Zwölftes Kapitel.
Zu stark für dies Leben • 第14章
Zwölftes Kapitel.
Einige Tage nach dem Begräbnis ihrer Eltern saß Gertrud abends allein am Tisch, die Augen auf beide Arme gelegt. Ueber ihr zischte leise das Gaslicht. Vor ihr stand die Lade einer Kommode, deren Inhalt zum Teil auf dem Tisch ausgebreitet war. Mit ihren Armen lag Gertrud auf einigen Blättern beschriebenen Briefpapiers. Neben ihr krümmte sich ein besonderes Blatt, welches wahrscheinlich zerknüllt in dem Schubfach gelegen hatte, denn es bog sich mit vielen Falten und knackte, als wollte es sich nicht in die neue Lage gewöhnen. Dies Fach, das Gertrud an diesem Abend zu sichten unternommen hatte, war Frau Annas Privatfach gewesen, in welches noch keines der Kinder Einblick genommen hatte. Gertrud, um sie ihrem Bruder zu ersparen, hatte entschlossen die gefürchtete Arbeit begonnen. Aber nun stockte sie schon, von der Gegenwart dieser lebendigen Schrift übermannt, unter aufsteigenden Erinnerungen.
Plötzlich klopfte es an die Tür und Herr Uri war da. Gertrud sprang auf. Herr Uri mußte von Hermann, der eben die Wohnung verlassen hatte, eingelassen worden sein. Auf seinen Gruß erhielt er ein schmerzliches Lächeln zur Antwort, er hörte den hellen Ton unterdrückten Schluchzens – und befand sich, ehe er noch zu Worte gekommen war, allein in der Stube.
Mit dem dringenden Wunsche, diesem Mädchen, dem von ihren Eltern geblieben war, was sich auf einem Tische ausbreiten ließ, Trost, Hilfe und – wenn es die Konstellation ergäbe – mehr noch zu bringen, ließ sich Herr Uri auf dem Sofa nieder. Es gingen Minuten vorbei. Die Wanduhr schlug. Endlich bemerkte er das Blatt, das offensichtlich einmal zerknüllt gewesen war, und las.
„Sehr geehrter Herr Mörk!
Sie haben mich beim Gericht verklagt. Sie denken wahrscheinlich bei sich: Diese Frau ist eine Verbrecherin, es ist gut, sie vor die Richter zu bringen. Wenn ich Ihnen aber dagegen sage, daß ich in meinem Leben bis heute – da mir von meinen blonden Haaren das letzte ergraut ist – noch niemals versuchte, irgend jemandem mit Bedacht zu schaden, und daß mein Unrecht, wenn es nun einmal zu existieren scheint, ein Spiel des Unglücks mit meinem ehrlichen Namen ist – so ziehen Sie vielleicht die Anklage, die Sie gegen mich führen, zurück? Was mir auch vom Gericht aus geschehen möge, ich werde nicht vor Schande und auch nicht vom Hohn meiner Nachbarn sterben. Aber der Gedanke, ein falsches Urteil entgegennehmen zu müssen, das ist für mich ein Todesgedanke. Ich weiß, daß vieles gegen mich zeugt, und ich sage Ihnen: Ich bin doch nicht schuldig. Und ich werde es nicht ertragen.“
An Stelle der Unterschrift standen folgende Worte:
„Nie im Leben schick ich dies ab.“
Herr Uri nahm die Blätter von Gertruds Platz.
„Abschrift.
Herr Mörk!
Wäre ich Ihre Mutter, und ich würde von meines dreißigjährigen Sohnes Bosheit erfahren, von seiner schamlosen Art – ich würde vergessen, daß dies giftige Wesen mein Sohn ist. Wir kennen alle den Grund zu diesem Prozeß, mit dem Sie uns einige Monate drohten, ehe Sie ihn zur Ausführung brachten. Da die Drohungen mein Kind nicht zu Ihrer Verfügung willfährig machten, so wollen Sie doch Ihre Rache haben! Die haben Sie jetzt. Aber Sie haben auch einen Schlag ins Gesicht erhalten, von der Hand meiner Tochter! Ich glaube, Sie denken länger daran, als ich an die armselige Rache von Ihnen. Ich gehe singend ins Gefängnis hinein, mir ist das eine kleine Erholung.
Ich speie Sie an!
Anna Grahl.“
„(Für den Gerichtstag.)
Herr Richter!
Jetzt will ich einmal diese Sache berichten. Es handelt sich um einen Stuhl. Dieser Stuhl, der kostbarste in meinem Hause, war ein Sessel mit rotem Seidenplüschbezug. Weil er war der schönste Sessel, den ich hatte, stand er im Vorderzimmer, wo alle guten Möbel stehen. Dies Vorderzimmer bewohnte Herr Mörk. Er hat meinen Sessel so schlecht behandelt, als wäre der Stuhl eine Waschtischplatte. Flecke im Stoff und Schrammen am Holz fand ich immer neu. Endlich verlangte ich, daß Herr Mörk meinen Stuhl reparieren lasse. Herr Mörk sagte: ja. Und ich denke mir, Herr Mörk hat gewußt, warum er nicht gern von dem Sessel sprach. (Bei dieser Stelle sehe ich Mörk an, mit einem vielbedeutenden Blick, so daß die Richter sich denken können, bei welchen Gelegenheiten mein Sessel zu Schaden kam.) Der Tapezierer holte den Sessel und behielt ihn einige Wochen. Nun hatte ich aber inzwischen die Wohnungsmiete zu bezahlen. Ich brauchte Geld. Herr Mörk ist der einzige Mieter in meiner Wohnung gewesen. Mein Sohn ist Student, meine Tochter lernt Schneiderei, nur der Vater verdient für uns alle. Ich verlangte Herrn Mörk nun die Summe ab, die mir der Tapezierer als Kosten für seine Arbeit zum Voraus genannt hat. Das waren fünfzehn Mark. Denn der Stuhl war verschandelt. Herr Mörk hat gefragt, wo der Stuhl denn nun wäre. Der Stuhl war damals beim Tapezierer. Ich gab ihm zur Antwort: Den Sessel bekäme er niemals wieder. Weil nun Herr Mörk nicht gern von dem Sessel spricht (hier seh ich Mörk wieder an), bezahlte er mir die fünfzehn Mark und war still. Aber einige Wochen später, als der Stuhl schon wieder im Hause war und bei uns in der Stube stand, wollte Herr Mörk die Quittung des Tapezierers sehen. Ich hatte nun eine Rechnung, die lautete über acht Mark und fünfzig. Diese Summe hab ich bezahlt, als der Tapezierer den Sessel zurück in die Wohnung brachte. Ich hatte damals bei mir gedacht: Eigentlich sollte das teurer werden. – Aber weiter nichts. Wie Herr Mörk nun die Rechnung zu sehen verlangte, merkte ich, daß ich ins Unrecht kam. Darum ging ich zum Tapezierer, er sollte mir eine Rechnung geben von fünfzehn Mark, und ich wollte ihm sechs Mark und fünfzig dazu bezahlen. Der Tapezierer fragte, weshalb ich es teurer haben wollte, und ich erzählte ihm das. Da wollte der Tapezierer nicht. Ich sagte ihm aber, er müsse – weil er mir doch zum Voraus fünfzehn Mark, aber nicht acht Mark und fünfzig gesagt hat. Er antwortete mir, es hätte weniger Arbeit gemacht als er dachte. Und es bliebe dabei. Da habe ich ihm erklärt, was er täte, und habe ihm auch gesagt, wie Herr Mörk es nicht gut mit uns meinte. Der Tapezierer wollte trotzdem nicht. Da bin ich nach Hause gegangen und habe mir ein Stück Rechenpapier genommen und habe die Rechnung des Tapezierers darauf geschrieben und am Ende die Zahl, die der Tapezierer im Anfang genannt hat. Herr Mörk ist zum Tapezierer gegangen, der erzählte ihm dann den Sachverhalt. Nun hat mich Herr Mörk vor Gericht gebracht, obgleich er wohl wußte, wie einfach die sechs Mark und fünfzig auf gütlichem Wege von mir zu haben waren. Herr Mörk war aber nicht auf sein Geld, sondern auf seine Rache bedacht –“
„Diese Rede hat meine unglückliche Mutter fest im Gedächtnis gehabt,“ sagte Gertrud, die vor Herrn Uri stand, „und schon im ersten Satz unterbrach sie der Richter so schroff, daß sie für die folgende Verhandlung fast gänzlich verstummte. Lesen Sie diesen Zeitungsbericht. Sagen Sie mir, weshalb sind die Richter und Zeitungsleute so grausam? Ist es nicht so genug?“
„Warum denn nicht?“ hieß die Ueberschrift des Artikels. – Warum denn nicht, sagte Frau Anna Grahl, die sich gestern vor dem Richter zu verantworten hatte, warum soll ich nicht sechs Mark und fünfzig verdienen? Und sie ahmte mit emsigem Fleiß die Handschrift es Tapezierers nach, um die vollendete Abschrift dem Untermieter Herrn Mörk, der seinerseits die Reparatur für einen zuschanden gerittenen Sessel zu zahlen hatte, mit dem kleinen Aufschlag von achtzig Prozent zu präsentieren. Herr Mörk aber sagte nun umgekehrt: Warum denn ja? und besuchte einmal den Tapezierer Herrn Bethge –
„Dieser Schreiberhund gehört vor Gericht,“ brummte Herr Uri, dem der Zorn das Blut in die Stirne getrieben hatte. „Er lebt von dem Schicksal der vor den Richter Geladenen und ist ihnen dankbar, indem er seinen erbärmlichen Witz daran wendet, sie zu verhöhnen.“
„Ja, es war genug, um zwei Menschen davonzujagen!“
Herr Uri erhob sich und stand gerade vor Gertrud. „Nein,“ sagte er ruhig, „sie sind Beide an einem Tage gegangen, mit einem schlechten Geschmack vom Leben, aber durchaus nicht gejagt. Ihre Mutter war konsequent genug, dies ihr Erlebnis ins allgemeine zu übertragen. Sie sah den Menschen den Zähnen der Hunde ausgesetzt, – er braucht sich nur eine Blöße zu geben. Sie wünschte nicht solchen dauernden Zustand, für den ihr nicht Mut, aber Knechtseligkeit, Unterwürfigkeit, Listigkeit fehlte – und vor allem die Schwäche, ein sinnloses Leben zu Ende zu führen. Ein vor Gewalt ungesichertes Dasein war sinnlos für sie, ihr fehlte die Müdigkeit, unfrei zu leben. Sie war noch nicht zahm. So war auch Grahl. Er lebte verständig, gerecht – und an dem Tage, als er bemerkte, man müsse das Beste im Leben freiwillig vernichten, um unter den Menschen im Kampf zu bestehen, da ging sein Dasein von selber zu Ende. Es ist nicht Stärke – wie die Leute so gerne behaupten, um sich selbst zu bemänteln –, sondern Schwäche, wenn sie ein Leben, das sie für sinnlos halten, doch weiter führen. Alle bemühen sich, zahm zu sein. Sehen Sie Ihren Bruder Hermann. Er ist wie Ihr Vater. Aber er fürchtet sich, er will nicht so sein, er kennt seinen Untergang mit seinem starken, trotzigen Herzen als Steuer. Darum zieht er sich lieber vor sich selber zurück, er ist sich gefährlich. – Er taucht in die Tiefe, um mit den anderen zu leben, zu handeln und ihre Sprache zu sprechen. Man nennt die Sieger im Kampf unter Menschen die Starken – aber die wahren Starken sind zu stark für dies Leben.“
Es entstand eine Pause.
„Noch eins,“ sagte Uri, und zog seinen braunblonden Schnurrbart. „Noch eins“ – und er wurde fast rot – „ist das Zimmer von diesem Mörk noch leer?“
„Ja,“ sagte Gertrud.
„Ich möchte da wohnen,“ sagte Herr Uri.
„Sie –?“ fragte Gertrud und stockte.
„Morgen,“ fragte Herr Uri, „ziehe ich ein?“