Neuntes Kapitel.

Zu stark für dies Leben   •   第11章

Neuntes Kapitel.

Am nächsten Morgen fand Grahl, wie erwartet, den Brief. Er hatte bereits ein kurzgehaltenes Antwortschreiben verfaßt, in dem er erklärte, es gäbe für ihn keine Veranlassung, von dem Amt, zu welchem die Stimmen der Wähler ihn berufen hatten, zurückzutreten. – Er ersuchte einen Boten, dies Schreiben zu überbringen, und blieb in einem Gefühl von Befriedigung und Verzweiflung zurück. Um sein laut klopfendes Herz zu beschwichtigen, wiederholte er sich mit gemurmelten Worten, daß das Gesetz seine Stellung auf zweifache Weise schützte. Aber die innerliche Empfindung von dennoch nagender Angst entsprang der Gewißheit von einem dunkel sich näher gegen ihn wälzenden Ende. Er hörte die triumphierenden Hörner der Jäger, das Kläffen der Hunde. Seine Stirne nickte kaum merkbar, nickte unaufhörlich nach dem unaufhörlichen Takt seines klopfenden Herzens.

Am Nachmittage wurde ihm ein Schreiben gebracht, des Inhalts, daß sämtliche Ausschußmitglieder von ihrem Amte zurückgetreten wären, um einen vom Personal neu zu wählenden Ausschuß zu ermöglichen und somit das unerwünschte Nebeneinander mit Grahl zu lösen. – Grahl, ohne merkbar mit einer Miene zu zucken, steckte den Brief in die Tasche. Nun wußte er auch, daß es eben diese Maßnahme war, die er gefürchtet hatte, als die Empfindung von Angst in ihm zu klopfen begann. Für eine halbe Stunde und länger war sein Denken gelähmt. Dann schrieb er mit fiebernder Hand einen Brief: Er protestierte; er verlangte Gehör.

Die Erregung in ihm, die nach entscheidender Aussprache drängte, trieb ihn, mit eigenen Händen den Brief in die Revisionsabteilung Herrn Baaß zu bringen. O, er kannte sie wohl, seine Kollegen vom Ausschuß. Sie standen nun alle unter dem Einfluß von Karst, dem sie gut zu gefallen suchten; der selber nun wohl eine Gunstbezeugung für die Vollstrecker seines Willens daran wenden mußte, nachdem dieser sein Wille, in unmittelbarem Angriff auf Grahl, sein Ziel nicht hatte erreichen können ...

Als er in dem langen Flur, dicht bei der Kantine, an der Tafel vorbeigehen wollte, wo für die Angestellten wichtige Mitteilungen zu finden waren, blickte ihn die Ueberschrift eines Aufrufs an: „Neuwahl zum Ausschuß am 29. Oktober“. – Grahl blieb stehen. Sein Herz stand still. Es war schon zu spät. Nun hieß ein Versuch, die Gegner von ihrem Unrecht zu überzeugen, sich vor ihnen zur Erde beugen ... umsonst sich zur Erde beugen. – Er wendete sich mit schurrenden Sohlen und kehrte den Weg über den langen Flur, sich nah an den getünchten Wänden haltend, zurück.

Das Oktoberwetter umpfiff ihn, als er den Weg nach Hause ging. War er vogelfrei? Mit seinem Mandat ging seine Immunität verloren. Ein Versuch zu erneuter Kandidatur wäre sinnlos. Aber dann blieb noch ein anderes Recht. Er konnte noch als einfacher Angestellter den bald neugebildeten Ausschuß zum Einspruch gegen die Kündigung aufrufen, die ihn voraussichtlich am letzten Tage des Monats traf. Aber die Hoffnung, die ihn auf diesem Wege begleiten konnte, war lächerlich winzig. Denn sicherlich würde die Mehrzahl der alten Ausschußmitglieder den neu zu wählenden Ausschuß bilden. Die Auflösung samt der folgenden Wahl – dies war ein taktischer Zug, wahrscheinlich betrieben von Karst, den Buchhalter Jakob Grahl aus dem Amt zu entfernen. War er nicht vogelfrei? Am 29. Oktober wird ihn ein Brief von seinem erloschenen Mandat in Kenntnis setzen, am 31. ein anderer von seiner Entlassung am 1. Dezember. Dann kann er noch einmal zum neuen Ausschuß gehen, der sich im besten Fall aus anderen Untertanen zusammensetzt als der alte – das kann er, als der gekündigte Buchhalter Grahl ... aber er wird es nicht tun.

Er hüpfte von einem Fuß auf den andern. Obgleich ihm der Wind ins Gesicht pfiff, glühte die Stirn. Nur die Finger, in seinen Manteltaschen, und die hüpfenden Füße waren eiskalt.

* * *

Aber es kam noch anders, als er erwartet hatte. Am Morgen des Neunundzwanzigsten war an Stelle des Aufrufs zur Wahl eine Mitteilung an die Tafel geheftet: Aus Mangel an Kandidaten konnte die Wahl nicht vonstatten gehen. – Es gab also keinen Ausschuß mehr. – Niemand wünschte durch die Eigenschaft als Führer des Personals in einen etwaigen Konflikt mit der Leitung der Firma zu geraten. Man hatte ja wohl bemerkt, wie wenig Sicherheit eine Immunität bedeutet, wenn sie Herrn Karst nicht gefällt ...

Mit der Kündigung, welche Grahl erwartungsgemäß am Vormittag des 31. Oktober (zum 1. Dezember) erhielt, wurde ihm sein Gehalt für den vergangenen Monat verabfolgt. An der Summe fehlte beinahe ein Drittel zu seinem Monatssalär. Er wandte sich an den Kassierer, der ihm erklärte, daß für den vergangenen Monat der Gehaltstarif für Boten und Packer, nach welchem der Vorgänger auf seinem Posten gelohnt worden war, auch für ihn Geltung hätte. – Ohne zu merken, daß er gegen Böcke rannte, und Menschen, die ihm im Wege standen, beiseite stieß, lief Grahl durchs Kontor und trat in den „Glaskasten“ ein, wo Herr Karst, einen Brief diktierend, am Schreibtisch saß. Ehe Grahl den ersten Satz mit hastiger, oft versagender Kehle zu Ende gesprochen hatte, hielt ihm Karst einen geschlossenen Umschlag entgegen. Er trug eine Aufschrift: „Zeugnis für Jakob Grahl“. – Grahl hörte Herrn Karst noch die Worte sagen: „Sie können nach Hause gehen. Die Firma verzichtet auf Ihre Tätigkeit, obgleich das Dienstverhältnis bis zum 1. Dezember geht. Sie brauchen nicht wiederzukommen. Trotzdem wird Ihnen am Letzten des kommenden Monats das Gehalt für einen Boten bezahlt. Adieu.“

Herr Karst fuhr fort, einen Brief zu diktieren. Grahl wollte entgegnen ... aber es schien ihm dann, als wäre es sinnlos, etwas zu sagen. – „Vollkommen sinnlos,“ sagte er mit vernehmlicher Stimme und stand im Regen vorm Haus.

* * *

„....., den 31. Oktober 1924.

Herrn Jakob Grahl.

Am 29. Oktober 1924 ist das Mandat des alten Angestelltenausschusses erloschen. Ein neuer Ausschuß ist nicht gewählt worden. Es besteht also seit diesem Tage kein Ausschuß mehr.

Mit dem Erlöschen des Mandats des alten Angestelltenausschusses ist auch Ihre Zugehörigkeit zum Angestelltenausschuß erloschen.

Die Voraussetzungen, weswegen uns von seiten des Arbeitsgerichts eine Kündigung versagt worden ist, sind somit in Fortfall gekommen.

Wir kündigen Ihnen daher hiermit Ihre Stellung zum 1. Dezember 1924.

Hochachtungsvoll
Winter, Komm.-Ges. (Personalleitung)
Karst.“

* * *

„....., den 31. Oktober 1924.

Zeugnis.

Herr Jakob Grahl war vom 1. Mai 1898 bis 31. Oktober 1924 bei uns beschäftigt.

Er fand während dieser Zeit in verschiedenen Abteilungen Verwendung und erledigte die leichteren Arbeiten zu unserer Zufriedenheit.

Das Vertragsverhältnis wurde von uns zum 1. Dezember 1924 gelöst, weil Herr Grahl sich den Anforderungen unserer Buchhaltung nicht gewachsen zeigte und wir eine Beschäftigungsmöglichkeit für ihn in anderen Abteilungen nicht fanden.

Seine Führung war, abgesehen von den letzten drei Monaten, gut.

ppa. Winter, Komm-Ges.
Karst.“