Siebentes Kapitel.

Zu stark für dies Leben   •   第9章

Siebentes Kapitel.

Am 21. Oktober, dem Termin der Arbeitsgerichtsverhandlung in Sachen der Firma Winter, Kommanditgesellschaft, gegen den Buchhalter Jakob Grahl, befanden sich vor dem Vorsitzenden: als der Vertreter der antragstellenden Firma der Personalchef Karst, als seine Zeugen Herr Baaß nebst einem andern Ausschußmitgliede – welches übrigens eines der drei widerspenstigen war –; ihm gegenüber: der Angestellte Grahl mit seinen Zeugen: Uri, langjährigem Pultgenossen von Grahl, und Rottmann, dem früheren Personalchef, der vor Jahresfrist als ein sechsundsiebzigjähriger Mann nach mehr als drei Jahrzehnten die Arbeit endgültig aus den Händen gelegt hatte. Er widersprach mit leiser fester Stimme der Meinung Herrn Karsts, der in dem Buchhalter Grahl das Prinzip der Unzuverlässigkeit in corpore erblickte. Rottmann vermochte mit gutem Gedächtnis aus Redewendungen Grahls, die er zitierte, und charakteristischer Handlungsweise, die er lebhaft zu schildern wußte, dem Vorsitzenden und seinen Beisitzern ein lebendiges Bild zu vermitteln. – Nach ihm wurde der Leiter der Revisionsabteilung, Herr Baaß, um seine Zeugenaussage befragt. Herr Baaß, indem er sich über den Schnurrbart rieb, begann im Tone der echtesten Ueberzeugung die Worte Herrn Karsts zu wiederholen. Aber er hatte kaum einige Sätze vorgebracht, als Grahl, der mit graublassem Gesicht und geschwollenen Schläfen am Tische stand, in unhemmbarer Erregung, mit hastig gestoßener heller Stimme zu widersprechen begann. Der Vorsitzende rief ihn zur Ruhe, er vermahnte ihn, bis die Aufforderung zur Rede an ihn erginge, stille zu schweigen. Aber Grahl, mit beschwörend vorgestreckten Armen, rief mit dringlichstem Ausdruck:

„Ihn treibt im besten Falle die Furcht, mit einem günstigen Wort über meine Leistung die Gunst seiner Obern zu verlieren. Ihn hindert Feigheit, ehrlich zu sein – nicht Feigheit, nein, ich verzeihe ihm das, weil ich weiß, wie es tut, um das Brot der Zukunft zu bangen.“

Darauf schwieg er still. Und es war eine Stille im Saal. Der Vorsitzende und seine Nebenmänner, von dem echten Klang dieser Stimme erschüttert, vergaßen den kühlen Ausdruck, dessen sie sich sonsthin bedienten. Die übrigen, die vor dem Tische standen, verhielten den Atem. Nur Karst, zuerst überrascht und mit ängstlichen Mienen – gab sich nun den verächtlichsten Ausdruck, dessen er fähig war. – Das Gericht ging nun zur Beratung über.

Dies Arbeitsgericht war vormals eine Funktion des Kaufmannsgerichts gewesen. Infolge vieler willkürlicher Entlassungen hatte es sich zur besonderen Instanz ausgebildet, und sein Zweck war die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Angestellten. Die Entscheidung dieses Gerichts war der „Beschluß“, gegen den ein Einspruch nicht möglich war. – Grahl stand mit gesenkten Augen am Tisch. Seine stummen Lippen drückten den Ueberdruß eines Mannes aus, der am Ende des Kampfes, ob Sieg oder Niederlage, mit der Empfindung unbegrenzter Verachtung den Platz verlassen wird. Dennoch wurde er noch um eine Nuance bleicher, als der Vorsitzende den Beschluß zu verkünden begann.

Der Beschluß hatte folgenden Wortlaut:

„In der Sache der Firma Winter, Komm.-Ges., Antragstellerin, gegen den Buchhalter Jakob Grahl, Antragträger, die Erwirkung der Erlaubnis zur Entlassung des Antragträgers betreffend, erkennt das Arbeitsgericht durch Richter und Beisitzer für Recht: Die beantragte Zustimmung zur Kündigung Grahls wird versagt. – Die Begründung folgt schriftlich.“

„Sehen Sie,“ sagte Herr Uri, der gar nicht zur Zeugenaussage gekommen war, „sehen Sie, Grahl, nun haben Sie doch nicht umsonst ihr gutes Zeug angelegt.“

Grahl bewegte die Lippen. Gertrud und Hermann, sagte er lautlos. Er lachte über Herrn Uris Spaß. Auf den Abend lud er ihn in die Wohnung ein. Herr Uri, der nicht verheiratet war, bewohnte ein kleines Zimmer und saß an den Abenden, die schon winterlich waren, in Cafés oder Restaurants. – Vorerst begaben sich die beiden zurück an die Arbeit, denn erst war Mittag vorbei. Grahl ging gebeugt, mit schüchtern gebogenen Knien neben der aufrechten breiten Gestalt seines Zeugen. Schon am Eingang zum Kontorhause, wo sie einige Bekannte trafen, rief Uri das Ergebnis mit schallender Stimme aus. Er drehte an seinem kräftigen Schnurrbart und lachte. Er ging an sein Pult, Grahl in die Paketannahme.

Abends bewirtete Grahl, der nun erleichterten Herzens seinen Kindern alle Erlebnisse der letzten Woche mitteilen konnte, den Gast. Zwar mußte er sich diesen Posten in der Paketannahme gefallen lassen ... mußte, noch mehr, bei Ablauf seines Mandats der Entlassung gewärtig sein – an eine Mandatsverlängerung war schwer zu glauben ... „Aber, mein Gott, hieße es nicht eigentlich undankbar sein, an diesem Tage der sicheren Gegenwart zu vergessen?“ fragte Uri, „um einer nicht unbedenklichen Zukunft willen?“

„Ja, ja,“ sagte Grahl. Aber er faßte nervös an die Brille und sah seine Kinder an.

„Und übrigens,“ meinte Uri, „stehen das Fräulein Tochter wie der Herr Sohn auf eigenen Füßen?“

Nein, Hermann studierte und brauchte nun einmal die Unterstützung des Vaters.

„Und Fräulein Gertrud?“ fragte Herr Uri. „Gehen Sie nicht nach dem Beispiel so vieler Frauen in berufliche Konkurrenz mit uns Männern?“

Grahls Tochter wurde rot, als Herr Uri, dieser Mann mit seinem großen Schnurrbart und den offenen blauen Augen, sich direkt an sie wandte. Sie schüttelte nur den Kopf.

„Das gefällt mir,“ sagte Herr Uri lachend, „und auch, daß Sie, was Ihre Kopfzier betrifft, nicht im Wettbewerb mit den Männern stehen.“

Hier mußten alle lachen. Herr Uri machte auf seine Art Komplimente. Gertrud hatte zwei goldblonde Zöpfe dicht und breit im Nacken gewunden. Sie bedeckten die Ohren – die sicherlich so dunkel erröteten wie Wangen und Stirn, als Herr Uri das Glas, mit einem leichten Rotwein gefüllt, ihr entgegenhielt, und mit seinem galantesten Lächeln sagte: „Zuerst auf Wohl und Genesung Ihrer Mutter im Krankenhause – und nun auf das Ihre!“

Er lachte und trank.

Grahl legte seine weiße Stirn zwischen Daumen und Zeigefinger; Gertrud bückte sich, um ein Fädchen vom Teppich zu geben; Hermann sprach einige Silben, stand auf und entfernte sich aus der Stube.