IX.
Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt • 第11章
Und in mein Haus zieh frei und heiter
Als stolze Herrin ein!
Darauf beginnt dann das Leben, wir fahren ins Ausland usw., usw. Kurz, – ich schämte mich schließlich vor mir selber und zeigte mir die Zunge.
„Und man wird ihr ja überhaupt nicht die Erlaubnis geben, auszugehn,“ sagte ich mir zur Beruhigung. „Ich glaube, man läßt sie nicht allzu oft spazieren gehn, abends schon ganz bestimmt nicht!“ Ich weiß nicht, warum ich annahm, daß sie am Abend kommen würde, und warum ich glaubte, daß es gerade um sieben Uhr sein würde. „Aber sie hat mir doch gesagt, daß sie sich dort noch nicht ganz verdungen hat, noch besondere Vorrechte genießt; das heißt, hm! Teufel noch eins, dann wird sie kommen, dann wird sie ja bestimmt kommen!“
Gut, daß mich in dieser Zeit mein Apollon mit seinen Grobheiten zerstreute. Der brachte mich wirklich um meine letzte Geduld! Das war ja meine Seuche, meine Geißel Gottes, die die Vorsehung speziell für mich geschaffen hatte! Schon mehrere Jahre lang suchten wir uns gegenseitig zu übertrumpfen und ich haßte ihn regelrecht. Oh Gott, wie ich ihn haßte! Noch kein einziges lebendes Wesen habe ich, glaub ich, so gehaßt wie diese Kreatur, besonders in gewissen Augenblicken. So als Mensch war er schon bejahrt, gravitätisch und erhaben. Hin und wieder beschäftigte er sich mit Schneiderarbeit. Es wird ewig ein Geheimnis bleiben, warum er mich verachtete, jedenfalls aber tat er das über alle Maßen: er blickte unerträglich hochmütig auf mich herab. Übrigens behandelte er alle Welt von oben herab. Nur ein Blick auf dieses Gesicht mit den weißen Augenbrauen und Wimpern, auf diesen glattgekämmten Kopf, auf diese Locke, die er sich über der Stirn drehte und mit gewöhnlicher Küchenbutter einsalbte, auf diesen soliden Mund mit der spitzen Oberlippe und den zurückgezogenen Mundwinkeln, der ganz wie ein lateinisches v aussah, – und wahrlich, meine Herren, Sie würden ein Wesen vor sich sehn, das kein einziges Mal an sich gezweifelt hat. Das war ein Pedant vom allerreinsten Wasser, der allergrößte Pedant von allen, die in der Welt je gelebt, und dazu besaß das Vieh noch eine Eigenliebe, die sich vielleicht höchstens Alexander der Große hätte leisten können. Er war in jeden Knopf seines Rockes verliebt, in jeden Nagel seiner Extremitäten – unbedingt gerade verliebt, das sah man ihm ja deutlich an der Nasenspitze an! Zu mir verhielt er sich unveränderlich despotisch, würdigte mich selten eines Wortes, und blickte er mich einmal an, so geschah das mit einer festen, majestätisch-selbstbewußten und immer etwas spöttischen Miene, die mich zuweilen bis zum Wahnsinn brachte. Seine Pflicht erfüllte er mit einem Gesichtsausdruck, als ob er mir die größte Gnade erwies. Bei der Gelegenheit sei noch bemerkt, daß er so gut wie überhaupt nichts machte, und sich nicht einmal für verpflichtet hielt, etwas zu machen. Daß er mich für den letzten Dummkopf der Welt hielt, und „mich nur bei sich hielt“, weil ich ihm dafür monatlich sieben Rubel zahlte, darüber konnte kein Zweifel bestehn. Er war einverstanden, bei mir für diese sieben Rubel monatlich „nichts zu machen“. Seinetwegen werden mir sicherlich viele Sünden vergeben werden. Zuweilen war mein Haß auf ihn so groß, daß mich schon sein Gang zu Krämpfen brachte. Doch ganz besonders widerlich war mir seine Art zu sprechen. Seine Zunge war, glaub ich, etwas länger als es sich gehört, und so lispelte er denn beständig und sprach die Zischlaute einfach scheußlich aus, doch schien er auf sein Lispeln ungeheuer stolz zu sein: er glaubte wahrscheinlich, daß es ihm eine gewisse Vornehmheit verlieh. Er sprach gewöhnlich leise, gemessen, wobei er die Hände auf dem Rücken hielt und schräg zu Boden blickte. Ganz besonders ärgerte er mich, wenn er bei sich in seiner Kammer, die nur durch eine dünne Wand von meinem Zimmer geschieden war, die Psalmen las. Oh, groß war das Kreuz, das mir diese Psalmen aufluden! Er aber liebte es sehr, des Abends zu lesen mit seiner leisen, gleichmäßigen Stimme, ein wenig singend – ganz als ob er neben einer Leiche gesessen und für den Toten gelesen hätte. Jetzt ist er auch glücklich Psalmenleser geworden: hält Totenwacht und liest die Bibel, vertilgt Ratten und macht Wichse. Damals jedoch konnte ich ihn nicht fortschicken, ich glaube, er war mit meiner Existenz irgendwie chemisch verbunden. Zudem hätte er um nichts in der Welt eingewilligt, von mir fortzugehn. Ich aber konnte nicht in einem Chambre-garnie wohnen: meine kleine Wohnung war abgesondert, hatte nichts mit den anderen Mietern zu tun, sie war meine Schale, mein Futteral, in das ich mich verkroch, um mich vor der ganzen Menschheit zu verstecken. Apollon aber schien mir, weiß der Teufel warum, zu dieser Wohnung zu gehören und so konnte ich ihn denn ganze sieben Jahre lang nicht vor die Tür setzen.
Seine Monatsgage auch nur zwei oder gar drei Tage lang zurückzuhalten, war vollkommen ausgeschlossen. Er hätte mich so gepeinigt, daß ich nicht gewußt hätte, wo mich verkriechen. In diesen Tagen aber war ich dermaßen erbittert auf alle Welt, daß ich mich aus irgend einem Grunde und zu irgend einem Zweck entschloß, meinen Apollon zu bestrafen – ihm das Geld erst nach ganzen zwei Wochen zu geben. Das hatte ich mir schon lange, schon seit zwei Jahren vorgenommen, – einzig, um ihm zu beweisen, daß er kein Recht hatte, sich vor mir so breit zu machen, und daß ich ihm seine Gage auszahlen konnte, „wann es mir gefällt.“ Ich beschloß also, vom Gelde kein Wort zu sagen und sogar absichtlich zu schweigen, um seinen Stolz zu besiegen, und ihn zu zwingen, sich die Gage von mir auszubitten. Dann erst würde ich die sieben Rubel aus dem Kasten nehmen, sie ihm zeigen und sagen, daß ich sie habe, sie ihm aber doch nicht gebe, „einfach weil ich nicht will, nicht will, nicht will – kurz, da ich das so will,“ weil das so mein „Herrenwille“ ist, weil er nicht ehrerbietig genug ist, weil er ein Grobian ist! Falls er aber bescheiden wie es sich gehört um das Geld bitten wollte, so würde ich mich meinetwegen auch erweichen lassen, und ihm die sieben Rubel geben; wenn nicht, dann könne er noch zwei Wochen warten, könne er drei Wochen warten, könne er ’nen ganzen Monat warten! ...
Aber wie wütend ich auch war, er blieb doch Sieger. Nicht vier Tage lang hätte ich’s ausgehalten. Er begann damit, womit er in ähnlichen Fällen immer zu beginnen pflegte – denn ähnliche Fälle hatte es schon gegeben; und ich bemerke noch, daß ich im Voraus wußte, wie es kommen würde: kannte ich doch seine ganze niederträchtige Taktik schon auswendig! Nämlich: er begann damit, daß er einen ungemein strengen Blick auf mich richtete und ihn einige Minuten lang nicht von mir abwandte. Das geschah gewöhnlich, wenn ich ausging oder heimkehrte – dann begleitete oder empfing mich dieser liebe Blick. Tat ich dann z. B., als bemerkte ich ihn samt seinen Blicken überhaupt nicht, so schritt er – wiederum schweigend – zum nächsten Folterexperiment. Plötzlich kommt er mir nichts, dir nichts leise und mit leichten Schritten in mein Zimmer, wenn ich auf und ab gehe oder lese, bleibt an der Tür stehn, legt eine Hand auf den Rücken stellt das eine Bein etwas vor und richtet seinen Blick auf mich – dieser Blick ist aber dann nicht etwa bloß streng, sondern er drückt mit ihm zugleich seine ganze niederschmetternde Verachtung aus, die er für mich empfindet. Wenn ich ihn dann plötzlich frage, was er will, warum er eingetreten ist, so antwortet er mir keine Silbe, fährt nur fort, mich noch einige Sekunden lang starr anzusehn und darauf, nachdem er ganz absonderlich die Lippen zusammengepreßt hat, dreht er sich mit vielbedeutsamer Miene langsam auf demselben Fleck um und verläßt langsam das Zimmer. Nach etwa zwei Stunden öffnet sich plötzlich wieder die Tür und mein Apollon stellt sich von neuem auf ... Es kam vor, daß ich vor Wut ihn überhaupt nicht fragte, was er suche, sondern kurz entschlossen, gebieterisch meinen Kopf in den Nacken warf und ihn gleichfalls unbeweglich anblickte. Dann schauten wir uns auf diese Weise eine geraume Zeit an, bis er sich endlich langsam und wichtig umdrehte und mich auf weitere zwei Stunden verließ.
Ließ ich mich durch diese Manöver immer noch nicht eines Besseren belehren, so fing er mit einem Mal an, zu – seufzen: er blickte mich an und seufzte tief, ganz als wollte er mit diesem langen, langen Atem die ganze Tiefe meiner moralischen Gesunkenheit ausmessen. Nun, versteht sich, es endete damit, daß er mich vollkommen besiegte: ich wütete, schrie, schimpfte, aber das, um was es sich drehte, mußte ich schließlich doch tun.
Dieses Mal aber, als die üblichen Manöver der „strengen Blicke“ begannen, geriet ich sofort außer mir und stürzte mich wutbebend auf meinen Peiniger. War ich doch schon so wie so gereizt!
„Bleib!“ schrie ich ihn an, als er sich langsam und schweigend, die eine Hand auf dem Rücken, wieder umdrehen wollte, um hinauszugehn. – „Bleib! Komm zurück! Komm zurück, sag ich Dir!“ Ich muß wohl so absonderlich gegröhlt haben, daß er sich umkehrte und mich sogar einigermaßen erstaunt anblickte. Übrigens sagte er wieder kein Wort, was mich total verrückt machte.
„Wie unterstehst Du Dich, ohne Erlaubnis einzutreten und mich so zu betrachten, antworte!“
Er aber betrachtete mich wieder etwa dreißig Sekunden lang und fing dann wieder an, sich langsam umzudrehen.
„Steh!“ schrie ich und stürzte auf ihn zu, „nicht vom Fleck! So! Jetzt antworte: Was suchst Du hier?“
„Wenn Sie mir jetzt was anzuordnen haben, so ist es meine Sache, es auszuführen,“ sagte er nach kurzem Schweigen ruhig und gemessen wie immer, wobei er leicht die Augenbrauen heraufzog und langsam den Kopf von der einen Seite auf die andere bog, – und all das geschah wiederum mit erschreckender Ruhe.
„Ach, davon rede ich nicht, Henker!“ schrie ich zornbebend. „Ich werde Dir, Henker, selbst sagen, warum Du herkommst: Du siehst, daß ich Dir die Gage nicht auszahle, willst aber aus Stolz nicht darum bitten, und so kommst Du dann mit Deinen dummen Blicken; mich dafür strafen, quälen, und den–k–s–t nicht einmal, Du Henker, daß das dumm ist, dumm, fabelhaft dumm, bodenlos dumm!“
Er schickte sich wieder an, sich langsam umzudrehen, ich aber packte ihn.
„Hör!“ schrie ich ihn an. „Sieh, hier ist das Geld, siehst Du, siehst Du, hier ist es!“ – Ich riß das Schubfach meines Tisches auf und nahm das Geld heraus.
„Volle sieben Rubel! Du aber bekommst sie nicht, be–komm–s–t sie nicht, so lange bekommst Du sie nicht, bis du kommst und höflich, reumütig mich um Verzeihung bittest! Hast Du mich verstanden?“
„Das kann niemals geschehen!“ antwortete er mit einem geradezu übernatürlichen Selbstbewußtsein.
„Wird aber!“ brüllte ich, „geb Dir mein Ehrenwort, daß es geschehen wird!“
„Und für was soll ich Sie denn um Verzeihung bitten?“ fuhr er fort, als ob er mein Geschrei überhaupt nicht hörte. „Sie haben mich doch Henker genannt, für was ich Sie jederzeit auf der Polizei wegen Beleidigung anzeigen kann.“
„Geh! Tu’s nur!“ schrie ich heiser, „geh sofort, sofort, hörst Du! Ein Henker bist Du doch! Henker! Henker!“ – Er jedoch schenkte mir nur einen Blick und schritt ruhig und selbstbewußt hinaus.
„Wenn’s keine Lisa gäbe, würde nichts von alledem geschehen sein!“ entschied ich still bei mir. Darauf, nachdem ich eine Minute lang gestanden hatte, begab ich mich würdevoll und feierlich, doch mit langsam- und starkklopfendem Herzen in eigener Person in seine Kammer.
„Apoll!“ sagte ich ruhig und bedeutsam, in Wirklichkeit aber war ich nichts weniger als ruhig. „Geh sofort zum Polizeioffizier unseres Stadtviertels!“
Er hatte sich inzwischen schon an seinen Tisch gesetzt, die Brille auf die Nase geschoben und seine Arbeit wieder aufgenommen. Als er so plötzlich meinen Befehl hörte, lachte er mit einem Mal laut auf.
„Sofort, geh sofort! Geh, oder – Du weißt nicht, was sonst geschieht!“
„Sie sind wohl nicht ganz normal,“ meinte er darauf gemächlich, ohne selbst den Kopf zu erheben, denn er fädelte gerade seine Nadel ein. „Und wer hat denn je erlebt, daß ein Mensch wegen sich selbst die Polizei ruft? Was aber die Angst anbetrifft, so ängstigen Sie sich umsonst, es wird nichts geschehn.“
„Geh!“ krächzte ich und packte ihn an der Schulter. Ich fühlte, daß ich ihn sofort schlagen würde.
Ich überhörte es ganz, daß in demselben Augenblick die Flurtür geöffnet wurde und irgend jemand eintrat, stehn blieb und schließlich uns verwundert anstarrte.
Da blickte ich plötzlich hin und – ich erstarrte zuerst vor Schande und stürzte dann in mein Zimmer. Dort krallte ich meine Hände ins Haar, stützte den Kopf an die Wand und blieb unbewegt in dieser Stellung.
Nach einiger Zeit hörte ich die langsamen Schritte Apollons.
„Irgend Eine fragt dort nach Ihnen,“ sagte er, mich ganz besonders streng messend, worauf er zur Seite trat und Lisa eintreten ließ. Er wollte nicht hinausgehn und betrachtete mich spöttisch.
„Pack Dich!“ kommandierte ich halb bewußtlos. In dem Augenblick fing meine Wanduhr an zu schnarren und schlug dann sieben Mal.
IX.
Und in mein Haus zieh frei und heiter
Als stolze Herrin ein.
Ich stand vor ihr – vernichtet und in einer Weise fassungslos, die abstoßend sein mußte, und lächelte, glaub ich, wobei ich mich krampfhaft bemühte, die Schöße meines schäbigen wattierten Schlafrockes übereinander zu schlagen, – auf ein Haar so, wie ich es mir noch kurz vorher in einer verzagten Stunde vorgestellt hatte. Apollon schob zwar nach zwei Minuten ab, doch wurde mir deswegen noch nicht leichter. Am schlimmsten aber war, daß sie plötzlich gleichfalls verlegen wurde, und das sogar dermaßen, wie ich es nie von ihr erwartet hätte. Bei meinem Anblick, versteht sich.
„Setz Dich,“ sagte ich mechanisch und rückte für sie einen Stuhl an den Tisch, selbst aber setzte ich mich auf das Sofa. Sie nahm sofort gehorsam Platz, blickte mich aber mit weit offenen Augen an, als erwartete sie sofort etwas Besonderes von mir. Diese Naivität der Erwartung war’s ja, was mich aus der Haut brachte. Bezwang mich jedoch.
Da wär’s doch das einzig Vernünftige gewesen, zu tun, als bemerke man nichts, als sei alles so, wie es sein müßte, sie aber ... – Und dumpf fühlte ich schon, daß sie für all dieses bitter büßen würde.
„Du hast mich in einer sonderbaren Lage angetroffen, Lisa,“ begann ich stockend – mit dem vollen Bewußtsein, daß man gerade so nicht anfangen durfte.
„Nein nein, denk nur nichts Schlechtes!“ rief ich schnell, als ich bemerkte, daß sie plötzlich errötete, „ich schäme mich nicht meiner Armut ... Im Gegenteil, ich bin stolz auf meine Armut. Ich bin arm aber edel ... Das kann man, das kann man ... arm aber edel,“ stotterte ich. „Übrigens ... Willst Du Tee?“
„Nein ...“ sie wollte noch mehr sagen.
„Wart!“
Ich sprang auf und lief hinaus zu Apollon. Man mußte doch irgend etwas tun.
„Apoll,“ sagte ich leise, doch fieberhaft erregt, „hier hast Du Deine Gage, siehst Du, ich gebe sie Dir!“ Damit warf ich das Geld, das ich noch in der Hand behalten hatte, auf seinen Tisch, „aber dafür mußt Du mich retten: geh sofort hier in das nächste Restaurant und bring mir Tee und Zwieback ... zehn Stück. Wenn Du nicht gehst, so stürzt Du einen Menschen ins Unglück! Du weißt nicht, was das für ein Wesen ist ... Sie ist – alles! Vielleicht glaubst Du irgend etwas. ... Aber Du weißt ja nicht, was das für ein Wesen ist! ...“
Apollon, der sich schon wieder an seine Arbeit gemacht und die Brille aufgesetzt hatte, schielte zuerst, ohne die Nadel aus der Hand zu legen, mißtrauisch auf das Geld; fuhr aber fort, ohne auf mich die geringste Aufmerksamkeit zu verwenden, an seinem Zwirnfaden herumzuzupfen. Ich wartete etwa drei Minuten lang in einer Stellung à la Napoleon. An meinen Schläfen rann kalter Schweiß herab; mein Gesicht war bleich, das fühlte ich. Endlich – Gott sei Dank! – erfaßte ihn ein menschliches Rühren. Nachdem er mit seinem Faden fertig geworden war, erhob er sich langsam, schob langsam den Stuhl zurück, nahm langsam die Brille ab, zählte langsam das Geld nach, und fragte mich dann langsam über die Schulter, ob er eine ganze Portion nehmen solle, worauf er langsam das Zimmer verließ. Als ich zu Lisa zurückkehrte, zuckte mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: einfach so wie ich war, im alten Schlafrock, fortzulaufen, einerlei wohin, immer geradeaus – und dann komme was da kommen mag.
Ich setzte mich wieder auf mein Sofa. Sie blickte mich unruhig an. Wir schwiegen.
„Ich schlag ihn tot!“ schrie ich plötzlich wild auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, so daß die Tinte aus dem Tintenfaß spritzte.
„Ach! mein Gott, was haben Sie!“ rief sie entsetzt und fuhr zusammen vor Schreck.
„Ich schlag ihn tot! mausetot!“ schrie ich wieder und schlug unbändig auf den Tisch – und zu gleicher Zeit begriff ich doch vorzüglich, daß es dumm war, so außer sich zu geraten.
„Du weißt nicht, Lisa, was dieser Mensch für mich ist! Er ist mein Henker! ... Jetzt ist er nach Tee und Zwieback gegangen; er ...“
Und plötzlich brach ich in Tränen aus. Es war Nervosität. Wie schämte ich mich, als ich schluchzte; ich konnte mich aber nicht beherrschen.
Sie erschrak.
„Was haben Sie nur! Was fehlt Ihnen!?“ rief sie erregt, indem sie sich um mich mühte.
„Wasser, gib mir Wasser, dort auf dem Tisch!“ sagte ich mit schwacher Stimme, wobei ich aber bei mir genau wußte, daß ich vorzüglich auch ohne Wasser auskommen konnte, und durchaus nicht mit so schwacher Stimme zu sprechen brauchte. Ich aber verstellte mich, wie man zu sagen pflegt, um den Anstand zu wahren, obgleich der Anfall an sich echt war.
Sie reichte mir das Wasser, wobei ihr Blick wie verloren auf mir lag. In dem Augenblick trat Apollon mit dem Tee ein. Da schien mir plötzlich dieser gewöhnliche, prosaische Tee unglaublich unanständig und kläglich nach allem, was geschehen war, und ich errötete. Lisa blickte sich ängstlich nach Apollon um: er verließ uns wieder, scheinbar ohne uns auch nur bemerkt zu haben.
„Lisa, verachtest Du mich?“ fragte ich sie, zitternd vor Ungeduld zu erfahren, was sie von mir dachte.
Sie wurde verlegen und wußte nichts zu antworten.
„Trink den Tee!“ sagte ich ärgerlich. Ich war wütend auf mich, doch mußte natürlich sie dafür büßen. Eine furchtbare Wut auf sie erhob sich plötzlich in meinem Herzen; ich glaube, ich hätte sie totschlagen können. Um mich an ihr zu rächen, schwor ich mir innerlich, die ganze Zeit über kein Wort mit ihr zu sprechen. „Sie ist an allem schuld,“ sagte ich mir immer wieder.
Unser Schweigen dauerte noch eine geraume Zeit. Der Tee stand auf dem Tisch: ich wollte absichtlich nicht anfangen, um ihre Lage noch unangenehmer zu machen, denn sie konnte doch nicht zuerst den Tee nehmen. Sie hatte mich schon mehrere Mal in traurigem Nichtverstehenkönnen angeblickt. Ich aber schwieg eigensinnig. Natürlich war ich selbst der größte Märtyrer, denn ich begriff vollkommen die ganze widerliche Gemeinheit meiner dummen Wut, und doch konnte ich mich auf keine Weise beherrschen oder zusammennehmen.
„Ich will ... von dort ... ganz fortgehn,“ sagte sie schließlich stockend, vorsichtig, wahrscheinlich nur, um das Schweigen zu brechen. Die Arme! Gerade davon hätte sie doch in einem ohnehin schon so dummen Augenblick, zu einem sowieso schon so dummen Menschen, wie ich, nicht sprechen sollen. Mein Herz tat mir sogar weh vor Mitleid mit ihr – wegen ihrer unnötigen Offenheit und Ehrlichkeit. Doch etwas Scheußliches erstickte in mir sofort das Mitleid, ja, es hetzte mich sogar noch mehr gegen sie auf. Ach, so mag die ganze Welt untergehn! ... Es vergingen noch fünf Minuten ...
„Habe ich Sie vielleicht gestört?“ fragte sie schüchtern, kaum hörbar und erhob sich schon vom Stuhl.
Als ich aber diesen ersten Ausbruch einer beleidigten Würde sah, erzitterte ich geradezu vor Wut und verlor meine letzte Selbstbeherrschung.
„Sag mir doch bitte, warum Du eigentlich hergekommen bist?“ rief ich plötzlich – das Blut stieg mir zu Kopf – ohne daran zu denken, was ich sprach. Ich wollte alles mit einem Mal aussprechen, daher war’s mir einerlei, womit ich anfing – wenn mir nur der Atem nicht immer ausgegangen wäre.
„Warum bist Du zu mir gekommen? Sprich!“ schrie ich besinnungslos. „Ich werde es Dir sagen, mein Täubchen, warum Du hergekommen bist: Du bist gekommen, weil ich Dir damals mitleidige Worte gesagt habe. Und jetzt bist Du wieder sentimental geworden und darum bist Du hergekommen, um wieder ‚mitleidige Worte‘ zu hören. So wisse denn, wisse, daß ich mich damals über Dich lustig machte! Und auch jetzt mache ich mich über Dich lustig. Warum zitterst Du? Ja, ich machte mich lustig über Dich! Man hatte mich vorher im Restaurant beleidigt – diese selben, die kurz vor mir zu Euch gekommen waren. Ich aber fuhr zu Euch, um einen von ihnen, den Offizier, zu verprügeln; das konnte ich nicht, da ich ihn nicht mehr antraf; da mußte ich meine Wut an einem anderen Menschen auslassen, da kamst Du mir in die Quere und so ließ ich denn meine Wut an Dir aus, und machte mich lustig über Dich. Man hatte mich erniedrigt, so wollte denn auch ich erniedrigen; man hatte mich zu einem Lappen gemacht, so wollte denn auch ich Macht beweisen ... Das war’s! Du aber glaubtest wohl schon, daß ich gekommen war, um Dich zu retten – nicht wahr? Das glaubtest Du doch? Das hast Du doch geglaubt?“
Ich wußte, daß sie vielleicht die Einzelheiten nicht verstehen konnte, doch wußte ich gleichfalls, daß sie das Wesen der Sache vorzüglich begreifen würde. So war’s denn auch. Sie erbleichte, wollte zwar etwas sagen, ihre Lippen verzogen sich zitternd, und plötzlich fiel sie, als ob man sie mit einem Beil gefällt hätte, auf den Stuhl zurück. Und die ganze Zeit darauf hörte sie mir zu mit halboffenem Munde, weit offenen Augen, zitternd vor maßloser Angst. Der Zynismus, der Zynismus meiner Worte erdrückte sie ...
„Haha! Retten!“ rief ich höhnisch, sprang auf und raste im Zimmer auf und ab. „Wovor denn retten!? Ich, ich will Dich ja vielleicht selbst haben! Warum fragtest Du mich nicht, als ich Dir die Leviten las: ‚Wozu bist Du denn hergekommen? Etwa um uns nachher Moral zu predigen?‘ – Macht! Macht hatte ich damals nötig, das Spiel mit Dir hatte ich nötig, Deine Tränen hatte ich nötig, Deine Erniedrigung, Deine Hysterie – siehst Du, nur das hatte ich damals nötig! Später hielt ich’s selbst nicht aus, denn ich bin ja ein Lappen, bekam Angst und stopfte Dir aus Dummheit, weiß der Teufel wozu, meine Adresse in die Hand. Aber deswegen bedachte ich Dich ja schon unterwegs, noch bevor ich nach Haus gekommen war, mit allen Schimpfwörtern der Welt. Schon damals haßte ich Dich, denn ich hatte Dich belogen. Mit Worten kann ich spielen, in Gedanken träumen – in Wirklichkeit aber brauche ich – weißt Du was: daß Euch samt und sonders der Teufel holt! Ja, das brauche ich! Ich brauche Ruhe. Ich würde ja dafür, daß man mich in Ruhe läßt, die ganze Welt sofort für eine Kopeke verkaufen. Soll die Welt untergehn, oder soll ich keinen Tee trinken? Ich sage: die ganze Welt soll untergehn, denn ich will Tee trinken. Wußtest Du das, oder wußtest Du das nicht? Nun, ich weiß aber, daß ich ein Scheusal, ein Faulpelz bin, daß ich gemein, selbstsüchtig, egoistisch bin. Diese ganzen Tage habe ich vor Angst, Du könntest kommen, nur so gezittert. Weißt Du aber auch, was mich in diesen drei Tagen am meisten beunruhigt hat? Am meisten – daß ich mich damals Dir als ein Held gezeigt hatte, Du aber mich hier in meinem alten Schlafrock, bettelarm und scheußlich finden würdest. Ich sagte Dir vorhin, daß ich mich meiner Armut nicht schäme; so wisse denn, daß ich mich ihrer schäme, mehr denn aller anderen Mängel schäme, mich ihretwegen fürchte, mehr fürchte, als wenn ich stehlen würde, denn ich bin in diesem Punkt so empfindlich, als ob man mir die Haut abgezogen hätte, und ich schon von der Luft allein Schmerz empfinde. Solltest Du wirklich selbst jetzt noch nicht erraten, daß ich Dir niemals verzeihen werde, daß Du mich in diesem elenden Morgenrock angetroffen hast – gerade als ich mich wie ein kläffendes Hündchen auf Apollon stürzte? Der Erlöser, der gewesene Held stürzt sich wie ein grindiger, zottiger Hund auf seinen Diener und der lacht ihn noch aus! Und meine Tränen vorhin, die ich wie ein altes Weib vor Dir nicht verbergen konnte, werde ich Dir gleichfalls nie und nimmer verzeihen! Und das, was ich Dir jetzt gestehe, werde ich Dir auch nicht verzeihen! Ja, – Du, Du allein bist für alles verantwortlich, weil Du mir so in den Weg gelaufen bist, weil ich ein gemeiner Mensch bin, weil ich der allgemeinste, der allerlächerlichste, allerkleinlichste, allerdümmste, allerneidischste Wurm aller Erdenwürmer bin, die keineswegs besser sind als ich, die aber, weiß der Teufel woher das kommt, sich niemals verblüffen lassen; ich aber werde mein ganzes Leben lang von jedem Knirps ’nen Knips auf die Nase kriegen, das ist schon einmal so! Und was geht es mich an, daß Du es nicht begreifen kannst! Und was, nun, was – sag doch selbst, was gehst Du mich an, und was geht es mich an, ob Du da untergehst oder nicht? Ja, begreifst Du denn auch, wie ich Dich jetzt, nachdem ich Dir das alles gesagt habe, dafür hassen werde, daß Du hier gewesen bist, und meine Worte gehört hast? So spricht sich der Mensch doch nur ein einziges Mal im Leben aus, und auch das geschieht dann nur aus Hysterie! ... Was willst Du denn noch? Wozu hockst Du denn noch immer hier vor mir, warum quälst Du mich denn so, warum gehst Du nicht endlich fort?“
Hier aber geschah plötzlich etwas ganz Sonderbares.
Ich war dermaßen gewöhnt, literarisch zu denken und mir alles auf der Welt so vorzustellen, wie ich es mir in meiner Phantasie vorher zurechtgelegt hatte, daß ich zuerst dieses Sonderbare überhaupt nicht begriff. Das aber war folgendes: diese Lisa, die ich so beleidigt und erniedrigt hatte, diese Lisa begriff viel mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Aus allem begriff sie das, was ein Weib, wenn es nur aufrichtig liebt, immer sofort begreift, nämlich: daß ich selbst unglücklich war.
Der ängstliche, gekränkte Ausdruck ihres Gesichts verwandelte sich allmählich in traurige Befremdung. Als ich mich aber gemein, selbstsüchtig nannte und meine Tränen schon herabrollten – diese ganze Tirade sprach ich mit Tränen in den Augen –, da verzog sich ihr Gesicht wie im Krampf. Sie wollte aufstehn, mich unterbrechen; als ich aber endete, da beachtete sie nicht meine Schreie: ‚warum hockst Du hier, warum gehst Du nicht fort?‘ – sondern sah nur, daß es mir selbst schwer war, alles das auszusprechen. Und so eingeschüchtert war das arme Ding; sie hielt sich für so tief unter mir stehend; wie sollte sie es wagen, sich zu ärgern, oder gar beleidigt zu sein? Von einem unbezwinglichen Gefühl getrieben erhob sie sich plötzlich vom Stuhl und – denn sie wagte es nicht, sich zu rühren oder zu mir zu kommen – streckte sie mir nur wortlos ihre Hände entgegen ... Mein Herz wollte mir brechen. Da kam sie denn zu mir, umarmte meinen Hals und brach in Tränen aus. Ich hielt es nicht mehr aus und schluchzte auf, wie ich noch nie geschluchzt ...
„Man läßt mich nicht ... Ich kann nicht ... gut sein!“ sagte ich schluchzend, darauf ging ich zum Diwan, warf mich auf ihn hin, preßte mein Gesicht auf das alte Lederkissen und schluchzte mindestens eine ganze Viertelstunde lang in wahrer Hysterie. Sie schmiegte sich an mich, umarmte mich und blieb regungslos in dieser Stellung.
Nun war aber das Unangenehme der Sache, daß das Weinen doch einmal ein Ende haben mußte. Und da – ich schreibe ja die ekelhafteste Wahrheit – als ich noch schluchzend auf dem Diwan lag, das Gesicht fest an mein altes Lederkissen gepreßt, fing ich schon allmählich an, zuerst nur ganz von fern her, unwillkürlich, aber unbezwingbar zu fühlen, daß es mir doch etwas peinlich sein würde, den Kopf zu erheben und Lisa in die Augen zu sehn. Weswegen schämte ich mich denn? – Das weiß ich nicht, aber ich weiß, daß ich mich schämte. Unter anderem ging mir auch der häßliche Gedanke durch meinen heißen, verwirrten Kopf, daß jetzt die Rollen vertauscht waren, daß jetzt sie die Heldin war, ich aber ein ebenso erniedrigtes und zerschlagenes Geschöpf, wie sie es damals in der Nacht vor mir gewesen – vor vier Tagen ... Und dieses dachte ich in den Minuten, als ich noch mit dem Gesicht auf dem Diwan lag und weinte!
Mein Gott! Sollte ich sie denn wirklich in dem Augenblick beneidet haben?
Ich weiß es nicht, selbst heute kann ich es noch nicht sagen, damals aber begriff ich mich natürlich noch weniger als jetzt. Ich kann nun einmal nicht leben, ohne irgend jemanden zu tyrannisieren ... Aber ... Aber mit Erwägungen hin und her läßt sich ja doch nichts erklären, folglich lohnt es sich nicht, darüber noch weiter nachzudenken.
Einstweilen aber überwand ich mich doch und erhob den Kopf; einmal mußte es ja doch geschehen ... Und siehe, ich bin noch jetzt fest überzeugt, daß gerade weil ich mich schämte, ihr in die Augen zu sehn, gerade darum in mir plötzlich ein anderes Gefühl erwachte und aufflammte ... die Lust – sie – zu – besitzen. Meine Augen glänzten vor Leidenschaft und ich preßte krampfhaft ihre Hände. Wie haßte ich sie und wie zog es mich zu ihr in diesem Augenblick! Das eine Gefühl bewältigte das andere. Das glich fast einer Rache! ... Auf ihrem Gesicht drückte sich zuerst Verwunderung aus, oder vielleicht sogar Angst, doch nur einen Augenblick. Berauscht, leidenschaftlich umarmte sie mich.
X.
Nach einer Viertelstunde lief ich wie besessen im Zimmer auf und ab, und trat vor Ungeduld immer wieder zum Wandschirm, um durch die Spalte nach Lisa zu sehn. Sie saß auf dem Fußboden, hatte den Kopf an den Bettrand gestützt und weinte, wie es schien. Sie ging aber nicht fort, und das war’s ja, was mich ärgerte. Sie wußte bereits alles. Ich hatte sie beleidigt, aber ... Ach, wozu erzählen. Sie hatte schon erraten, daß der Ausbruch meiner Leidenschaft gerade Rache war, eine neue Erniedrigung ihrer Person, und daß zu meinem vorherigen, fast grundlosen Haß noch ein persönlicher, neidischer Haß auf sie hinzugekommen war ... Übrigens, ich will nicht behaupten, sie hätte das alles vollkommen bewußt und klar begriffen; dafür aber begriff sie vollkommen, daß ich ein gemeiner Mensch war und vor allem einer, der nicht fähig war, sie zu lieben.
Ich weiß, man wird mir sagen, es sei unwahrscheinlich, – unwahrscheinlich, daß man so grausam, so dumm sein könnte, wie ich es war; oder vielleicht wird man noch hinzufügen, es wäre unmöglich gewesen, sie nicht lieb zu gewinnen, wenigstens diese Liebe nicht zu schätzen. Warum soll es denn unwahrscheinlich sein? Erstens konnte ich überhaupt nicht mehr lieben, denn lieben bedeutete für mich – tyrannisieren und moralisch überlegen sein. Mein ganzes Leben lang habe ich mir eine andere Liebe nicht einmal vorstellen können, und sogar jetzt glaube ich noch zuweilen, daß die Liebe gerade in dem vom geliebten Wesen geschenkten Recht, es zu tyrannisieren, besteht. Auch in meinen Einsamkeitsträumen im Dunkel habe ich mir die Liebe nie anders vorgestellt, denn als Kampf, hab sie in Gedanken stets mit Haß begonnen und mit moralischer Unterwerfung beendet, dann aber war’s mir unmöglich, mir auch nur vorzustellen, was man mit einem unterworfenen Wesen noch anfangen könnte. Und was kann denn hierbei unwahrscheinlich sein, wenn ich mich moralisch schon so weit gebracht, mich vom „lebendigen Leben“ so entwöhnt hatte, daß ich sie beschämen wollte, als ich ihr vorwarf, sie sei gekommen, um „mitleidige Worte“ zu hören, selbst aber nicht einmal erriet, daß sie keineswegs deswegen gekommen war, um mitleidige Worte zu hören, sondern daß sie gekommen war, um mich zu lieben, denn für das Weib liegt in der Liebe die ganze Auferstehung, die ganze Rettung vor einerlei welch einem Verderben, und die ganze Wiedergeburt, die sich ja anders überhaupt nicht offenbaren kann, als gerade in ihrer Liebe. Übrigens haßte ich sie gar nicht so sehr, als ich im Zimmer auf und ab lief und durch die Spalte des Bettschirms lugte. Es war mir nur unerträglich schwer zu Mut, gerade weil sie bei mir war. Ich wollte, daß sie vom Angesicht der Erde verschwand. Nach „Ruhe“ sehnte ich mich, in meinem Winkel allein bleiben wollte ich. Das „lebendige Leben“ erdrückte mich, da ich es nicht gewöhnt war, dermaßen, daß mir sogar das Atmen schwer wurde.
Es vergingen noch etliche Minuten, sie aber erhob sich immer noch nicht – als ob sie alles vergessen hätte. Ich war so gewissenlos, leise an den Schirm zu klopfen, um sie zu erinnern ... Sie fuhr erschrocken zusammen, erhob sich hastig und suchte eilig ihre Sachen, Tuch, Mützchen, Pelz zusammen, ganz als wollte sie sich vor mir retten ... Nach zwei Minuten trat sie langsam hinter dem Schirm hervor und richtete einen schweren Blick auf mich. Ich lachte boshaft auf, gezwungen natürlich, anstandshalber, und wandte mich ab.
„Adieu,“ sagte sie und ging zur Tür.
Da trat ich schnell an sie heran, ergriff die Hand, legte hinein ... und preßte sie wieder zu. Darauf kehrte ich mich hastig um und ging schnell in die andere Ecke des Zimmers, um wenigstens nicht zu sehen ...
Soeben wollte ich lügen, – schreiben, daß ich dieses in Versehen, halb bewußtlos, aus Dummheit, aus Kopflosigkeit getan hätte. Ich will aber nicht lügen, und darum sage ich jetzt offen, daß ich es ... aus Bosheit tat. Es fiel mir ein, das zu tun, als ich im Zimmer auf und ab lief und sie hinter dem Bettschirm saß. Eines jedoch kann ich mit aller Bestimmtheit sagen: ich beging diese Grausamkeit, wenn auch absichtlich, so doch nicht aus meinem Herzen, sondern aus meinen schlechten Gedanken heraus. Diese Grausamkeit war dermaßen unnatürlich, dermaßen „gedacht“, absichtlich komponiert, so literarisch, daß ich sie selbst nicht eine Minute lang ertrug – zuerst lief ich in die Ecke, um nicht zu sehn, dann aber stürzte ich mit Scham und Verzweiflung im Herzen ihr nach. Ich riß die Flurtür auf und horchte hinaus.
„Lisa! Lisa!“ rief ich halblaut, denn ich wagte es nicht, dreister zu rufen.
Keine Antwort. Doch schien es mir, als hörte ich noch unten ihre Schritte auf der Treppe.
„Lisa!“ rief ich lauter.
Keine Antwort. Da hörte ich, wie die schwere Haustür geöffnet wurde und gleich darauf mit dumpfem Krach zuschlug. Der Widerhall schallte durch das Haus.
Sie war fortgegangen. Nachdenklich kehrte ich in mein Zimmer zurück. Weh und schwer wars mir ums Herz.
Ich blieb am Tisch nicht weit von dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, stehn und starrte gedankenlos vor mich hin. Es verging vielleicht eine Minute. Plötzlich fuhr ich zusammen: gerade vor mir auf dem Tisch erblickte ich ... kurz, ich erblickte einen blauen verknitterten Fünfrubelschein, denselben, den ich ihr in die Hand gedrückt hatte. Das war derselbe Schein, ein anderer hätte es überhaupt nicht sein können, in der ganzen Wohnung gab es keinen anderen! Also hatte sie noch Zeit gehabt, ihn, als ich in die Ecke lief, auf den Tisch zu werfen.
Wie, was? Ich hätte es doch wissen müssen, daß sie es tun würde. Hätte es wissen müssen? Nein. Ich war so weit Egoist, achtete die Menschen im Grunde so wenig, daß ich von ihr niemals so etwas erwartet hätte. Das ertrug ich nicht! Einen Augenblick später stürzte ich mich wie ein Sinnloser in meine Kleider, zog mir an, was mir in die Hände kam, und lief atemlos hinaus – ihr nach. Sie hätte noch keine zweihundert Schritte gegangen sein können, als ich hinaustrat.
Es war ganz still auf der Straße, es schneite; die schweren Flocken fielen fast senkrecht zur Erde und bedeckten den Fußsteig und die einsame Straße mit weichen, weißen Schneekissen. Kein Mensch war rings zu sehn, kein Laut zu hören ... nur Schnee. Wehmütig und nutzlos schimmerten die Laternen. Ich lief an zweihundert Schritt, – bis zur Querstraße und blieb stehn.
Wohin war sie gegangen? Und warum lief ich ihr nach?
Warum? Um vor ihr niederzufallen, vor Reue zu weinen, ihre Füße zu küssen, um ihre Vergebung zu erflehen! Das, gerade das wollte ich. Meine ganze Brust riß sich entzwei! Niemals, niemals werde ich gleichmütig an diesen Augenblick zurückdenken können. Aber, – wozu? fragte ich mich. Werde ich sie denn nicht vielleicht morgen schon hassen, weil ich ihr heute die Füße geküßt? Werde ich ihr denn Glück bringen? Habe ich denn heute nicht wieder, schon zum hundertsten Mal, erkannt, was ich wert bin? Werde ich sie denn nicht totquälen!
Ich stand im Schnee, starrte in die trübe Dunkelheit und dachte darüber nach.
„Und ist es nicht besser, ist’s nicht besser,“ fragte ich mich noch oftmals, wenn ich später in den folgenden Jahren zu Hause mit Phantasieen das lebendige Weh im Herzen betäuben wollte, „ist es nicht besser, daß sie auf ewig die Beleidigung mit sich forttrug? Beleidigung – ist doch Läuterung; das ist die allerätzendste und schmerzhafteste Erkenntnis. Schon am nächsten Tage würde ich ihre Seele beschmutzt und ihr Herz ermüdet haben. Die Beleidigung aber wird niemals in ihr erlöschen und wie gemein auch der Schmutz, der sie umgibt, sein mag, – die Beleidigung wird sie erheben und läutern ... durch Haß ... hm! ... vielleicht auch durch Vergebung ... Aber wird es ihr denn davon leichter werden?“
Und sagt mir doch – jetzt will ich von mir aus noch eine müßige Frage stellen: was ist besser, – billiges Glück, oder erhabenes Leid? Nun, was ist besser?
Sie stieg in mir auf, als ich an jenem Abend halbtot vor Seelenqual bei mir zu Hause saß. Niemals noch hatte ich solch ein Leid, solch eine Reue empfunden. Aber wie hätte denn, als ich hinaus- und ihr nachlief, noch irgend ein Zweifel darüber bestehn können, daß ich nicht auf halbem Wege umkehren und zurückkommen würde!?
Lisa habe ich nie mehr gesehn und auch nie etwas von ihr gehört. Ich füge noch hinzu, daß mich die Phrase von der Beleidigung und dem Haß auf lange beruhigte, obgleich ich damals vor Leid fast krank wurde.
Selbst jetzt noch nach so langen Jahren scheint mir vieles in der Erinnerung schlecht, aber ... Übrigens, sollte ich nicht hier meine „Aufzeichnungen“ beenden? Ich glaube, es war falsch von mir, daß ich sie überhaupt zu schreiben begann. Wenigstens habe ich mich während des Schreibens die ganze Zeit geschämt: also ist das nicht mehr Literatur, sondern Selbstgeißelung. Denn lange Geschichten erzählen zum Beispiel darüber, wie ich mein Leben verfehlt habe durch moralische Verwesung in meinem Dunkel, durch den gänzlichen Mangel oder vielleicht auch nur ein zu Wenig an Mittelmäßigkeit, durch Entwöhnung von allem Lebendigen und durch all die Bosheit, die ich gepflegt, – das ist, bei Gott, alles andere, nur nicht unterhaltend. In einem Roman muß es einen Helden geben, hier aber findet man alle Eigenschaften eines Anti-Helden. Und die Hauptsache ist, daß das Ganze einen äußerst unangenehmen Eindruck macht. Haben wir uns doch alle vom Leben entwöhnt, alle lahmen wir, alle, – natürlich mehr oder weniger. Wir sind es ja sogar dermaßen nicht mehr gewohnt, daß uns mitunter vor dem wirklichen „lebendigen Leben“ Ekel erfaßt, und darum ärgert es uns, wenn wir an dasselbe erinnert werden. Sind wir doch sogar so weit gekommen, daß wir das wirkliche „lebendige Leben“ fast für Mühe, für eine Last, fast für Dienst halten, und im Geheimen sind wir vollkommen einig, daß es besser ist, literarisch zu leben. Und warum nur krabbeln wir herum, was wollen wir denn eigentlich? Das wissen wir ja selbst nicht. Wehe uns, wenn unsere einfältigen Bitten in Erfüllung gingen! Nun, möge man es doch einmal versuchen und uns z. B. größere Freiheit geben, einerlei wem von uns einmal die Hände befreien, das Arbeitsfeld vergrößern, die Vormundschaft zurückziehen, und wir ... ja, ich versichere Ihnen, meine Herren: wir würden sofort wieder um eine Vormundschaft bitten. Ich weiß, daß Sie sich wegen dieser Behauptung maßlos über mich ärgern und mir wütend zuschreien werden:
„Reden Sie von sich und von Ihrer Misère so viel Sie wollen, aber unterstehn Sie sich nicht, ‚wir alle‘ zu sagen!“
Erlauben Sie, meine Herren, ich will mich doch mit diesem „wir alle“ keineswegs etwa rechtfertigen!
Was aber mich speziell hierbei anbetrifft, so habe ich in meinem Leben bloß das bis zum Äußersten geführt, was Sie nicht einmal bis zur Hälfte zu führen wagen. Und diese Ihre Feigheit halten Sie ja noch für Vernunft und trösten sich noch mit ihr, – sehen aber nicht ein, daß das Selbstbetrug ist. So stellt es sich heraus, daß ich schließlich noch lebendiger bin, als Sie, meine Herren. So blicken Sie doch nur aufmerksamer um sich! Wir wissen ja nicht einmal, wo das Lebendige jetzt lebt, was es eigentlich ist und wie es heißt. Man versuche es doch: lasse uns allein, nehme uns die Bücher, und wir würden uns sofort verlieren und verirren, würden nicht wissen, an wen uns anschließen, an was uns halten, was lieben und was hassen, was hochachten und was verachten. Es ist uns ja sogar lästig, Menschen zu sein, Menschen mit wirklichem, eigenem Leib und Blut. Wir schämen uns unseres Leibes, halten das Natürliche für Schande und wollen irgend welche noch nie dagewesene Allmenschen sein. Wir sind Totgeborene – werden wir doch schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern geboren ... und das gefällt uns ja sogar immer mehr und mehr! Unser Geschmack gewöhnt sich daran. Bald werden wir uns ausdenken, irgendwie von der Idee geboren zu werden. Doch jetzt genug damit. Ich will nicht mehr „aus dem Dunkel“ schreiben.
Übrigens sind hiermit die Aufzeichnungen dieses paradoxen Menschen noch nicht beendet. Er konnte es nicht lassen, und fuhr daher fort, zu schreiben. Aber auch mir will es scheinen, daß man vorläufig hier abbrechen kann.