Achtes Kapitel.

Zu stark für dies Leben   •   第10章

Achtes Kapitel.

Am folgenden Tage wurde Grahl durch den Lehrling Menzel vor Herrn Karst gerufen. Herr Karst las in einem Briefe ruhig bis zu Ende, ohne den Gruß von Grahl erwidert zu haben, der nahe der Tür stehengeblieben war. Als er mit dem Lesen fertig war, machte der Personalchef dem Angestellten den Vorschlag, freiwillig zum Ende des Monats auszuscheiden.

Grahl glaubte im Ernst, nicht richtig verstanden zu haben. Herr Karst wiederholte den Vorschlag und Grahl konnte darauf nur fragen: Ob nicht gestern ein Beschluß der Instanz in dieser Sache entschieden hätte? Herr Karst überhörte diese Bemerkung. Es schien, als interessierten ihn nur seine eigenen Worte – und außer diesen höchstens die Bestätigung, die nach seinem Wunsch zu erfolgen hatte. Er wiederholte wörtlich das vorige Verlangen. Grahl preßte die flache Hand an die Stirn. – Sie nehmen mich hier beleidigend einfach, schien er zu denken. – „Wie soll ich auf das mir zugesprochene Recht verzichten?“ sagte er laut. – „Sie wollen also nicht?“ fragte Karst. – „Nein.“ – „Gehen Sie an Ihre Arbeit.“ – Grahl ging in die Paketannahme zurück.

Am nächsten Morgen wurde er wieder in das Glashaus des Herrn Karsts gerufen. „Haben Sie sich meine Frage inzwischen bedacht?“ fragte Karst. – „Ich hatte keine Veranlassung, dies zu tun.“ – „Was sollen wir also mit Ihnen beginnen?“ – Grahl schwieg. Dann sagte er fest: „Ich bin tauglich zur Arbeit, so gut wie ein anderer.“ – Mit einem Mal begann der Personalchef zu lächeln. Er stand auf und ging in vertraulicher Art bis dicht vor Grahl. Dann sagte er leise: „Ich will Ihnen einmal im geheimen eine Andeutung machen. Sie haben sich an der höchsten Stelle vorübergehend in Ungunst gebracht.“ – Grahl sagte kein Wort. Er blickte sein Gegenüber wartend an. – „Bedenken Sie,“ fuhr der Personalchef geheimnisvoll leise fort, „daß Ihr Mandat als Vertreter des Personals Sie in eine feindliche Stellung zur Leitung gedrängt hat.“ – „Was soll das heißen?“ fragte Grahl, indem er die Lider zusammenzog. – „Ihr Mandat ist zum Schaden für Sie, wie es scheint.“ – Er bemerkte, daß Grahl zu zittern und schwer zu atmen begann. Plötzlich verzog der Alte den Mund zu spöttischem Lächeln. „Das Gesetz, das den Angestelltenvertreter gegen die Leitung immun macht,“ sagte er langsam, „ist also nicht überflüssig, wie’s scheint. Vor dem Arbeitsgericht war von anderen Mängeln die Rede.“ – Karst biß die Lippen verärgert zusammen. – „Für Ihre Andeutung danke ich, ja,“ vollendete Grahl mit vollkommen höflichem Tonfall.

Karst sah seinen Plan gescheitert. Grahl durchschaute, daß man ihn von dem Amt eines Ausschußmitgliedes ablocken wollte, um ihn der Immunität zu berauben. Sein Gesicht verriet sein Verständnis davon. – „Gehen Sie an Ihre Arbeit,“ sagte der Personalchef verdrießlich.

Nach der Erregung und einer gewissen Wut, welche ihn überkam – ihm schienen die Mittel, mit welchen man ihn übertölpeln wollte, gar zu beleidigend – stellte sich eine Ruhe ein, aus dem Gefühl von Geborgenheit unter dem Spruch, mit dem das Gericht ihn vor dem furchtbaren Winter des Stellungslosen bewahrte. Morgens, wenn er die Wohnung verließ, schlug ihm der Windstoß, ein Bote des nahen November, kalt ins Gesicht. Grahl empfand seine Sicherheit mit triumphierender Freude, und er bestärkte sich, allen Versuchen, die ihn zu törichten Schritten verführen sollten, mit wortkarger Ablehnung oder offensichtlicher Ironie zu begegnen. Sie hatten ihm seinen alten Posten genommen – das mochten sie tun. Die Stellung, das Brot ihm zu nehmen, sollte so leicht nicht fallen. Dazwischen stand ein Gesetz.

Er war inzwischen auch in den Besitz der Urteilsbegründung gelangt.

„Da die Klägerin“ – hieß es in der Begründung – „bei ihrem ausgedehnten Betriebe vielerlei Verwendungsmöglichkeit für den Beklagten besitzt, so ist in keiner Weise begreiflich, warum dem Beklagten, dessen Tauglichkeit auf dem lange geführten Posten bestritten wird, nicht eine andere Tätigkeit übertragen werden sollte. Beklagter scheint zurzeit, unter dem Einfluß besonderer Verhältnisse, nicht voll dem gewohnten Amte genügen zu können.

„Das Gericht“ – hieß es weiter – „hält es für seine Pflicht, den häufigen Wechsel im Ausschuß zu unterdrücken. Denn nur ein Ausschuß, der die Verhältnisse der Firma und der Angestellten im einzelnen kennt, ist seiner Aufgabe gewachsen. Nur dort, wo ein wirklich wohlbegründetes Interesse des Arbeitgebers ersichtlich ist, wird er daher seine Zustimmung zur Kündigung geben. An einem solchen wohl begründeten Interesse fehlt es in diesem Falle durchaus.“

Da konnte Grahl also ruhig sein. –

Am nächsten Tage wurde er abermals vor den Personalchef gerufen. – „Sie wünschen gewiß ein Zeugnis zu erhalten?“ fragte ihn Karst – Unwillkürlich erbleichte Grahl. Er führte Daumen und Zeigefinger zur Brille. – „Nicht wahr?“ sagte der Personalchef lächelnd. Dies gutmütige Lächeln in dem vollen brutalen Gesicht warnte den Alten. – „Warum sollte ich wünschen, ein Zeugnis zu erhalten?“ stieß er gereizt hervor. – „Halten Sie es nicht für besser,“ sagte Karst, mit ernster Miene im Sessel lehnend, „daß Sie zum ersten November den Dienst hier quittieren?“ – „Ich denke gar nicht daran,“ rief Grahl. – „Ueber kurz oder lang werden Sie doch Ihren Posten verlassen müssen,“ sagte Karst mit überzeugter Stimme und gegeneinanderklopfenden Fingerspitzen; „es kann Ihnen vielleicht gelingen, einen Monat länger bei uns herumzuliegen. – Uebrigens, schämen Sie sich denn nicht, diesen Posten da in der Paketannahme so ganz selbstverständlich innezuhalten?“ – „Ich habe mir diesen Posten niemals gewünscht,“ rief Grahl entrüstet. – „Und Sie hoffen,“ fuhr sein Gegner fort, ohne dem Ausruf Beachtung zu schenken, „Sie hoffen nach Ihrem trotzigen Widerstand noch ein brauchbares Zeugnis zu erhalten?“ – „Ich will kein Zeugnis,“ rief Grahl, „ich habe Arbeit, ich habe Stellung – ich brauche kein Zeugnis.“ – „Sie werden bald anderer Meinung sein.“ – Grahl lachte. – „Ich rate Ihnen, sich klug zu verhalten. Geben Sie diese Stellung auf, wie man von Ihnen verlangt – so werden Sie mittels des Zeugnisses, das wir Ihnen ausstellen wollen, bald eine neue, besser geeignete Stellung gefunden haben. Verharren Sie aber in Ihrem ungeschickten Verhalten, so bleibt Ihnen, wenn Sie sich von den Tatsachen überflügelt finden, die Hilfe von unserer Seite versagt.“ – „Mein gutes Schicksal erspart mir,“ schrie Grahl, „sowohl das Los, eine Stellung suchen zu müssen – eine Stellung in dieser Zeit! – als auch das Unglück, Ihr Zeugnis erwarten zu müssen. Ich will nichts mehr hören!“ schrie Grahl. – „Gehen Sie an Ihre Arbeit,“ sagte der Personalchef, ohne ihn anzublicken.

„Hetzt mich, hetzt mich,“ murmelte Grahl, als er den langen Flur im Kellergeschoß hinabging – dort war die Paketannahme –; „solange ihr mich wie einen Hasen zu treiben versucht, merke ich doch, wie gern ihr mich fangen möchtet.“ –

Im Innern gereizt, aber äußerlich still, seinen Kummer sowie die Ursachen heimlich verschweigend, saß Grahl in seiner Stube, wo Gertrud, ihm gegenüber, mit langsamen regelmäßigen Zügen Brief um Brief und dazu die Adressen schrieb. Neben ihr lag die Abendzeitung, in welcher sie mehrere Inserate unter der „Zimmer“-Rubrik mit Kreuzen bezeichnet hatte. – Hermann war wohl zu einem Vortrag gegangen.

Plötzlich schellte es an der Wohnungstür. Beide erschraken. Gertrud ging; Grahl preßte die Hand auf die Brust ... Es war Herr Uri. Er konnte nicht umhin, gleich beim Eintritt einige sehr lustige, freundliche Sachen zu Gertrud zu sagen. Er komplimentierte die Farbe des Kleides und fand noch mehr zu bewundern. Gertrud legte eilig die fertigen Briefe zusammen, sie begab sich in die Küche, um für den Gast ein Abendbrot zu bereiten.

Als Herr Uri sich mit Grahl allein in der Stube befand, wurde der Ausdruck seines Gesichts nachdenklich ernst. Und dann – mit wenigen Worten unterrichtete er Grahl von dem neuesten Schlag, zu welchem man gegen ihn ausholte. Baaß und jenes Ausschußmitglied, das vor dem Arbeitsgericht mit Baaß zusammen als Zeuge der Firma erschienen war – diese beiden hatten in einer Versammlung, die eben beendigt war und sowohl alle Ausschußmitglieder, mit Ausnahme von Grahl, als auch eine Anzahl von Angestellten vereinigt hatte, den folgenden Antrag gestellt: Nach den beleidigenden Ausfällen Grahls vor dem Arbeitsgericht gegen eines der Ausschußmitglieder, Herrn Baaß, sei eine nutzbringende Gemeinschaft zwischen Grahl einerseits und den übrigen Mitgliedern andererseits zu bezweifeln. Unter Verzicht auf eine Entschuldigung seitens Grahls werde dieser aufgefordert, von seinem Posten als Ausschußmitglied zurückzutreten.

Grahl sprang auf, fiel in den Stuhl zurück, stemmte eine Faust auf das Herz und stöhnte. „Ich werde nicht!“ rief er aus, „ich habe keine Veranlassung, von meinem Posten zurückzutreten. Wer kann mich zwingen? Mich deckt nicht mein Recht allein – mich schützt das Gesetz auf zweifache Weise.“

„Lieber Grahl,“ sagte Herr Uri, „ich habe Ihnen mit dieser Nachricht nichts Gutes gebracht. Aber nun wird jene Aufforderung, welche Sie höchstwahrscheinlich schon morgen treffen wird, nicht mehr vermögen, Sie zu einem unbesonnenen Entschluß zu verleiten.“

„Mich verleiten?“ rief Grahl. „Zu einem Entschluß? Ich habe keine Veranlassung ... Was? Halten mich meine Kollegen für schwachsinnig – wie?“

Gertrud, ein Tablett vorsichtig in Händen tragend, kam an die Tür. Herr Uri sprang auf, um ihr behilflich zu sein. Und während der Stunde, für die Uri noch blieb, konnte er solch ein gutmütiges frohes Geplauder mit der Tochter seines Kollegen treiben, als wäre an diesem Abend von gar nichts Ernstem die Rede gewesen.