Viertes Kapitel.
Zu stark für dies Leben • 第6章
Viertes Kapitel.
Am nächsten Morgen beim Kaffeetrinken saß Anna im Sofa. Grahl begann, wie in den letzten Tagen gewohnt, eine Unterhaltung von nebensächlichen Dingen, auf welche Anna mit kargen Worten, dazu mit ihrem beständigen Lächeln einging. Grahl fühlte die Zeiger weiterrücken, er vergewisserte sich, daß seine Zeit schon knapp überschritten war – aber er wollte seine Frau nicht verlassen, ohne ein bestimmtes Wort gefunden zu haben. Er suchte danach. Wie jeden Morgen empfand er es als Unmöglichkeit, Anna in ihrem einsamen Unglück für sich zu lassen. An diesem, dem entscheidenden Tage, erschien ihm das als Verrat, als der Bruch einer Pflicht. Er saß und blickte vor sich in die Tasse – bis Anna aufstand und schweigend die Stube verließ.
Der Morgen war dunkel. Regen sprang auf den blanken Straßen, an den Sielen schäumten die Strudel. Bei der Haltestelle, die in der Nähe der Wohnung gelegen war, hielt Grahl im Laufen inne. Aber die Trambahnen waren bei solchem Wetter kurz vor Beginn der Geschäftszeit so überladen, daß sie die Stationen ohne zu halten durchfuhren. Und Grahl, unfähig auf einem Ort zu verharren, begann zu laufen – aus Furcht vor versäumter Zeit und aus dem Bedürfnis, das Denken in seinem Gehirn zu zerstreuen – in einem Tempo, wie es ein eiliger Schuljunge anschlägt. Er hätte bei tüchtigem Schritt weit länger als eine halbe Stunde für seinen Weg gebraucht – nun lief er mit langen Beinen über die Straße, der Schmutz des Pflasters spritzte an seinen Hosen hinauf, und die Füße, in undichten Stiefeln, wurden vom Wasser gebadet. Er kämpfte um jede Sekunde und erledigte seinen Lauf in siebenundzwanzig Minuten – aber es war mithin doch dreizehn Minuten nach neun geworden.
Als Grahl in die Nähe des Kontorhauses kam, zog er den Hut sehr tief ins Gesicht und ging nahe an den Häusern. Er fürchtete nichts so sehr, als seinem Chef, der selber erst eine Viertelstunde nach neun zu kommen pflegte, hier zu begegnen. Er wußte bereits aus Erfahrung, daß Winters Automobil von der anderen Seite auffuhr – daher hielt er das Auge spähend vorwärts gerichtet, indem er mit kleinen Anläufen dem großen Portal näher kam. Aber noch etwa zehn Schritt vom Eingang entfernt, bemerkte er das blaue Automobil, wie es hielt ... und schon erschien die zum Aussteigen etwas gebückte Gestalt seines Chefs. Grahl, überrascht von diesem Ereignis, stand einen Augenblick still, wie an die Stelle gezwungen. Er wollte zurück. Aber die Vorstellung: wie Winter an seinem leeren Pulte vorbeischreitend, stutzen würde und fragen ... trieb ihn auf’s Geratewohl vorwärts. Wäre er blind gewesen – genauer hätte er nicht ins Verderben hineintappen können. Am Portal war er seinem Chef um einige Schritte voraus, er stieß die Türe auf, aber nur einen schmalen Spalt, durch welchen er selber allein hindurchschlüpfen konnte ... Daß Winter, der nun vor der zugefallenen Tür stand, schon allein wegen der Unhöflichkeit auf den vor ihm Gekommenen aufmerksam werden mußte, sagte Grahl sich nicht. Er kämpfte nur, wie ein Sterbender, um den Augenblick, und wollte nichts weiter denken. Er jagte mit eingezogenem Kopf, an der Kontrolle vorbei, die Treppen hinauf. Indessen fuhr Winter, vom Hauswart höflich bedient, in einem nur für Chefs und höhere Angestellte bestimmten Aufzug die Höhe dreier Etagen aufwärts. Als er durch die Pultreihen kam, langsamen Schritts, um alle Plätze eingehend zu mustern, war Grahl, noch im Straßenjackett, statt wie gewohnt in der schwarzen Lüsterjacke, mit einer Rechnung beschäftigt. Grahls Stirne war dunkelrot. Winter blieb neben ihm stehen ... so lange, bis Grahl seine Augen hob.
„Und Sie schämen sich nicht?“ schrie Winter so laut, daß alle Köpfe im Nacken zuckten. Grahl starrte ihn an. Winter ging um den Bock herum, blickte unter das Pult, zog mit den Händen Mantel und Hut hervor, die Grahl dort in Eile verborgen hatte, schleuderte sie zur Erde und schrie noch einmal: „Sie schämen sich nicht?“
Grahl, der bis in den Vorderkopf, wo seine dünnen Haare klebten, erbleicht war, machte eine Bewegung mit Daumen und Zeigefinger zum Brillenglas – aber diese Bewegung war so, als griff er sich an das Herz. Winter betrachtete ihn mit seegrünen, zynisch lachenden Augen. –
Warum demütigt er mich dermaßen? dachte Grahl, wofern es Denken zu nennen war, was in ihm vorging. Endlich, endlich ging Winter weiter. Er ging langsam wie stets. Einem Lehrling befahl er, den Personalchef Herrn Karst zu rufen, der am anderen Ende des Ganges in einem mit Glaswänden geschlossenen Raum die Abteilung ganz überblicken konnte. Wenige Augenblicke später schon sah man Karst, eine große, breitschulterige Erscheinung, den Gang zum Privatkontor durchschreiten. Sein Gesicht, in dem nach Muster der alten Militärs ein Schnurrbart stand, war voll und breit, von gesunder Farbe, wie das eines Landmanns. Der Ausdruck der Augen, wenngleich nicht Klugheit, so doch ein Geschick zur Diplomatie verratend, dazu der wiegend elastische Gang – dies alles in einem verriet die Brutalität eines Mannes, der sich vom Pult des Kontokorrentbuchhalters bis in den „Glaskasten“ hinaufgearbeitet, und nun nicht vergessen hatte, wie schwer der Aufstieg gewesen wäre, und wie leicht nun der Vorteil an Macht zu ziehen ... Jetzt betrat Karst mit einer Verbeugung und klingendem „Guten Morgen, Herr Winter,“ den Raum seines Prinzipals, um gleich darauf die Tür zu schließen.
In der folgenden Stunde versuchte Grahl, sich zur Arbeit zu sammeln. Aber er raschelte nur unter Fakturen, blätterte in dem Journal hin und her. Seine Hände zitterten, hinter der Stirn führten zwei Stimmen Fiebergespräche. Als der Personalchef nach mehr als dreiviertel Stunden zurück durch den Gang gekommen war, um in seinem Glasraum die Morgenpost zu sichten, bemühte sich Grahl, den Augenblick zu bemerken, wenn Karst, mit dem Lesen des letzten Briefes zu Ende, für eine kurze Pause, die zwischen dieser und seiner nächsten Beschäftigung eintreten mußte, müßig am Schreibtisch saß. Als dieser Zeitpunkt gekommen war, ging Grahl in den „Glaskasten“, verbeugte sich, wünschte Guten Morgen, und bat mit leiser Stimme um Urlaub für einige Stunden, von halb zwölf gerechnet bis etwa um zwei. Karst, der nie den Ausdruck der Mienen veränderte, fragte nach einer Begründung. Grahl gab einen nicht aufzusparenden Weg, eine Altersversorgung betreffend, vor. Karst konnte ein leises Lächeln nicht unterdrücken als er nach einer Pause erwiderte, Grahl möge diese Besorgung seiner Interessen noch um einige Zeit verschieben, später sei ihm der Urlaub gerne gestattet. Bei dieser Antwort erbleichte Grahl. Zusammen mit dem verschwiegenen Lächeln drückten die Worte aus, was seinen Herzschlag stocken machte. Er betonte noch einmal die Dringlichkeit seines Weges – aber nun eigentlich nur noch zur Entschuldigung seiner Bitte. Er war ganz verwirrt. Dazu fragte Karst, in dessen Augen nun keine Spur mehr von Lächeln lag, nach dem Stande der Arbeit. Und Grahl konnte nicht anders, als die Wahrheit gestehen. Karst nickte – er hätte nicht grausamer antworten können – als ob ihm dies und nichts anderes erwartet käme. Doch, ergänzte Grahl, hoffte er durch vermehrte Stunden der Tagesarbeit mit der Prüfung seiner Fakturen noch bis zum rechten Termine fertig zu werden. Das hoffe er auch, sagte Karst, indem er nun auch den Ton zu dem vorigen Lächeln fand. Damit wandte er sich einer Liste zu, die inzwischen von einem Lehrling gebracht worden war.
Grahl befand sich wieder allein vor dem Pulte. Arbeiten war ihm unmöglich. Seine Gedanken waren bei Anna und Gertrud. Sie standen nun vor dem Richter, er aber, der zwar mit seiner Zeugenaussage auf keinem Fall dem Geschick eine Wendung zu geben vermochte, fehlte in dieser Stunde. In einer Stunde, wo Anna, die glühende Angst der Erwartung, und im furchtbarsten Fall der Entscheidung, ein Gewicht auf dem Herzen erdulden mußte, für das die bürgerliche Gesellschaft in ihrer kompakten Masse die Wage bestimmt hat. Grahl wütete gegen sich selber. Er durfte sich nicht den Weg von der Arbeitsstätte zu Anna um den Preis der preiszugebenden Wahrheit erzwingen – aber die erfundene Begründung für seinen erwünschten Urlaub war schwach, lächerlich schwach gewesen. Dennoch hatte er plötzlich den Einfall, mit dieser selben Begründung direkt bei dem Chef den Antrag zu wiederholen. Er ist ein Mensch, sagte er vor sich hin, indem er mit seinen Händen die grauen Strähnen strich, die seinen Vorderkopf leicht überdeckten. Er ging in die Garderobe, um die Hände zu waschen. Als er eintrat, verstummte sofort das Gespräch der dort versammelten jungen Leute. Es blieb still, bis er den Raum verließ. Sein Gemüt war bedrückt. Er stand an der Tür zum Privatkontor seines Chefs. Er klopfte, trat ein und wartete auf eine einladende Geste, ehe er begann. Aber Winter, nachdem er sich unterrichtet hatte wer an der Tür stand, senkte die Augen hinter dem mit gelben Hornreifen umrandeten Kneifer auf die Lektüre, die vor ihm lag.
„Ich möchte Sie bitten ...“ begann Jakob Grahl.
„Sie wenden sich wohl an Ihren Bureauchef!“
Und Grahl wendete sich mit gebogenen Knien und ging.
Sein nächster Gedanke war, ohne Erlaubnis das Haus zu verlassen. Dieser Vorsatz war schon so stark befestigt, daß Grahl bis an die Garderobe kam. Aber dort, vor der Türe, den eckigen Schlüssel bereits in der Hand, schlug ihm die Ueberzeugung, daß dieser Entschluß die wohlbegründete Lösung des Arbeitsverhältnisses seitens der Firma zur Folge haben mußte, mit solcher Heftigkeit vor die Stirn, daß er aus seinem in sich selber versunkenen Denken wie durch den Anblick einer drohenden Tiefe erschreckt, zu der Wirklichkeit seiner Lage erwachte. Er sah sich schon jetzt dem Willen sämtlicher Vorgesetzten, der Gleichgültigkeit oder Spottlust und Klatschsucht seiner Kollegen preisgegeben. Er wußte nichts Besseres zu tun, als in Unterordnung die Pflicht zu erfüllen und in Demut zu hoffen, daß alle Anzeichen, die seine Entlassung vorauszuverkünden schienen – das Lächeln Herrn Karsts, das verstummte Gespräch der Kollegen, die Ereignisse dieses Morgens, die verachtende Haltung des Chefs – dennoch nichts mehr als Täuschungen wären, die den schreckhaften Vater, der seine Familie zu jeder Minute bewußt als den Antrieb im Innern spürte, zu leicht übermannten. Die Hoffnung und bange Erwartung vermochten sogar, ihm für einige Zeit vergessen zu machen, was Anna in dieser Stunde erleben mußte.
Man muß bedenken, daß der Gedanke, als Mann mit ergrautem Haar aus dem Dienste entlassen zu werden, schon am dreißigsten September, das will heißen: am Termin der Kündigung auf den ersten November desselben Jahres, die Perspektive auf Schrecknisse einer Zeit eröffnen konnte, wie der vor einigen Jahren beendete Krieg sie an einem gewissen Wendepunkt mit grausamen Händen gezeichnet; wie sie eben erst – aber dies trifft nicht einmal auf alle Familien zu – von den ungleich menschenfreundlichen Händen des Friedens verwischt worden war. Die Wirkung – die seelische wie die körperliche – der Kohlrübenjahre war damals und ist noch in unseren Tagen so mächtig, daß die Furcht vor der Situation des Stellungslosen in einer Zeit, da Massenentlassungen Mode wurden, keiner besonderen Begründung bedarf. Grahl – noch vor wenigen Stunden von einer ganz anderen Sorge gepeinigt – kannte jetzt nur noch eine Bitte an die schicksalsfügende Macht, an welche er glaubte, ohne sich dessen bewußt zu sein: Daß bis um die sechste Stunde der drohende Schlag der Entlassung ihn nicht treffen möge. Denn um jene Zeit verließen der Chef und die Mehrzahl der Angestellten das Haus. Hatte sich bis dahin die Gefahr nicht entladen, so war sie über ihm weitergezogen.
Aber noch war diese sechste Stunde nicht da. Nach drei rief ihn die Telephonistin in eine Zelle. „Anna,“ sagte er, und mit lautschlagendem Herzen nahm er den Hörer. Es war die Bitte um Aufschub eines zahlungssäumigen Kunden, dessen Konto Grahl in den Büchern führte.
Von nun an erschrak er jedesmal, wenn die Klingel des Telephons zu schrillen begann. Der Termin des Prozesses war um zwölf Uhr gewesen, aller Berechnung nach war nun das Urteil schon lange gesprochen. Sie wußten es, Gertrud wußte es, Hermann wahrscheinlich auch ... Und Anna ... Er aber saß hier und rang seine Finger, von Kümmernissen zu beiden Seiten des Herzens benagt. Mußten sie nicht schon längst eine Nachricht durchs Telephon für ihn haben? Und wäre es nur aus Besorgnis um ihn, warum er, seinem Versprechen entgegen, nicht im Gerichtsgebäude erschienen war ... Daß dieser erwartete Anruf nicht kam, erfüllte ihn mit brennender Angst, die in plötzlichen Wogen bis in die Augen stieg.
Die Zeiger waren bis fünf geschlichen, aus dem Privatkontor vernahm man die langhinsummenden Töne der Uhr. Grahl tat einen Atemzug der Erleichterung, aber indem seine Brust sich senken wollte, fiel auf das Buch, das mit offenen Seiten auf seinem Pult lag – ein Brief! Sein Kopf fuhr herum. Er sah den sechzehnjährigen Lehrling Menzel, der sich eben auf seinem Absatz drehte – übrigens nicht mit der Absicht, das mokante Lächeln auf seinem Gesicht zu verheimlichen. Grahl berührte den Brief noch nicht. Kein Brief mit der Post, keine Marke, kein Stempel. „Herrn Jakob Grahl, im Hause,“ stand auf dem Kuvert. Er faßte es an – er brauchte es nicht zu öffnen. Er schob es in seine Hosentasche. Sein Gesicht war aschgrau. Er fühlte den Halt seines Körpers verlorengehen, gleichsam ein notwendiges Gewicht aus dem Kopfe fallen. Es blieb eine Leere. Er stützte die hohe zerbrechliche Stirn zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken, während die Rechte noch in der Tasche am Umschlag tastete. Ein zitternder Seufzer ging unbewußt aus seinem bebenden Munde hervor. In diesem Augenblick durchschritt Winter mit seinen schallenden Schritten die Reihe der Pulte, er trug den schwarzen Hut tief auf die Geiernase gerückt. Ein gelber Rock hing von seinem gekrümmten Rücken herunter, er trug ein paar brauner Lederhandschuhe mit einem schweren Handstock mit silberner Krücke in Händen. Vor dem Hause erwartete ihn sein Automobil.