Worten und welchen Taten, denn es ist schwer, das zu erfüllen. Es ist mir ja jetzt schon so klar wie der Tag, aber hört mal: wer irrt sich denn nicht? Und dabei streben doch alle zu ein und demselben, alle, angefangen vom Weisen bis zum letzten Verbrecher, nur tun sie es auf verschiedenen Wegen. Das ist eine alte Wahrheit, doch eines ist hierbei neu: ich kann mich ja gar nicht so sehr verirren. Denn ich habe doch die Wahrheit gesehn, ich weiß, daß die Menschen schön und glücklich sein können, ohne dabei die Fähigkeiten auf der Erde zu leben, verloren zu haben. Ich will nicht und ich kann auch nicht glauben, daß das Böse der Normalzustand der Menschen sei. Sie aber lachen ja nur über diesen meinen Glauben! Aber wie soll man mir denn nicht glauben! Ich habe die Wahrheit gesehn, – nicht, daß ich sie mit meinem Verstande erfunden hätte, nein, ich habe sie gesehn, gesehn, und ihr lebendiges Angesicht hat meine Seele bis in alle Ewigkeit erfüllt. Ich sah sie in solch einer vollendeten Ganzheit, – wie soll ich nun glauben, daß es diese Wahrheit nicht auch bei den Menschen geben kann? Und wie, wie soll ich mich denn verirren? Vielleicht werde ich etwas vom Wege abgeraten, vielleicht sogar mit fremden Worten sprechen, aber nicht lange: das lebendige Ebenbild dessen, was ich gesehn, wird ewig in mir sein und mich führen und leiten. Oh, ich bin mutig und guter Hoffnung und ich gehe und gehe und wenn auch auf tausend Jahr. Wißt, ich wollte es zuerst sogar verheimlichen, daß ich sie alle verdorben hatte, aber das wäre ein Fehler von mir gewesen, – da hätten wir schon den ersten Fehler! Doch die Wahrheit flüsterte mir zu, daß ich log und bewahrte mich vor der Verirrung und lenkte mich auf den rechten Weg. Wie aber das Paradies errichten, das weiß ich nicht, denn ich kann es nicht in Worten wiedergeben. Nach meinem Traum habe ich die Worte verloren. Wenigstens alle notwendigen Worte, die nötigsten. Doch mag es sein; ich werde gehen und verkünden, unermüdlich verkünden, denn ich habe es doch immerhin mit eigenen Augen gesehn, wenn ich es auch nicht wiedergeben kann, was ich gesehn habe. Aber das ist es ja gerade, was die Spötter nicht begreifen können. „Hat einen Traum gehabt, wie er sagt, irgend ein Fieberwahnbild, Halluzination.“ Ach! Ist denn das weise? Und wie stolz sie dabei sind. Ein Traum? Was ist ein Traum? Ist denn unser Leben kein Traum? Wartet, ich werde Euch noch mehr sagen! Gut, nun gut, das wird niemals in Erfüllung gehn und das Paradies wird sich nie verwirklichen (das sehe ich doch selbst ein!) – gut, aber ich werde doch verkünden. Und trotzdem, wie einfach wäre es: in einem Tage, in einer einzigen Stunde – würde sich alles verwandeln! Liebe die Menschheit wie Dich selbst! – das ist das ganze, das ist alles, weiter ist nichts mehr nötig: sofort wirst Du wissen, wie Du leben sollst. Und währenddessen ist das ja doch nur eine – alte, ganz alte Wahrheit, die aber- und abertausendmal wiederholt worden ist, und doch hat sie sich nirgendwo eingelebt! „Die Erkenntnis des Lebens – ist höher als das Leben, die Erkenntnis der Gesetze des Glücks – ist höher als das Glück“ – das ist es, womit man kämpfen muß! Und ich werde es. Wenn nur alle wollten, so würde sich sofort alles auf Erden verändern.


Aber jenes kleine Mädchen habe ich doch aufgesucht ... Und jetzt gehe ich. Und jetzt gehe ich ...