Zweiter Teil. Bei nassem Schnee.

Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第10章

Zweiter Teil. Bei nassem Schnee.

I.

Damals war ich erst vierundzwanzig Jahre alt. Mein Leben war auch schon zu der Zeit unfreundlich, unordentlich und bis zur Verwilderung einsam. Mit keinem einzigen Menschen pflegte ich Umgang; ich vermied es sogar zu sprechen, und immer mehr und mehr zog ich mich in meinen Winkel zurück. In der Kanzlei bemühte ich mich sogar, niemanden anzusehen, und doch glaubte ich, zu bemerken, daß meine Kollegen mich nicht nur für einen Sonderling hielten, sondern mich gleichsam mit einem gewissen Widerwillen betrachteten. Ich fragte mich: warum scheint es den anderen nicht, daß man Widerwillen vor ihnen empfindet? Einer unserer Kanzleibeamten hatte ein ganz abscheuliches, pockennarbiges Verbrechergesicht; ich glaube, ich hätte es nicht gewagt, mit solch einem unanständigen Gesicht irgend jemanden auch nur anzublicken. Ein anderer hatte eine so vertragene Uniform, daß es in seiner Nähe schon übel roch. Währenddessen aber genierte sich kein einziger dieser Herren – weder seiner Kleider, noch seines Gesichtes wegen, noch sonst aus irgend einem moralischen Grunde. Weder der eine noch der andere ließen es sich träumen, daß man vor ihnen hätte Ekel empfinden können, ja, und selbst wenn sie es sich hätten träumen lassen, so wäre es ihnen doch gleichgültig gewesen – wenn nur die Vorgesetzten nichts bemerkten. Jetzt ist es mir vollkommen klar, daß ich selbst, infolge meines grenzenlosen Ehrgeizes und somit auch infolge meiner grenzenlosen Ansprüche an mich selbst, sehr oft so unzufrieden mit mir war, daß diese Unzufriedenheit sich bis zum Ekel vor mir selbst, bis zur Raserei steigern konnte, und deswegen schrieb ich denn auch mein eigenes Empfinden in Gedanken jedem anderen zu. So z. B. haßte ich mein Gesicht, fand ich, daß es abscheulich war, und argwöhnte sogar, daß in ihm ein ganz besonders gemeiner Ausdruck lag, und darum bemühte ich mich qualvoll jedesmal, wenn ich in die Kanzlei kam, mit meinem Gesicht möglichst viel Edelmut auszudrücken, und mich möglichst ungezwungen und unabhängig zu benehmen, damit man mich nicht einer Gemeinheit verdächtige. „Mag es auch ein unschönes Gesicht sein,“ dachte ich, „dafür aber könnte es doch edel, ausdrucksvoll und vor allem außerordentlich klug sein.“ Zu gleicher Zeit aber wußte ich unter wahren Marterqualen auf das bestimmteste, daß ich alle diese Vollkommenheiten mit meinem Gesichte nie und nimmer würde ausdrücken können. Doch das Schrecklichste war, daß ich es ausgesprochen dumm fand. Und doch hätte ich mich mit dem klugen Ausdruck allein gern zufrieden gegeben. Sogar so gern, daß ich selbst einverstanden gewesen wäre, noch einen gemeinen Ausdruck mit in den Kauf zu nehmen, nur aber unter der einen Bedingung, daß alle mein Gesicht zu gleicher Zeit auch furchtbar klug fänden.

Unsere Kanzleibeamten haßte ich natürlich alle, vom ersten bis zum letzten ohne Ausnahme, trotzdem aber schien es mir, daß ich sie gewissermaßen auch fürchtete. Ja, es kam vor, daß ich sie plötzlich sogar über mich stellte. Das geschah bei mir damals immer abwechselnd: bald verachtete ich sie, bald stellte ich sie wieder über mich. Ein entwickelter und anständiger Mensch kann nicht ehrgeizig sein, ohne dabei grenzenlose Ansprüche an sich selbst zu stellen und sich in manchen Augenblicken bis zum Haß zu verachten. Doch ob ich mich nun verachtete oder hochschätzte, ich senkte doch vor jedem Menschen, der mir begegnete, die Augen. Ich stellte daraufhin sogar Versuche an: würde ich den Blick dieses oder jenes Menschen aushalten können, – und siehe: jedesmal mußte ich meinen Blick zuerst senken. Das quälte mich bis zum Wahnsinn ... Bis zu Krämpfen fürchtete ich gleichfalls, lächerlich zu sein, und darum vergötterte ich sklavisch die Routine in allem, was das Auftreten anbetraf; liebevoll schwamm ich mit dem Strom und fürchtete mit ganzer Seele jede Exzentrizität in mir. Wie hätte ich das lange aushalten können? Ich war krankhaft entwickelt, wie es eben ein entwickelter Mensch unserer Zeit sein muß. Sie aber waren alle stumpfsinnig und glichen sich untereinander wie die Schafe einer Heerde. Vielleicht war das der Grund, warum es mir immer schien, daß ich ein Feigling und ein Sklave sein müßte – weil ich allein entwickelt war. Aber es schien mir ja nicht nur so, es war auch wirklich der Fall: ich war ein Feigling und ein Sklave. Das sage ich jetzt ohne jede Verlegenheit. Jeder anständige Mensch unserer Zeit ist ein Feigling und Sklave und muß es sein. Das ist sein normaler Zustand. Davon bin ich nicht nur fest, sondern auch untergründig tief überzeugt. Er ist als Mensch unserer Zeit schon so geschaffen. Und nicht nur in unserer Zeit, und nicht nur durch irgend welche zufälligen Umstände, sondern überhaupt zu allen Zeiten muß der ordentliche Mensch Feigling und Sklave sein. Das ist das Naturgesetz aller anständigen Menschen. Und wenn es einmal geschehen sollte, daß sich einer von ihnen zu irgend etwas ermutigt, so soll er sich deswegen noch nicht gleich an seinem Mut berauschen: bei der nächsten Gelegenheit wird er sich doch als Feigling erweisen. Das ist nun einmal der einzige und ewige Ausweg. Nur Esel und ihre Bastarde ermutigen sich, aber auch die nur bis zu der gewissen Wand. Doch es lohnt sich nicht, noch weiter über sie zu reden, sie bedeuten ja doch so gut wie nichts.

Auch quälte mich noch etwas anderes: daß mir niemand gleicht und auch ich niemandem ähnlich sehe. „Nur ich bin allein, sie aber sind alle,“ dachte ich, und – versank in Nachdenken.

Daraus sieht man, daß ich noch ein ganz unreifer Junge war.

Mitunter geschah aber auch das Entgegengesetzte. War es doch zuweilen so entsetzlich langweilig, in die Kanzlei zu gehen, daß ich ganz krank aus dem Dienst nach Haus zurückkehrte. Und plötzlich begann dann wiederum eine Periode der Skepsis und Gleichgültigkeit – bei mir war alles in Perioden – und siehe, da lachte ich selbst über meine Unduldsamkeit und Launenhaftigkeit, machte mir selbst wegen meiner Romantik Vorwürfe. Bald will ich überhaupt nicht sprechen, bald aber werde ich nicht nur gesprächig, sondern es fällt mir sogar ein, mich freundschaftlich an meine Kollegen anzuschließen. Die ganze Reizbarkeit ist plötzlich im Handumdrehen verschwunden. Wer weiß, vielleicht habe ich sie nie gehabt, vielleicht ist sie nur Selbsttäuschung gewesen, nur vom Bücherlesen gekommen? Diese Frage habe ich bis auf den heutigen Tag noch nicht beantworten können. Einmal hatte ich mich bereits ganz mit ihnen angefreundet, besuchte sie sogar in ihren Wohnungen, spielte Préférence, trank Schnaps, diskutierte über Rußlands Produktionsfähigkeit ... Doch hier erlauben Sie mir bitte, einige vom Thema abweichende Worte zu sagen.

Bei uns, bei uns Russen – im allgemeinen gesprochen – hat es niemals jene dummen überirdischen deutschen und besonders französischen Romantiker gegeben, jene, auf die nichts mehr Eindruck macht, wenn auch meinetwegen die ganze Erde unter ihnen kracht, oder ganz Frankreich mitsamt den Barrikaden untergeht, – sie bleiben immer dieselben, ja, werden sich anstandshalber nicht einmal im Geringsten verändern und immer nur ihre überirdischen Lieder weitersingen, die Lieder „an das Grab ihres Lebens“, wie sie zu sagen pflegen – denn wir dürfen nicht vergessen, daß sie dumm sind. Bei uns jedoch, d. h. bei uns in Rußland, gibt es keine Dummköpfe; das weiß doch ein jeder: dadurch unterscheiden wir uns ja von den übrigen deutschen Ländern. Folglich gibt es bei uns auch keine überirdischen Naturen von reinstem Wasser. Diese Eigenschaften haben unsere damaligen „positiven“ Publizisten und Kritiker aus Dummheit unseren Romantikern aufgebunden, da sie sie für ebenso überirdisch hielten, wie die deutschen oder französischen Romantiker. Im Gegenteil, die Eigenschaften unseres Romantikers sind denen des überirdisch-europäischen Romantikers gerade entgegengesetzt, und darum kann man sie mit keinem einzigen europäischen Maßstäbchen messen. (Erlauben Sie mir, dieses Wörtchen „Romantiker“ zu gebrauchen – es ist ja so alt, ehrwürdig, verdient und allen bekannt.) Die Eigenschaften unseres Romantikers sind: alles zu verstehen, alles zu sehen, und häufig sogar unvergleichlich klarer zu sehen, als unsere allerpositivsten Intelligenzen; sich mit niemandem und nichts auszusöhnen, doch zu gleicher Zeit auch nichts zu verachten; alles zu umgehen, allem politisch nachzugeben; niemals das nützliche, praktische Ziel aus dem Auge zu lassen – wie z. B. Staatswohnungen, Pensiönchen, Sternchen –, dieses Ziel durch alle Enthusiasmen und alle Bände lyrischer Gedichte hindurch im Auge zu behalten, und gleichzeitig „das Schöne und Erhabene“ bis an das Grab ihres Lebens in sich unversehrt zu erhalten, und bei der Gelegenheit auch noch sich selbst vollkommen zu erhalten – und das noch bei all den vielen Sorgen! – sich wie ein kostbares Juwel zu hüten, wenn auch nur zum Nutzen dieses selben „Schönen und Erhabenen“. Ja, ja, ein vielseitiger Mensch ist unser Romantiker und der geriebenste Spitzbube von allen unseren Spitzbuben, versichere Ihnen ... nach eigener Erfahrung. Versteht sich, das gilt nur vom klugen Romantiker. Das heißt, Verzeihung, was fällt mir denn ein! Ein Romantiker ist natürlich immer klug! Ich wollte ja nur bemerken, daß die dummen Romantiker, die es auch bei uns einstmals gegeben hat, doch nicht mitrechnen, weil sie sich alle noch in den besten Jahren vollständig in Deutsche verwandelt, und, um sich als Juwel besser erhalten zu können, dort irgendwo in Weimar oder im Schwarzwald angesiedelt haben. – Ich, z. B., habe meine Kanzleiarbeit aufrichtig verachtet und habe nur, weil ich Geld für sie erhielt, nicht auf sie gespuckt. Das Ergebnis also – beachten Sie es wohl –: ich habe sie doch nicht aufgegeben. Unser Romantiker dagegen wird eher verrückt – was übrigens sehr selten vorkommt –, doch wird er nie und nimmer auf seine Tätigkeit spucken, wenn er noch keine andere Karriere in Aussicht hat, und vor die Tür wird er sich auch nicht setzen lassen, es sei denn, daß man ihn in die Irrenanstalt überführt, ja, und auch das nur, wenn er schon gar zu verrückt wird. Aber verrückt werden bei uns doch nur die Hageren, die Blondlockigen. Die unabsehbare Zahl jedoch der Romantiker bringt es später gewöhnlich zu hohen Ehren. Wirklich ungewöhnliche Vielseitigkeit! Und welch eine Fähigkeit zu den allerwidersprechendsten Eigenschaften! Auch damals schon beruhigte mich das ungemein, und auch jetzt bin ich noch derselben Meinung. Darum gibt es ja auch bei uns so viel „weite Naturen“, die selbst in der größten Verkommenheit niemals ihr Ideal verlieren; und wenn sie auch für dieses ihr Ideal keinen Finger rühren, wenn sie auch die verrufensten Räuber und Diebe werden, so lieben sie doch ihr anfängliches Ideal bis zu Tränen, und sind in der Seele ganz ungewöhnlich ehrlich. Ja, nur bei uns kann der ausgesprochenste Schuft vollkommen und sogar erhaben ehrlich in der Seele bleiben, ohne dabei etwa aufzuhören, Schuft zu sein. Wie gesagt, unsere Romantiker entpuppen sich in Geschäftssachen zuweilen als solche Spitzbuben – diese Bezeichnung ist von mir ausschließlich liebevoll gemeint –, und sie beweisen plötzlich solch einen Instinkt für die Wirklichkeit, und solch ein positives Wesen in realen Dingen, daß die verwunderte Obrigkeit mitsamt dem ganzen Publikum in der Starrheit der Verwunderung nur noch die Köpfe schütteln kann.

Eine wahrlich wundernehmende Vielseitigkeit haben sie, und Gott mag wissen, wozu sie sich unter den zukünftigen Verhältnissen noch entwickeln und was sie uns dann noch bescheren werden? Das Material ist nicht schlecht. Ich sage das nicht etwa aus lächerlichem Patriotismus. Übrigens glauben Sie wohl wieder, daß ich scherze? Oder vielleicht sind Sie sogar überzeugt, daß ich auch wirklich so denke? Wie dem nun auch sein mag, meine Herren, jedenfalls werde ich Ihre beiden Meinungen mir zur Ehre anrechnen. Und meine Abweichung vom Thema verzeihen Sie mir bitte.

Die Freundschaft mit meinen Kollegen hielt ich natürlich nicht lange aus und so kehrte ich ihnen schon sehr bald den Rücken. Infolge meiner damaligen jugendlichen Unerfahrenheit hörte ich sogar auf, sie zu grüßen, als ob ich alles Frühere mit der Schere hätte abschneiden wollen. Übrigens habe ich nur ein einziges Mal mit ihnen Freundschaft angeknüpft. Im allgemeinen bin ich ja immer allein gewesen.

Zu Hause las ich gewöhnlich. Wollte ich doch durch äußere Eindrücke betäuben, was unaufhörlich in mir kochte. Von äußeren Eindrücken aber konnte ich mir nur Lektüre leisten. Das Lesen half natürlich viel, – es regte auf, berauschte und quälte. Mitunter aber wurde es, weiß Gott, doch verteufelt langweilig. Man wollte sich auch einmal bewegen! Und so ergab ich mich plötzlich einer dunklen, unterirdischen, kellerhaften, gemeinen ... nicht gerade Ausschweifung, aber solchen kleinen niedrigen Lasterchen. Meine kleinen Leidenschaften waren scharf, spitz und brennendheiß; das kam von meiner immerwährenden krankhaften Reizbarkeit. Die Ausbrüche waren hysterisch, mit Tränen und fast mit Krämpfen. Außer der Lektüre hatte ich nichts, womit ich mich hätte zerstreuen können – ich meine, in meiner ganzen Umgebung hatte ich damals nichts, was ich hätte achten können oder was mich hätte anziehen können. Außerdem schwoll noch die Sehnsucht gar manches Mal erdrückend in mir an: krankhaftes Verlangen nach Widersprüchen, nach Kontrasten war’s, nun, und so ergab ich mich denn der Ausschweifung. Aber ich will mich doch nicht etwa rechtfertigen ... Halt! – das stimmt nicht! Nein. Hab gelogen! Ich habe mich ja gerade rechtfertigen wollen. Diese Bemerkung mache ich – wohl verstanden! – nur für mich, meine Herren, als Knoten ins Taschentuch. Will nicht lügen. Will Wort halten.

Meiner Ausschweifung ergab ich mich nur des Nachts, heimlich, ängstlich, schmutzig, mit einer Scham, die mich selbst in den ekelhaftesten Augenblicken nicht verließ, und die ich in solchen Minuten fast als Fluch empfand. Auch damals schon trug ich das Dunkel in meiner Seele. Ich fürchtete mich bis zum Entsetzen, daß man mich vielleicht irgendwie sehen, mir begegnen, mich erkennen könnte. Ging ich doch in verschiedene äußerst dunkle Häuser.

Einmal, als ich nachts an einem elenden Restaurant vorüberkam, sah ich durch das helle Fenster, wie man sich drinnen um das Billard herum mit den Queues prügelte, und wie darauf einer von den Herren durch das Fenster hinausbefördert wurde. Zu einer anderen Zeit wäre es mir zuwider gewesen; damals jedoch kam plötzlich solch eine Stimmung über mich, daß ich diesen herausgeworfenen Herrn einfach beneidete, ja sogar dermaßen beneidete, daß ich in das Restaurant ging und in das Billardzimmer eintrat: „Vielleicht wird man auch mich verprügeln und durch das Fenster hinausbefördern,“ dachte ich.

Ich war nicht betrunken, doch was sollte ich machen, – kann einen die Sehnsucht doch bis zu solch einer Hysterie quälen! Es kam aber zu nichts. Es erwies sich, daß ich nicht einmal zum Hinausgeworfen-werden begabt war, und ich ging unverprügelt fort. Gleich zu Anfang wurde ich dort von einem Offizier zurückgedrängt.

Ich stand am Billard und versperrte ahnungslos den Weg, er aber mußte vorübergehen, und so faßte er mich an den Schultern – ohne vorher etwas zu sagen oder zu erklären – und stellte mich schweigend von dem Platz, wo ich stand, auf einen anderen, und ging selbst an mir vorüber – als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte. Ich hätte sogar Schläge verziehen, doch nimmermehr konnte ich verzeihen, daß er mich so umgestellt und so absolut übersehen hatte.

Weiß der Teufel, was ich damals nicht alles für einen wirklichen, regelrechten Streit gegeben hätte, für einen anständigen, sagen wir, mehr literarischen! Man hatte mich wie eine Fliege behandelt. Dieser Offizier war gut gewachsen, groß von Wuchs, ich aber bin ein kleiner, dürrer Mensch. Übrigens lag es ja in meiner Macht, es auf einen Streit ankommen zu lassen: ich hätte nur zu protestieren gebraucht, um zu erreichen, was ich wollte – gleichfalls aus dem Fenster geworfen zu werden. Ich aber wurde nachdenklich und zog es vor ... mich erbost davon zu schleichen.

Aus dem Restaurant begab ich mich erregt geradewegs nach Haus; am nächsten Tage aber ging das Ausschweifen wieder an, nur noch schüchterner, versteckter und trauriger als zuvor, gleichsam mit Tränen in den Augen, – aber ich fuhr doch fort. Übrigens, bitte nicht zu glauben, daß ich mich aus Feigheit vor dem Offizier so benommen habe: in meinem Herzen bin ich niemals feig gewesen, wenn ich mich auch im Leben immer feige benommen habe, aber – warten Sie noch ein wenig mit dem Lachen, meine Herren, das hat seinen guten Grund, dafür gibt es eine Erklärung. Seien Sie überzeugt, ich habe für alles eine Erklärung.

Oh, wenn dieser Offizier doch zu denjenigen gehört hätte, die bereit sind, sich zu schlagen! Doch nein, das war gerade einer von jenen leider schon längst nicht mehr vorhandenen Offizieren, die es vorzogen, mit dem Queue zu handeln, oder mittels der Vorgesetzten. Zu einem Duell jedoch fordern solche nie heraus, mit unsereinem aber sich zu schlagen, würden sie unter allen Umständen für unanständig halten, – und überhaupt halten sie das Duell für etwas Unsinniges, Freisinniges, Französisches, selbst aber beleidigen sie nicht selten, besonders wenn sie noch groß und stattlich sind.

Hier aber war nicht Feigheit die Ursache meines feigen Rückzugs, sondern mein grenzenloser Ehrgeiz. Nicht sein hoher Wuchs schreckte mich, nicht, daß man mich schmerzhaft würde verprügelt und hinausgeworfen haben, physischen Mut hatte ich wahrlich genügend; doch der moralische Mut reichte nicht aus. Ich fürchtete plötzlich, daß mich alle Anwesenden – angefangen vom unverschämten Marqueur bis zum letzten stinkenden, sinnigen kleinen Beamten, der dort in einem schäbigen Rock, dessen fettdurchtränkter Kragen nur so glänzte, gleichfalls herumscherwenzelte – „nicht verstehen und auslachen könnten, wenn ich protestieren und in literarischer Sprache mit ihnen reden würde.“ Denn von dem Ehrenpunkte, – point d’honneur – kann man ja bei uns überhaupt nicht anders sprechen, als in literarischen Redewendungen. Erinnere mich nicht, jemals etwas vom „Ehrenpunkte“ in gewöhnlicher Sprache gehört zu haben. Ich war vollkommen überzeugt – Instinkt für die Wirklichkeit, trotz der ganzen Romantik! –, daß sie alle vor Lachen platzen würden, der Offizier mich aber nicht einfach verprügeln, sondern vorher bestimmt rund um das Billard schleifen und erst dann vielleicht aus Gnade und Barmherzigkeit durch das Fenster hinausbefördern würde. Selbstverständlich konnte diese klägliche Geschichte für mich damit nicht abgetan sein. Später traf ich diesen Offizier sehr oft auf der Straße und ich beobachtete ihn gut. Nur weiß ich nicht, ob er auch mich erkannte. Wahrscheinlich nicht; so nach einigen Anzeichen zu urteilen. Ich aber, ich haßte und beneidete ihn, und das dauerte so ... einige Jahre! Mein Haß vertiefte sich und wuchs noch mit den Jahren; zuerst bemühte ich mich heimlich, Näheres über diesen Offizier zu erfahren. Das fiel mir allerdings sehr schwer, denn ich kannte doch keinen Menschen. Einmal aber, als ich ihm wieder wie gebannt auf der Straße folgte, rief ihn irgend jemand beim Familiennamen an, und so erfuhr ich denn, wie er hieß. Ein anderes Mal folgte ich ihm bis zu seiner Wohnung und erfuhr dort für zehn Kopeken vom Dwornick, wo er wohnte, in welch einem Stock, allein oder mit anderen usw. – kurz, alles, was man von einem Dwornick erfahren kann. Und an einem Morgen kam mir plötzlich der Gedanke – obgleich ich niemals Literatur machte –, diesen Offizier zu beschreiben, karrikiert natürlich, in der Form einer Novelle. Oh, mit welch einer Genugtuung ich diese Novelle schrieb! Ich polemisierte, ich verleumdete ihn sogar ein wenig; seinen Familiennamen veränderte ich zuerst so, daß man sofort hätte erraten können, um wen es sich handelte, doch später, nachdem ich reiflicher überlegt hatte, veränderte ich ihn ganz, und schickte das Manuskript an die Redaktion der „Vaterlandsschriften“. Doch damals gab es noch keine Polemik und meine Novelle wurde nicht gedruckt. Das ärgerte mich gewaltig. Zuweilen raubte mir die Wut sogar den Atem. Da entschloß ich mich endlich, meinen Gegner zu fordern. Ich schrieb ihm einen wundervollen, anziehenden Brief, in dem ich ihn anflehte, sich bei mir zu entschuldigen, falls er aber das nicht wollte, so – ich deutete ziemlich bestimmt das Duell an. Der Brief war derart verfaßt, daß der Offizier, wenn er nur ein wenig das „Schöne und Hohe“ verstand, unbedingt sofort zu mir hätte eilen müssen, um mich zu umarmen und mir seine ewige treue Freundschaft anzubieten. Und wie schön wäre das doch gewesen! Wie herrlich hätten wir zusammen gelebt! „Er würde mich verteidigen und ich würde ihn veredeln, sagen wir, mit meiner Bildung, nun und ... durch meine Ideen, und, ach Gott, was könnte nicht noch alles sein!“ Stellen Sie sich vor, daß damals seit der Nacht, in der er mich beleidigt hatte, schon zwei Jahre vergangen waren und meine Forderung sich als ein ganz unglaublicher Anachronismus erwies, trotz der ganzen geschickten Redewendungen meines Briefes, die den Anachronismus erklären und aufheben sollten. Doch Gott sei Dank! – bis auf den heutigen Tag danke ich noch dem Schöpfer inbrünstig dafür – ich schickte meinen Brief nicht ab. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, wenn ich denke, was daraus hätte entstehen können, – wenn ich ihn abgeschickt hätte! Und plötzlich ... und plötzlich rächte ich mich auf die allereinfachste, allergenialste Weise! Ein herrlicher Gedanke beglückte mich plötzlich. Ich ging nämlich zuweilen an Feiertagen, so um vier herum, auf den Newsky und spazierte dann auf der Sonnenseite. Das heißt, ich spazierte durchaus nicht, sondern empfand bloß unzählige Qualen und Demütigungen und fühlte nur, wie mir die Galle überging; doch hatte ich wahrscheinlich gerade das nötig. Ich kroch dort wie ein Wurm zwischen den Fußgängern herum, trat bald vor Generälen zur Seite, bald vor Gardekavallerie- oder Husarenoffizieren, bald vor eleganten Damen; in diesen Minuten fühlte ich konvulsive Schmerzen im Herzen und Fieberschauer im Rücken bei dem bloßen Gedanken an die Schäbigkeit meiner Kleider, an die Misere und Gemeinheit meiner ganzen sich herumdrückenden, kleinen, unansehnlichen Gestalt. Das war eine wahre Märtyrerqual, ein ununterbrochenes, unerträgliches Erniedrigtwerden durch den Gedanken, der schließlich zum beständigen, unmittelbaren Gefühl wurde, daß ich vor diesen Menschen nur eine Fliege war, eine ganz gemeine unnütze Fliege, wenn ich auch klüger als sie alle war, entwickelter, edler – das versteht sich natürlich von selbst –, so doch eine ihnen allen fortwährend ausweichende Fliege, die von allen erniedrigt und von allen beleidigt wurde. Wozu ich mir diese Qual auflud, warum ich auf den Newsky ging – ich weiß es nicht. Es zog mich einfach bei jeder Gelegenheit dorthin.

Doch damals empfand ich schon die Fluten jener Wonnen, jener Genüsse, von denen ich bereits im ersten Teil gesprochen habe. Nach der Geschichte mit dem Offizier aber zog es mich noch mehr dorthin: auf dem Newsky traf ich ihn am häufigsten, dort konnte ich mich dann an ihm sattsehn. Er ging gleichfalls vornehmlich an den Feiertagen spazieren. Wenn er auch oft Generälen und höheren Persönlichkeiten ausbog und sich gleichfalls schlängelte, so wurden doch Leute wie meine Wenigkeit, und sogar solche, die weit besser aussahen, als ich, von ihm einfach bei Seite geschoben: er ging gerade auf sie los, als ob vor ihm freier Raum gewesen wäre, und bog dann unter keinen Umständen aus. Ich berauschte mich an meinem Haß, wenn ich ihn beobachtete, und ... ingrimmig jedesmal vor ihm ausbog. Es quälte mich, daß ich sogar auf der Straße ihm unterlegen war. „Warum biegst Du unbedingt als erster aus?“ fragte ich mich in rasender Wut, wenn ich zuweilen so um drei Uhr Nachts erwachte und mir selbst auf den Leib rückte. „Warum denn gerade Du, warum niemals er? Dafür gibt es doch kein Gesetz, das steht doch nirgends geschrieben! Nun, kann es denn nicht genau zur Hälfte geschehn, so, wie höfliche Menschen ausbiegen, wenn sie sich begegnen: er halb und Du halb und Ihr beide geht dann einfach höflich aneinander vorüber.“ Doch das geschah nie, und nach wie vor bog immer nur ich aus, er aber bemerkte es nicht einmal. – Und siehe, da kam mir plötzlich ein bewunderungswürdiger Gedanke. „Wie aber,“ dachte ich, „wie wäre es, wenn ich ihm begegne und ... nicht ausbiege! Absichtlich nicht ausbiege, und wenn ich ihn auch stoßen sollte? Wie, wie wäre das?“ Dieser freche Gedanke bemächtigte sich meiner allmählich derart, daß ich überhaupt keine Ruh mehr hatte. Ich dachte ununterbrochen, wie das wohl sein würde und ging absichtlich noch öfter auf den Newsky, um mir noch deutlicher vorzustellen, wie ich es machen würde. Ich war einfach begeistert. Diese Absicht schien mir immer mehr und mehr ausführbar.

„Versteht sich, nicht stark stoßen,“ dachte ich, schon im Voraus durch die Freude gütiger gestimmt, „sondern nur so, einfach nicht ausweichen, mit ihm zusammenprallen, natürlich nicht schmerzhaft, aber so, Schulter mit Schulter, genau so viel, wie es der Anstand erlaubt; so daß ich ihn eben so stark anstoße, wie er mich stößt.“ Endlich entschloß ich mich definitiv dazu. Doch die Vorbereitungen nahmen noch sehr viel Zeit. Vor allen Dingen mußte man zu diesem Zwecke möglichst anständig aussehen, also mußte man zuerst an die Kleider denken. „Auf alle Fälle, wenn z. B. ein Auflauf entsteht – das Publikum ist doch dort pikfein: Gräfin M. geht, Fürst D. geht, die ganze Literatur geht –, da muß man doch gut angezogen sein; das macht einen günstigen Eindruck und stellt einen in den Augen der höheren Gesellschaft gewissermaßen auf eine höhere Stufe.“ Zu diesem Zweck bat ich denn den Kassierer mir mein Monatsgehalt vorauszuzahlen und kaufte mir dann bei Tschurkin ein Paar schwarze Glacé-Handschuhe und einen anständigen Hut. Schwarze Handschuhe schienen mir erstens solider, und zweitens mehr bon-ton als zitronenfarbene, auf die ich es zuerst abgesehen hatte. „Die Farbe ist zu grell und es sieht dann aus, als ob der Mensch sich allzusehr hervortun will,“ und so verzichtete ich denn auf die zitronenfarbenen. Ein gutes Hemd mit weißen Knöpfen hatte ich schon längst bei Seite gelegt; nur der Mantel hielt mich noch auf. An und für sich war er ja gar nicht übel, gut warm; er war aber wattiert und hatte bloß einen ganz billigen Pelzkragen: Waschbär, was schon die Krone der Billigkeit ist. Da hieß es denn unbedingt einen neuen Kragen kaufen, und zwar, was es auch koste, sich einen kleinen Biber, in der Art, wie ihn die Offiziere tragen, anzuschaffen. Zu diesem Zweck ging ich des öfteren in den Gostinny Dwor, und nach einigem hin und her entschied ich mich für einen billigen deutschen Biber. Diese deutschen Felle vertragen sich zwar sehr schnell, und sehen dann miserabel aus, doch dafür sind sie, wenn sie noch neu sind, sogar sehr anständig; ich aber brauchte ja den Kragen nur für das eine Mal. Ich fragte nach dem Preis: immerhin war’s teuer. Nach reiflichem Überlegen entschloß ich mich, meinen Waschbärkragen zu verkaufen. Die fehlende und für mich doch recht beträchtliche Summe wollte ich borgen, und zwar von Anton Antonytsch Ssetotschkin, meinem Bureauvorsteher, einem stillen, ernsten und durchaus positiven Menschen, der sonst niemandem Geld lieh, doch dem ich bei meinem Antritt von dem mich für diesen Dienst bestimmenden Würdenträger ganz besonders empfohlen worden war. Ich quälte mich fürchterlich. Anton Antonytsch um Geld anzugehen, schien mir ungeheuerlich und schmachvoll. Zwei, drei Nächte konnte ich nicht schlafen und überhaupt schlief ich damals wenig: war wie im Fieber. Das Herz war so träge und dumpf und hörte zuweilen ganz auf, zu schlagen, zuweilen aber fing es plötzlich an, zu springen und dann sprang es, und sprang, und sprang ... Anton Antonytsch war zuerst sehr erstaunt, darauf runzelte er die Stirn, dachte nach und schließlich lieh er mir doch das Geld – nachdem er sich von mir einen Zettel hatte ausstellen lassen, daß er das geliehene Geld nach zwei Wochen von meiner Gage zurückbehalten konnte. Auf diese Weise war schließlich alles bereit; ein hübscher Biber ersetzte meinen häßlichen Waschbär und ich bereitete mich allmählich zur Tat vor. Natürlich konnte man’s doch nicht gleich beim ersten Mal, doch nicht irgendwie unbedacht, nachlässig tun; man mußte es geschickt machen, mußte sich eben allmählich einüben. Nur muß ich gestehen, daß ich nach vielfachen Versuchen geradezu in Verzweiflung geriet: es muß wohl so bestimmt sein, daß wir nicht zusammenstoßen! dachte ich hoffnungslos. Wie ich mich auch vorbereitete, wie fest ich auch entschlossen war, – jetzt, jetzt, gleich, sofort prallen wir aneinander und – wieder war ich ausgebogen, und wieder war er an mir vorübergegangen, ohne mich auch nur zu bemerken! Ich betete sogar, wenn ich mich ihm näherte, damit Gott mir Mut gäbe. Einmal hatte ich mich schon fest entschlossen, doch endete es damit, daß ich ihm nur vor die Füße kam, denn im letzten Augenblick, einige Zentimeter vor ihm, verließ mich der Mut. Mit der größten Seelenruhe schritt er weiter, ich aber flog wie ein Ball zur Seite. In der Nacht darauf lag ich wieder im Fieber und phantasierte wirres Zeug. Und plötzlich endete es besser, als man’s sich überhaupt hätte wünschen können! Am Vorabend beschloß ich definitiv, von meinem unglücklichen Vorhaben abzulassen, die Rache einfach aufzugeben und mit diesem Entschluß ging ich noch zum letzten Mal auf den Newsky, um zu sehn, wie ich das alles so aufgebe ... Plötzlich, drei Schritt vor meinem Feinde, faßte ich den Entschluß, schloß krampfhaft die Augen und – wir stießen uns gehörig Schulter an Schulter! Keinen Zentimeter breit war ich ausgewichen, und ich ging, ihm vollkommen gleichstehend, an ihm vorüber!! Er blickte sich nicht einmal nach mir um und tat, als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte; natürlich tat er nur so, davon bin ich überzeugt. Bis auf den heutigen Tag bin und bleibe ich davon überzeugt! Natürlich bekam ich mehr ab als er; er war ja viel stärker, doch nicht darum handelte es sich. Es handelte sich darum, daß ich mein Ziel erreicht, meine Würde aufrecht erhalten hatte, keinen Zollbreit ausgewichen war, und mich öffentlich mit ihm auf die gleiche soziale Stufe gestellt hatte! Ich hatte mich für alles gerächt! Triumphierend kehrte ich zurück in meinen dunklen Winkel. Ich war begeistert und sang italienische Arien. Selbstverständlich werde ich Ihnen nicht erzählen, was drei Tage darauf mit mir geschah; wenn Sie den ersten Teil, „Das Dunkel“, gelesen haben, so können Sie’s vielleicht selbst erraten ... Der Offizier wurde später irgendwohin versetzt; seit vierzehn Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehn. Wer weiß, was jetzt mein Herzensjunge macht? Wen er jetzt auf die Seite drängt?

II.

Doch auch die Periode meiner Ausschweifungen ging vorüber und mir wurde alles unsäglich zuwider. Die Reue kam, ich verjagte sie: es war schon zu ekelhaft. Mit der Zeit aber gewöhnte ich mich auch an sie: Ich gewöhnte mich ja an alles, d. h. nicht gerade, daß ich mich an alles gewöhnt hätte, sondern ich willigte gewissermaßen freiwillig ein, zu ertragen. Doch hatte ich einen Ausweg, der alles wieder gut machte, das war – mich ins „Schöne und Hohe“ zu retten, natürlich: nur in der Phantasie. Phantasieren tat ich unglaublich viel, ich phantasierte in meinen Winkel verkrochen mitunter drei Monate lang in einem Strich, und Sie können es mir schon glauben, daß ich dann nicht jenem Herrn glich, der in der Verwirrung seines Hühnerherzens an den Kragen seines Mantels einen deutschen Biber nähte. Ich wurde plötzlich Held. Meinen langen Leutnant hätte ich dann nicht einmal empfangen, wenn er, sagen wir, seine Visite bei mir hätte machen wollen. Ich konnte ihn mir damals überhaupt nicht vorstellen, konnte überhaupt nicht an ihn denken. Was ich damals gerade dachte, wovon ich träumte, und wie mir das genügen konnte, ist jetzt schwer zu sagen, doch damals genügte es mir vollkommen. Übrigens genügt es mir ja auch jetzt teilweise. Ganz besonders süß und wild waren die Träumereien nach meinen jämmerlichen Ausschweifungen; sie kamen mit Reue und Tränen, mit Flüchen und Ekstasen. Es gab Augenblicke, in denen mein Entzücken, mein Freudentaumel, mein Glück so rein waren, daß ich, bei Gott!, nicht den geringsten Spott in mir fühlte. Dann war alles vorhanden: Hoffnung, Glaube, Liebe. Das war’s ja, daß ich dann blind glaubte, alles würde durch irgend ein Wunder, irgend einen äußeren Umstand plötzlich auseinanderrücken, würde sich erweitern; und es würde sich plötzlich die Perspektive einer entsprechenden Tätigkeit für mich öffnen, einer segenreichen, schönen und, vor allen Dingen, ganz besonderen – was für einer eigentlich, wußte ich allerdings nie, aber die Hauptsache war doch, daß es eine ganz besondere Tätigkeit sein würde. Und siehe, da trete ich denn plötzlich auf, und es fehlt nicht viel, daß ich auf weißem Roß im Lorbeerkranz erscheine ... In einer zweitrangigen Rolle habe ich mich nie denken können. Deswegen war ich denn auch in Wirklichkeit in größter Seelenruhe mit der letztrangigen zufrieden. Entweder Held oder Schmutz, eine Mitte gabs nicht. Das wars ja, was mich verdarb, denn im Schmutz beruhigte ich mich damit, daß ich zu anderen Zeiten wiederum Held war, der Held aber den Schmutz zur Null macht: für einen gewöhnlichen Menschen, meinte ich, ist es eine Schande, in den Schmutz zu geraten, der Held jedoch steht viel zu hoch, um sich je beschmutzen zu können, folglich kann er ruhig in Schmutz geraten. Sonderbar, daß mich diese Fluten „alles Schönen und Hohen“ auch in der Zeit meiner elenden Ausschweifungen überkamen, und zwar gerade dann, wenn ich schon ganz auf dem Boden lag. Sie kamen dann so in einzelnen kurzen kleinen Wellen, als ob sie nur an sich erinnern wollten, vernichteten aber mit ihrem Erscheinen doch nicht die Gemeinheit. Im Gegenteil, durch den Kontrast belebten sie sie geradezu, und sie kamen genau nur in der Portion, die zu einer guten Sauce nötig war. Diese Sauce bestand aus Widersprüchen und Leiden, aus qualvoller innerer Analyse, und alle diese Qualen und Quälchen gaben dann geradezu eine gewisse Pikanterie, gaben sogar meinen gemeinen Ausschweifungen einen Sinn, – mit einem Wort, sie erfüllten in jeder Beziehung die Pflicht und Schuldigkeit einer guten Sauce. Alles das war sogar nicht ohne eine gewisse Tiefe. Und wie hätte ich mich denn auf eine einfache, gemeine Schreiberausschweifung einlassen und wie hätte ich diesen ganzen Schmutz dann auf mir ertragen können! Was konnte mich denn damals zum Schmutz verführen, was mich nachts auf die Straße locken? Nein, wissen Sie, ich hatte für alles ein edles Schlupfloch ...

Doch wieviel Liebe, Herrgott, wieviel Liebe erlebte ich zuweilen in diesen meinen Träumereien, in diesen „Rettungen in alles Schöne und Hohe“! Wenn’s auch eine phantastische Liebe war, wenn sie sich auch niemals auf etwas Menschenartiges in Wirklichkeit übertrug, so war sie ja doch dermaßen groß, diese Liebe, daß man später, in Wirklichkeit, gar nicht das Bedürfnis empfand, sie auf jemanden zu übertragen: das wäre schon ganz überflüssiger Luxus gewesen. Übrigens endete alles immer überaus glücklich in trägem und berauschendem Übergang zur Kunst, d. h. zu den schönen Formen des Seins, zu ganz fertigen, versteht sich, die natürlich stark von Dichtern und Romantikern entlehnt waren und allen möglichen Anforderungen angepaßt wurden. Zum Beispiel: ich triumphiere über alle; selbstverständlich liegen sie alle im Staube vor mir und sind gezwungen, freiwillig meine sämtlichen Vollkommenheiten anzuerkennen, und ich vergebe ihnen darauf alles. Ich verliebe mich, bin berühmter Dichter und Kammerherr, verdiene unzählige Millionen und spende sie sofort für das Wohl der Menschheit, und zu gleicher Zeit beichte ich vor dem ganzen Volke alle meine Laster, die selbstverständlich nicht gewöhnliche Laster sind, sondern ungemein viel „Schönes und Hohes“ in sich schließen – Laster, die, sagen wir, etwas Manfredartiges haben. Alle weinen und küssen mich natürlich – wären sie doch Tölpel, wenn sie das nicht täten –, ich aber gehe barfuß und hungrig von dannen, um neue Ideen zu verkünden und schlage die Reaktionäre bei Austerlitz. Darauf wird ein Marsch gespielt, eine Amnestie wird erlassen, der Papst willigt ein, von Rom nach Brasilien überzusiedeln; darauf wird für ganz Italien ein Ball gegeben in der Villa Borghese, die am Comersee liegt, da der Comersee expreß zu diesem Zweck nach Rom verlegt wird; darauf folgt eine Szene im Gebüsch u. s. w., u. s. w. – als ob Sie’s nicht wüßten? ... Sie sagen, es sei niedrig und gemein, alles das jetzt auf den Markt zu tragen, besonders nach so viel Begeisterung und Tränen, die ich selbst eingestanden habe. Aber warum ist’s denn gemein? Glauben Sie denn wirklich, daß ich mich all dessen schäme, und daß alles dieses dümmer ist, als einerlei was in Ihrem Leben, meine hochverehrten Herren? Und zudem können Sie mir glauben, daß ich mir manches wirklich gar nicht so übel zusammengesetzt hatte ... Es spielte sich doch nicht alles auf dem Comersee ab. Doch übrigens, Sie haben Recht; es ist tatsächlich niedrig und gemein. Aber am allergemeinsten ist, daß ich mich jetzt vor Ihnen zu rechtfertigen suche. Und noch gemeiner ist es, daß ich jetzt diese Bemerkung mache. Nun aber genug, sonst käme man ja überhaupt nicht zum Schluß: immer würde eines noch gemeiner als das andere sein ...

Länger als drei Monate in einem Strich denken, konnte ich aber doch nicht; dann stellte sich bei mir das unüberwindliche Bedürfnis ein, mich in menschliche Gesellschaft zu stürzen: das bedeutete für mich, zu meinem Bureauvorsteher Anton Antonytsch Ssetotschkin zum Besuch zu gehn. Das war in meinem ganzen Leben mein einziger ständiger Bekannter, – nein wirklich, jetzt wundert mich das sogar selbst –. Doch auch zu ihm ging ich nur im äußersten Fall, bloß dann, wenn schon die Periode begann, in der meine Träumereien zu solch einem Glück wurden, daß ich unbedingt und unverzüglich die Menschen oder die Menschheit umarmen mußte; zu dem Zweck aber mußte man wenigstens einen wirklich vorhandenen, wirklich existierenden Menschen vor sich haben. Zu Anton Antonytsch konnte man übrigens nur Dienstags gehen – das war sein freier Tag –, folglich mußte man auch das Bedürfnis, die ganze Menschheit zu umarmen, immer auf den Dienstag hinausschieben. Dieser Anton Antonytsch wohnte bei den Fünf Ecken im vierten Stock in vier niedrigen Zimmerchen, die klein-kleiner-am-kleinsten waren und einen recht ärmlichen Eindruck machten. Er hatte zwei Töchter und deren Tante, die gewöhnlich mit Tee bewirtete, bei sich. Die Töchter waren eine dreizehn, die andere vierzehn; beide hatten sie Stutznäschen, und mich verwirrten sie nicht wenig, denn sie flüsterten und kicherten die ganze Zeit. Der Hausherr saß immer in seinem Arbeitszimmer auf dem Ledersofa vor dem Tisch, meistens mit irgend einem alten Bekannten, oder einem Beamten aus unserer Kanzlei. Mehr als zwei oder drei Gäste – immer dieselben – habe ich dort nie gesehn. Man sprach über die Accise, über die Senatsverhandlungen, über die Gagen, von seiner Exzellenz, von dem Mittel zu Gefallen und ähnlichem ad infinitum. Ich hatte die Geduld, neben diesen Menschen als Narr mitunter geschlagene vier Stunden zu sitzen und ihnen zuzuhören, ohne selbst auch nur einmal ein Wort zu sagen oder sagen zu können. Ich stumpfte vor mich hin, schwitzte und fühlte einen Schlaganfall über mir schweben; aber es war gut und nützlich. Nach Haus zurückgekehrt, schob ich meinen Wunsch, die ganze Menschheit zu umarmen, für eine Zeitlang auf.

Übrigens hatte ich noch so etwas wie einen Bekannten: Ssimonoff, meinen gewesenen Schulkameraden. Solcher Schulkameraden hatte ich genau genommen nicht wenige in Petersburg, doch gab ich mich mit ihnen nicht weiter ab, ja, ich hörte sogar auf, sie auf der Straße zu grüßen. Vielleicht war das der einzige Grund, warum ich in ein anderes Ressort überging, – ich meine, vielleicht tat ich es nur, um mit meiner ganzen verhaßten Kindheit mit einem Mal abzubrechen. Verflucht sei diese Schule, diese furchtbaren Gefängnisjahre! Kurz: als ich endlich die Schule hinter dem Rücken hatte, wollte ich nichts mehr von meinen Mitschülern wissen. Es blieben höchstens drei oder vier Menschen, mit denen ich, wenn ich sie traf, noch einen Gruß tauschte. Zu diesen vier gehörte auch Ssimonoff. In der Schule zeichnete er sich durch nichts aus, war gleichmäßig ruhig und still, doch entdeckte ich in seinem Charakter eine gewisse Unabhängigkeit und sogar Ehrlichkeit. Ja, ich glaube nicht einmal, daß er sehr beschränkt war. Einmal hatten wir beide ziemlich lichte Stunden durchlebt, doch die hielten nicht lange an, und allmählich breitete sich Nebel über sie. Ihm waren diese Erinnerungen augenscheinlich unangenehm, und er fürchtete, wie’s mir schien, immer, ich würde wieder in den alten Ton verfallen. Ich vermutete zwar, daß ich ihm widerlich war, doch ging ich trotzdem zu ihm, da ich mich davon doch noch nicht ganz überzeugt hatte.

Und einmal, an einem Donnerstag, konnte ich meine Einsamkeit nicht mehr ertragen, und da ich wußte, daß Donnerstags Anton Antonytschs Tür verschlossen war, so ging ich denn zu Ssimonoff. Als ich langsam zum vierten Stock zu ihm hinaufstieg, dachte ich noch gerade, daß ich ihm doch nur lästig falle und daher eigentlich nicht zu ihm gehen sollte. Doch da es ja bei mir gewöhnlich damit endete, daß ähnliche Bedenken mich noch mehr aufstachelten, in zweideutige Lagen zu kriechen, so trat ich auch damals bei ihm ein, anstatt zurück nach Haus zu gehen. Es war fast ein ganzes Jahr vergangen, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

III.

Er war nicht allein: zwei meiner früheren Schulkameraden saßen bei ihm. Sie sprachen, wie es schien, über etwas sehr Wichtiges. Auf meinen Eintritt verwandte kein einziger von ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit, was mir eigentlich etwas sonderbar erschien, denn wir hatten uns doch schon jahrelang nicht mehr gesehen. Augenscheinlich hielt man mich für so etwas wie eine gewöhnliche Fliege. Derartig hatte man mich nicht einmal in der Schule behandelt, obgleich mich dort alle gehaßt hatten. Ich begriff natürlich, daß sie mich wegen meines Mißerfolges in der Karriere, wegen meiner tiefen Gesunkenheit, wegen meines schlechten Überziehers u. s. w. verachteten. Mein Überzieher war in ihren Augen geradezu das Plakat meiner Unfähigkeit und geringen Bedeutung. Doch immerhin hatte ich nicht eine dermaßen tiefe Verachtung von ihnen erwartet. Ssimonoff wunderte sich sogar über meinen Besuch. Auch früher schon hatte er immer getan, als ob ihn mein Kommen in Erstaunen setzte. Alles das machte mich natürlich stutzig; ich setzte mich ein wenig bedrückt auf einen Stuhl und hörte ihrem Gespräch zu.

Man sprach ernst und interessiert über das Abschiedsdiner, das diese drei ihrem Freunde Swerkoff, der als aktiver Offizier in den Kaukasus versetzt worden war, am Tage vor der Abfahrt geben wollten. Dieser Swerkoff war gleichfalls von der ersten Klasse an mein Mitschüler gewesen, aber erst in den höheren Klassen hatte ich ihn ganz besonders gehaßt. In den unteren Klassen war er bloß ein netter, mutwilliger Knabe gewesen, den alle liebten. Übrigens haßte ich ihn auch schon in den unteren Klassen, und zwar gerade, weil er ein netter und mutwilliger Knabe war. Was das Lernen anbetraf, so lernte er ausnahmslos schlecht, und zwar von Jahr zu Jahr schlechter; einstweilen aber beendete er doch das Gymnasium, denn er hatte eine gute Protektion. Als er in der letzten Klasse war, fiel ihm eine Erbschaft zu, zweihundert Seelen, und da wir anderen fast alle arm waren, so tat er sich gar bald mit seinem Reichtum vor uns wichtig. Er war ja ein im höchsten Grade fader Mensch, doch trotzdem ein guter Junge, selbst dann, wenn er aufschnitt. Bei uns aber scherwenzelten, abgesehen von sehr wenigen, fast alle vor ihm, trotz unserer äußeren phantastischen und phrasenhaften Schuljungenbegriffe von Ehre und Honorigkeit. Und man tat es nicht etwa, um von ihm etwas dafür zu erhalten, sondern einfach nur so, vielleicht weil ihn die Natur bei der Verteilung ihrer Gaben bevorzugt hatte. Zudem hielt man ihn, ich weiß nicht warum, für einen Spezialisten in allem, was die Gewandtheit und gute Manieren anbetraf. Das ärgerte mich ganz besonders. Ich haßte seine helle, selbstzufriedene Stimme, seine Bewunderung der eigenen Witzchen, die gewöhnlich äußerst dumm waren, wenn er auch sonst ganz unterhaltend sein konnte. Ich haßte sein hübsches, doch ziemlich dummes Gesicht – gegen das ich, nebenbei bemerkt, mein kluges gerne eingetauscht hätte – und seine freien Offiziersmanieren. Ich haßte es, daß er von seinen zukünftigen Erfolgen bei den Frauen sprach – doch konnte er sich nicht entschließen, mit ihnen vorher anzufangen, als bis er die heißersehnten Offiziersepauletten hatte –, und seine Prahlerei, daß er fortwährend Duelle haben würde. Ich erinnere mich noch, wie ich, der ich immer schweigsam war, plötzlich mich auf ihn stürzte, als er gerade in der Zwischenpause mit den Kameraden selbstzufrieden wie ein junger Köter in der Sonne wieder über die Weiber sprach und erklärte, daß er kein einziges Mädchen seines Gutes unbeachtet lassen würde, dieses wäre „droit de seigneur“, die Bauernkerle aber, falls sie sich erdreisten sollten, zu protestieren, alle durchpeitschen und diesen bärtigen Kanaillen dann noch doppelte Pacht auflegen würde. Unsere Hamiten klatschten Beifall, ich aber krallte ihn, doch tat ich das keineswegs aus Mitleid mit den Mädchen, oder ihren Vätern, sondern einfach weil solch ein Mistkäfer so großen Beifall fand. Ich behielt damals die Oberhand, Swerkoff aber war, wenn auch an und für sich dumm, doch lustig und dreist, und so zog er sich mit Lachen aus der Situation, und zwar gelang ihm das so gut, daß ich im Grunde genommen denn doch nicht ganz die Oberhand behielt: die Lacher waren auf seiner Seite. Später besiegte er mich noch mehrmals, doch eigentlich ganz ohne Bosheit, mehr scherzend, so im Vorübergehen, lachend. Ich tat, als ob ich ihn verachtete und schwieg. Nach der Entlassung näherte er sich mir ein wenig und ich sträubte mich nicht sonderlich, denn es schmeichelte mir selbstverständlich sehr; doch gingen wir bald wieder auseinander, was ja ganz natürlich war. Später hörte ich von seinen Leutnantserfolgen, von seinem flotten Leben. Darauf hieß es, daß er im Dienst gute Fortschritte machte. Nach einiger Zeit grüßte er mich nicht mehr auf der Straße; wohl um sich nicht durch die Bekanntschaft mit solch einer unbedeutenden Persönlichkeit zu kompromittieren. Einmal sah ich ihn auch im Theater, da hatte er schon Achselschnüre. Er machte den Töchtern irgend eines alten Generals eifrig den Hof. Darauf, so nach drei Jahren, hatte er sich plötzlich ziemlich stark verändert, wenn er auch noch wie früher hübsch und gewandt war: er wurde dick; und als ich ihn nachher wiedersah, war sein Gesicht schon ein wenig aufgedunsen; es war vorauszusehen, daß er mit dreißig Jahren feist werden würde. Also diesem Swerkoff wollten meine Schulkameraden ein Abschiedsdiner geben. Sie hatten sich in diesen drei Jahren ununterbrochen mit ihm abgegeben, wenn sie sich auch innerlich nicht für gleichstehend mit ihm hielten – davon bin ich überzeugt.

Von den beiden Gästen Ssimonoffs war der eine Ferfitschkin, ein Deutsch-Russe – ein Männchen von kleinem Wuchs mit einem Affengesicht, ein alle Welt verspottender Dummkopf, mein gehässigster Feind noch aus den untersten Klassen –, ein gemeiner, frecher Prahlhans, der vorgab, in Ehrensachen äußerst kitzlich zu sein, in Wirklichkeit aber natürlich ein Feigling war. Er gehörte zu jenen Anhängern Swerkoffs, die sich mit ihm nur abgaben, weil er gesellschaftlich höher stand und sie ihn anpumpen konnten. Der andere Gast Ssimonoffs war Trudoljuboff, kein sehr bemerkenswerter Mensch, Militär, von großem Wuchs mit einer kalten Physiognomie, ein Mensch, dem jeder Erfolg imponierte, und der im übrigen nur fähig war, über Rußlands Produktionsfähigkeit zu sprechen. Mit Swerkoff war er irgendwie entfernt verwandt, und das – es ist zwar dumm zu sagen, aber es war nun einmal so –, das gab ihm unter uns eine gewisse Bedeutung. Mich hielt er für eine Null; wenn er auch nicht gerade sehr höflich zu mir war, so betrug er sich doch leidlich.

„Also abgemacht: pro Mann sieben Rubel,“ begann Trudoljuboff, „– wir sind drei, macht also einundzwanzig. Dafür kann man schon dinieren. Swerkoff zahlt natürlich nicht.“

„Selbstverständlich zahlt er nicht, wenn wir ihn doch auffordern,“ meinte Ssimonoff.

„Glaubt Ihr denn wirklich, Swerkoff wird uns allein zahlen lassen?“ fragte plötzlich hochmütig auffahrend Ferfitschkin – ganz wie ein unverschämter Lakai, der mit den Orden seines Herrn prahlt –. „Aus Delikatesse wird er es vielleicht tun, dafür aber von sich aus wie ein halbes Dutzend ansetzen!“

„Na, wissen Sie, sechs Flaschen Champagner sind denn doch für uns zu viel,“ bemerkte Trudoljuboff, dem nur das „halbe Dutzend“ aufgefallen war.

„Also wir drei, mit Swerkoff vier, für einundzwanzig Rubel im Hotel de Paris, morgen um Punkt fünf,“ schloß Ssimonoff, der zum Anordner gewählt worden war.

„Wieso einundzwanzig?“ fragte ich, kaum, daß er ausgesprochen hatte, einigermaßen erregt und scheinbar sogar gekränkt, „ich bin doch auch dabei, also nicht einundzwanzig, sondern achtundzwanzig Rubel!“

Ich glaubte, sich so plötzlich und unerwartet anbieten würde sich sehr schön ausnehmen und sie würden alle im Augenblick besiegt sein und mich achten.

„Wollen Sie denn auch –?“ fragte statt dessen Ssimonoff ungehalten, wobei er es vermied, mich anzusehen. Er kannte mich auswendig.

Mich ärgerte es maßlos, daß er mich so gut kannte.

„Warum denn nicht? Ich bin doch, glaube ich, auch sein Schulfreund, und ich muß offen gestehn, es kränkt mich sogar, daß man mich übergangen hat.“

„Wo Teufel sollte man Sie denn suchen?“ fragte frech Ferfitschkin.

„Sie standen sich doch niemals sehr besonders mit Swerkoff,“ bemerkte gleichfalls geärgert Trudoljuboff. Ich aber ließ sie nicht mehr los.

„Ich glaube, darüber zu urteilen steht mir allein zu,“ entgegnete ich mit wutbebender Stimme, ganz als ob Gott weiß was geschehen wäre. „Vielleicht will ich gerade deswegen jetzt mit ihm speisen, weil ich mich früher nicht besonders mit ihm stand.“

„Na, wer kann denn das ahnen ... diese Feinheiten ...“ bemerkte lächelnd Trudoljuboff.

„Nun gut,“ entschied Ssimonoff und wandte sich zu mir, – „morgen um fünf Uhr im Hotel de Paris. Verspäten Sie sich nicht,“ fügte er hinzu.

„Und das Geld ...?“ begann Ferfitschkin halblaut, indem er mit dem Kopf auf mich wies und Ssimonoff fragend anblickte, verstummte aber, da sogar Ssimonoff verlegen wurde.

„Nun, genug,“ sagte Trudoljuboff und erhob sich. „Wenn er so große Lust hat, mag er kommen.“

„Aber unser Kreis ist doch privat,“ sagte Ferfitschkin wütend und griff gleichfalls nach seinem Hut. „Das ist doch keine öffentliche Versammlung.“

„Vielleicht wollen wir Sie überhaupt nicht ...“

Sie gingen: Ferfitschkin grüßte mich nicht einmal, Trudoljuboff nickte kaum, ohne mich dabei anzusehen. Ssimonoff, mit dem ich allein blieb, war verdrossen und schien unangenehme Bedenken zu tragen; nur einmal blickte er mich sonderbar an. Er setzte sich nicht und forderte auch mich nicht auf, Platz zu nehmen.

„Hm! ... ja ... also morgen. Geben Sie das Geld heute? Ich ... nur um es genau zu wissen,“ begann er, brach aber sofort verlegen ab.

Ich wurde rot und im selben Augenblick fiel es mir plötzlich ein, daß ich Ssimonoff noch seit undenklichen Zeiten fünfzehn Rubel schuldete, die ich übrigens nie vergessen, doch die ich ihm noch immer nicht wiedergegeben hatte.

„Sagen Sie es sich doch selbst, Ssimonoff, ich konnte es doch nicht wissen, als ich herkam ... es tut mir sehr leid, daß ich vergaß, m...“

„Schon gut, schon gut, bleibt sich ja gleich. Sie zahlen dann morgen nach dem Diner. Ich fragte ja nur, um zu wissen ... bitte ...“

Er verstummte mitten im Satz, schritt aber noch unwilliger im Zimmer auf und ab, wobei er mit den Absätzen immer stärker und stärker auftrat.

„Ich halte Sie doch nicht auf?“ fragte ich ihn nach längerem Schweigen.

„O, nein!“ protestierte er und tat, als ob er aus tiefen Gedanken auffahre, „– das heißt ... im Grunde – ja. Sehen Sie, ich müßte eigentlich noch ausgehen ... hier, in der Nähe ...“ fügte er mit entschuldigender Stimme hinzu. Ersichtlich schämte er sich ein wenig.

„Ach, mein Gott! Warum sagten Sie es nicht gleich!“ rief ich, ergriff meine Mütze und verabschiedete mich von ihm – übrigens benahm ich mich in dem Augenblick ganz erstaunlich ungezwungen; weiß Gott woher diese Sicherheit über mich kam.

„Es ist ja nicht weit ... Hier ganz in der Nähe ...“ wiederholte Ssimonoff etwas gar zu geschäftig, als er mich in den Treppenflur hinausbegleitete. „Also morgen um Punkt fünf!“ rief er mir noch nach; er war schon allzu glücklich über meinen Aufbruch. Ich aber raste innerlich vor Wut.

„Was plagte Dich, was plagte Dich, Deine Nase da hineinzustecken!“ fragte ich mich zähneknirschend auf der Straße. „Dieser Gauner, dieses Ferkel Swerkoff! Einfach – ich gehe nicht! Natürlich, hol sie der Henker! Bin ich denn etwa gebunden? Morgen früh werde ich Ssimonoff brieflich benachrichtigen ...“

Aber ich raste ja doch nur vor Wut, weil ich wußte, weil ich genau, tödlich genau wußte, daß ich doch gehen würde, zum Trotz gehen würde! Und je taktloser, je unanständiger es sein sollte, hinzugehen, um so eher würde ich gehen! – das wußte ich.

Und ich hatte sogar einen guten Grund, abzusagen: hatte kein Geld. Alles in allem besaß ich noch neun Rubel. Doch von diesen neun Rubeln mußte ich am nächsten Tage meinem Aufwärter Apollon, der bei mir wohnte, doch sich selbst beköstigte, seine Monatsgage, sieben Rubel, auszahlen.

Nicht auszahlen war unmöglich, da ich den Charakter meines Apollon nur zu gut kannte. Doch auf diese Kanaille, auf diese meine Plage, meine Seuche, werde ich noch ausführlicher zu sprechen kommen.

Aber ich wußte es ja im voraus, daß ich ihm das Geld doch nicht geben und unbedingt ins Hotel de Paris gehen würde.

In jener Nacht hatte ich ganz hundsgemeine Träume. Kein Wunder: den ganzen Abend vorher hatten mich Erinnerungen aus den Kerkerjahren meiner Schulzeit gequält; nicht loszuwerden! In diese Schule hatten mich meine entfernten Verwandten gesteckt, – mich, den Waisenknaben, der ich schon sowieso verprügelt und von ihren Vorwürfen fast erdrückt war. Ich war ein schweigsames, nachdenkliches Kind, das nur scheu beobachtete. Meine Mitschüler empfingen mich mit boshaften, unbarmherzigen Witzchen, weil ich ihnen so ganz unähnlich war. Ich aber konnte keinen Spott ertragen; ich konnte mich nicht so schnell wie andere Kinder mit ihnen einleben. Ich haßte sie vom ersten Tage an, zog mich ganz von ihnen zurück und wappnete mich mit übermäßig empfindlichem Stolz. Ihre Rohheit empörte mich. Sie lachten zynisch über mein Gesicht, über meine eckige Gestalt; und doch – was hatten sie selbst für Gesichter! In unserer Schule wurden die Gesichter mit der Zeit ganz absonderlich dumm. Wie viele prächtige Kinder traten bei uns ein – und schon nach wenigen Jahren war’s widerlich, sie anzusehen. Ich war noch nicht sechzehn, als ich mich schon über die Flachheit ihrer Gedanken, die Dummheit ihrer Beschäftigungen, Spiele und Gespräche wunderte. Die wichtigsten Dinge, die auffallendsten Erscheinungen konnten sie nicht verstehen, ja, sie hatten nicht einmal Interesse für sie übrig, so daß ich sie unwillkürlich für unter mir stehende Geschöpfe hielt. Nicht etwa beleidigter Ehrgeiz veranlaßte mich dazu, und kommen Sie mir um Gottes willen nicht mit den bis zur Übelkeit durchgekauten Gemeinplätzen, den alten abgedroschenen Phrasen, wie: „Sie träumten bloß, jene aber begriffen schon das wirkliche Leben“. Nichts begriffen sie, vom wirklichen Leben schon ganz zu schweigen, und das, ich schwör’s Ihnen, das war es gerade, was mich an ihnen am meisten empörte. Im Gegenteil, die augenscheinlichste, die auffallendste Wirklichkeit faßten sie geradezu phantastisch dumm auf, und schon damals achteten sie nur den Erfolg. Alles, was im Recht, doch erniedrigt und verprügelt war, wurde von ihnen grausam und schmählich verlacht. Rang oder Titel hielten sie für Verstand; schon mit sechzehn Jahren philosophierten sie über warme Plätzchen, ich meine, über gute ruhige Posten. Natürlich kam das meist von ihrer Dummheit und dem schlechten Beispiel, das sie von Kindheit an vor Augen hatten. Verdorben waren sie bis zu Ungeheuern. Natürlich war hierbei vieles nur äußerlich, war nur angenommener Zynismus; Jugend und eine gewisse Frische durchbrachen auch bei ihnen zuweilen die Verderbnis, doch war selbst diese Frische an ihnen abstoßend. Ich haßte sie furchtbar, obgleich ich womöglich noch schlechter war als sie. Sie zahlten mir mit derselben Münze heim und machten auch aus ihrem Haß keinen Hehl. Doch ich wollte damals schon nichts mehr von ihrer Liebe wissen; im Gegenteil, ich wollte sie nur noch erniedrigen. Um mich vor ihren Spötteleien zu schützen, bemühte ich mich absichtlich, möglichst gut zu lernen, und so wurde ich denn alsbald einer der ersten Schüler. Das imponierte ihnen natürlich. Zudem leuchtete es ihnen allmählich ein, daß ich schon Bücher las, die sie nicht lesen konnten, und daß ich schon Dinge – die nicht in unseren speziellen Kursus gehörten – begriff, von denen sie noch nicht einmal hatten reden gehört. Doch auch dazu verhielten sie sich wie immer spöttisch, moralisch aber unterwarfen sie sich, – um so mehr, als sogar die Lehrer in der Beziehung einige Aufmerksamkeit auf mich verwandten. Die Spötteleien hörten auf, doch die Feindseligkeit hörte nicht auf, und das Verhältnis zwischen ihnen und mir blieb kühl und gezwungen. Zu guterletzt hielt ich es selbst nicht aus; mit den Jahren stellte sich bei mir das Bedürfnis nach Menschen und Freunden ein. Ich versuchte zwar, mich einigen von ihnen zu nähern, aber diese Annäherungen waren von mir aus immer unnatürlich, und so hörten sie denn auch bald wieder auf. Einmal aber hatte auch ich einen Freund. Da ich aber schon von Hause aus Despot war, wollte ich unumschränkt über seine Seele herrschen: ich wollte in seine Seele Verachtung für die ihn umgebenden Menschen einpflanzen; ich verlangte von ihm, er sollte mit ihnen ganz und gar brechen. Ich ängstigte ihn mit meiner leidenschaftlichen Liebe; ich brachte ihn bis zu Tränen, zu Krämpfen; er hatte ein naives, sich hingebendes Herz; doch als er sich mir ganz ergeben hatte, da erfaßte mich plötzlich Haß gegen ihn, und ich stieß ihn von mir, – ganz als ob ich ihn nur gebraucht hätte, um ihn zu besiegen, um ihn mir zu unterwerfen. Alle aber konnte ich doch nicht so besiegen; mein Freund war gleichfalls nicht wie die anderen, er glich keinem einzigen von ihnen und war in jeder Beziehung eine Ausnahme. Als ich die Schule verließ, war das Erste, was ich tat, daß ich den Dienst, zu dem ich bestimmt war, verließ, um so alle Fäden, die mich an das Frühere banden, zu zerreißen, das Vergangene zu verfluchen und den Staub alles Gewesenen von meinen Füßen zu schütteln ... Weiß der Teufel, warum ich dann noch zu diesem Ssimonoff kroch! ...

Am nächsten Morgen erwachte ich sehr früh, erinnerte mich sofort des Geschehenen und sprang erregt aus dem Bett, ganz als ob ich unverzüglich hätte hingehen müssen. Ich glaubte, daß noch am selben Tage irgend ein radikaler Umschwung in meinem Leben beginnen, ja, unbedingt beginnen würde. Weiß Gott, vielleicht war er aus Ungewohnheit, aber jedesmal bei irgend einem äußeren, wenn auch noch so kleinen Ereignis, schien es mir, daß sofort irgend ein radikaler Umschwung in meinem Leben eintreten würde. Übrigens begab ich mich an jenem Tage wie gewöhnlich in meine Kanzlei, doch verließ ich sie heimlich schon zwei Stunden früher als sonst, um mich zu Hause vorzubereiten. Die Hauptsache ist nur, dachte ich, daß Du nicht als erster erscheinst, sonst würde man denken, Du freutest Dich schon so sehr auf das Essen, daß Du nicht abwarten könntest. Doch solcher Hauptsachen gab es Hunderte und alle regten sie mich bis zu völliger Entkräftung auf. Eigenhändig putzte ich noch einmal meine Stiefel – waren mir nicht blank genug; Apollon hätte sie um nichts in der Welt zweimal am Tage geputzt, denn er fand, daß das nicht in der Ordnung sei. Und so putzte ich sie denn selbst, nachdem ich die Bürste im Vorzimmer glücklich erwischt hatte, heimlich in meinem Zimmer, damit er es nicht sah und dann Grund gehabt hätte, mich zu verachten. Darauf besah ich meine Kleider und fand, daß alles schon alt, fadenscheinig, vertragen war. Hatte mein Äußeres schon etwas zu sehr vernachlässigt. Der Überzieher war allerdings ausgebessert, aber ich konnte doch nicht im Überzieher dinieren. Doch das Schlimmste waren die Beinkleider: gerade auf dem Knie war ein großer gelber Fleck. Ich fühlte es im voraus, daß mir schon allein dieser Fleck neun Zehntel meiner Würde nehmen mußte. Auch wußte ich, daß es sehr niedrig war, so zu denken. „Doch jetzt ist’s nicht mehr ums Denken zu tun: jetzt beginnt die Wirklichkeit,“ dachte ich und verlor immer mehr den Mut. Auch wußte ich ganz genau – im selben Augenblick, da ich jenes dachte –, daß ich alle diese Dinge ungeheuer vergrößerte; aber was sollte ich machen: mich beherrschen war unmöglich. Fieberschauer schüttelten mich. Verzweifelt stellte ich mir vor, wie das alles sein wird: wie dieser „Gauner“ Swerkoff mich kühl und herablassend begrüßt; mit welch einer stumpfen, mit nichts abzuwehrenden Verachtung der Rüpel Trudoljuboff auf mich herabsieht, und wie gemein und frech dieser Mistkäfer Ferfitschkin über mich kichert, um Swerkoff zu gefallen; wie vorzüglich Ssimonoff alles versteht, wie er mich durchschaut und mich wegen der Niedrigkeit meines Ehrgeizes und Kleinmuts verachtet. Und vor allen Dingen – wie kläglich, wie unliterarisch, wie alltäglich das alles sein wird! Am besten wäre es natürlich gewesen – überhaupt nicht hinzugehn. Aber gerade das war ja ganz und gar unmöglich: wenn es mich schon einmal irgendwohin zog, so war nichts mehr zu wollen. Ich hätte mir ja dann mein Leben lang keine Ruh gelassen: „Hast doch Angst bekommen, hehe, hast vor der Wirklichkeit Angst bekommen, ja ja!“ Nein, das war ganz ausgeschlossen. Ich aber wollte doch gerade diesem Pack beweisen, daß ich keineswegs solch ein Feigling war, wie ich’s selbst glaubte. Ja, im stärksten Paroxismus meiner Feigheit wollte ich sie mir sogar unterwerfen, sie besiegen, bezaubern, zwingen, mich zu lieben – na, sagen wir meinetwegen „wegen der Erhabenheit meines Geistes“. Sie würden Swerkoff ganz vergessen, er würde abseits sitzen, schweigen und sich schämen, ich aber würde Swerkoff einfach zum Nußknacker machen. Später könnte ich mich ja wieder mit ihm versöhnen, meinetwegen sogar Brüderschaft trinken; doch was am bittersten und kränkendsten für mich war, das war, daß ich im selben Augenblick doch wußte, genau, tödlich genau wußte, daß ich dessen in Wirklichkeit überhaupt nicht bedurfte, daß ich sie im Grunde überhaupt nicht mir unterwerfen oder besiegen wollte, und daß ich für diesen ganzen Erfolg, wenn ich ihn nur erringen könnte, selbst nicht eine Kopeke geben würde. Oh wie betete ich zu Gott, daß dieser Tag schneller vorübergehen möge! In unbeschreiblicher Seelenangst trat ich ans Fenster und starrte in die neblige Dämmerung des dicht fallenden Schnees ...

Endlich schlug es: meine kleine erbärmliche Wanduhr schnurrte heiser fünf Schläge. Ich ergriff meine Mütze und schlüpfte dann ohne aufzusehn an Apollon vorüber – der seit dem Morgen die Auszahlung seiner Gage von mir erwartete, doch in seiner Dummheit es für unter seiner Würde hielt, mich daran zu erinnern – und nahm darauf für meinen letzten Fünfziger einen guten Schlitten, um als vornehmer Herr am Hotel de Paris vorzufahren.

IV.

Schon am Abend vorher hatte ich es gewußt, daß ich als erster ankommen würde. Doch war es mir nicht mehr darum zu tun.

Von ihnen war noch niemand erschienen und erst nach langem Suchen konnte ich das für uns bestellte Zimmer finden. Der Tisch war noch nicht ganz gedeckt. Was hatte das zu bedeuten? Nach vielen Fragen und endlosem Hin und Her erfuhr ich endlich von den Kellnern, daß das Diner zu sechs und nicht zu fünf Uhr bestellt worden war. Das bestätigte man mir auch am Buffet. Ich schämte mich, noch mehr zu fragen. Es war erst fünfundzwanzig Minuten nach fünf. Wenn sie die Stunde verändert hatten, so wäre es ihre Pflicht gewesen, mich davon zu benachrichtigen, dazu gibt es doch eine Stadtpost, nicht aber mich der „Schande“ auszusetzen, ... vor ... vor mir selbst wie ... wie auch, nun, meinetwegen, wie auch vor den Kellnern. Ich setzte mich; bald darauf kam der Diener, um den Tisch zu decken; in seiner Gegenwart wurde das Warten noch unangenehmer, und das Benehmen der anderen zu mir noch kränkender. Kurz vor sechs Uhr wurden noch Lichte gebracht, da die Lampen das Zimmer nicht genügend erhellten. Dem Bedienten war es nicht in den Sinn gekommen, die Lichte sofort, nachdem ich mich gesetzt hatte, zu bringen. Im Nebenzimmer speisten an verschiedenen Tischen zwei alte, schweigsame, augenscheinlich mürrische Herren. In einem der weitergelegenen Zimmer ging es sehr laut zu, es wurde dort sogar geschrieen; man hörte das Gelächter einer ganzen Gesellschaft, und hin und wieder auch gemeines französisches Gekreisch: ein Diner mit Damen. Kurz, es war widerlich. Selten hatte ich so scheußliche Minuten durchlebt ... infolgedessen war ich denn, als sie endlich alle zusammen um Punkt sechs erschienen, im ersten Augenblick so erfreut, daß ich fast ganz vergaß, wie es sich gehörte, den Gekränkten zu spielen.

Swerkoff trat als erster ein; natürlich war er der Erste! Alle lachten sie; doch als Swerkoff mich erblickte, nahm er sofort eine steifere Haltung an, und kam langsam, in der Taille ein wenig nach vorn geneigt, gleichsam als kokettierte er mit seiner Gestalt, auf mich zu und reichte mir die Hand; zwar tat er das freundlich – wenn auch nicht gerade sehr –, aber er tat es doch mit einer gewissen Vorsicht, mit fast exzellenzenhafter Höflichkeit, ganz als ob er sich im selben Augenblick vor irgend etwas in Acht nehmen wollte. Ich hatte gedacht, er würde sofort beim Eintritt mit seinem alten Lachen, seinen flachen Witzchen und Späßchen beginnen. Auf die hatte ich mich schon seit dem Abend vorbereitet, doch nie und nimmer hatte ich solch ein vonobenherab, solch eine Generalsliebenswürdigkeit erwartet. Er hielt sich wohl in jeder Beziehung für unvergleichlich höherstehend. Wenn er mich mit dieser Würde hätte kränken wollen, so wär’s weiter nicht schlimm gewesen, dachte ich; hätte ausgespuckt, und damit wär’s abgetan gewesen. Wie aber, wenn sich in seinem elenden Kalbskopf tatsächlich die blödsinnige Idee, er stehe hoch über mir und könne sich nur gönnerhaft zu mir verhalten, festgesetzt hatte, und er überhaupt nicht beabsichtigte, mich zu beleidigen? Bei der bloßen Vorstellung dieser Möglichkeit ging mir schon der Atem aus.

„Ich hörte zu meinem Erstaunen von Ihrem Wunsch, mit uns den Abend zu verbringen,“ begann er in seiner albernen Weise zu sprechen, wobei er diesmal die Worte ganz besonders langsam und deutlich aussprach, was er früher nicht getan hatte. „Der Zufall hat es gewollt, daß wir uns lange nicht mehr gesehn haben. Sie sind ja ganz menschenscheu geworden, nur tun Sie uns damit Unrecht. Wir sind nicht so furchtbar, wie wir scheinen. Nun, jedenfalls er–neu–ere ich gern ...“

Er wandte sich nachlässig zum Fenster, um seinen Hut aus der Hand zu legen.

„Warten Sie schon lange?“ fragte Trudoljuboff.

„Ich kam um Punkt fünf, so wie man es mir gestern gesagt hatte,“ antwortete ich laut und mit einer Gereiztheit, die einen nahen Ausbruch versprach.

„Hast Du ihn denn nicht benachrichtigt?“ fragte Trudoljuboff etwas erstaunt Ssimonoff.

„Nein. Hab’s vergessen,“ antwortete der ohne die geringste Verlegenheit und ging, sogar ohne sich bei mir deswegen zu entschuldigen, hinaus ans Buffet, um die Weine zu bestellen.

„Dann warten Sie hier schon seit einer Stunde? Ach, Sie Armer!“ rief Swerkoff spöttisch lachend, denn nach seinen Begriffen mußte das allerdings lächerlich sein; und gleich nach ihm stimmte auch Ferfitschkin mit seiner dünnen Stimme wie ein Schoßhündchen in das Gelächter ein. Schien doch auch ihm meine Lage ungewöhnlich lächerlich.

„Das ist durchaus nicht lächerlich!“ schrie ich ihn plötzlich an, da mich das Lachen immer mehr gereizt hatte. „Die Schuld daran tragen andere, nicht ich. Man hat es für unnötig gefunden, mich zu benachrichtigen. Das ist ... das ist ... das ist ... einfach ungeschickt ist das!“

„Nicht nur ungeschickt, sondern noch etwas anderes,“ brummte Trudoljuboff, der mich naiv verteidigen wollte. „Sie sind etwas zu gutmütig. Das ist einfach eine Unhöflichkeit. Selbstverständlich keine beabsichtigte. Wie hat aber Ssimonoff nur ... Hm!“

„Wenn man sich mir gegenüber so etwas erlaubt hätte,“ bemerkte Ferfitschkin, „so würde ich ...“

„So würden Sie sich etwas bestellt haben, nicht wahr,“ unterbrach ihn Swerkoff. „Oder Sie hätten sich das Diner servieren lassen, ohne die anderen zu erwarten.“

„Sie werden mir zugeben, daß ich das ohne jede Erlaubnis hätte tun können,“ sagte ich kurz, um das Gespräch abzubrechen. „Wenn ich wartete, so geschah es nur ...“

„Setzen wir uns, meine Herren!“ rief der eintretende Ssimoneff, „alles ist fertig; für den Champagner garantiere ich, famos gekühlt ... Ich wußte doch nicht, wo Sie wohnen, und wo hätte ich Sie denn finden können!?“ sagte er plötzlich zu mir gewandt, doch vermied er es wieder, mich offen anzusehn. Ersichtlich hatte er etwas gegen mich.

Sie setzten sich alle; auch ich nahm Platz. Es war ein runder Tisch. Links von mir saß Trudoljuboff, rechts Ssimonoff, Swerkoff mir gegenüber; Ferfitschkin zwischen ihm und Trudoljuboff.

„Saagen Sie ... Sie sind im Département?“ fragte mich Swerkoff, der im Ernst glaubte, da er sah, daß ich gereizt war, man müsse mich freundlich behandeln und ein wenig beruhigen. – „Was will er eigentlich von mir? Will er, daß ich ihm eine Flasche an den Kopf werfe?“ dachte ich, innerlich bebend vor Wut. Ungewohnt an Verkehr mit Menschen war ich schnell reizbar.

„In der ...schen Kanzlei,“ antwortete ich schroff, den Blick auf den Teller gesenkt.

„Und! ... S–sie s–sind mit Ihrer Stellung zufrieden? S–saagen Sie doch, was verr–anlaßte Sie eigentlich, Ihren früheren Dienst zu ver–lassen?“

„Mich verrrr–anlaßte dazu, daß ich meinen früheren Dienst verlassen wollte,“ sagte ich, dreimal länger das r ziehend – ich konnte mich schon nicht mehr beherrschen. Ferfitschkin schneuzte sich umständlich. Ssimonoff blickte mich von der Seite ironisch an; Trudoljuboff legte Messer und Gabel hin und betrachtete mich gleichfalls interessiert.

Swerkoff tat, als ob er nichts bemerkt hätte.

„Nun, und Ihr Gehalt?“

„Welch ein Gehalt?“

„Ich meine Ihre Gaa–ge?“

„Wozu examinieren Sie mich, wenn ich fragen darf?“

Übrigens sagte ich gleich darauf, wieviel ich erhielt und wurde dabei feuerrot.

„Das ist all–lerdings nicht viel,“ bemerkte Swerkoff würdevoll.

„Ja, ja, damit kann man nicht in Café-Restaurants dinieren!“ fügte Ferfitschkin unverschämt hinzu.

„Ich finde das einfach armselig,“ meinte Trudoljuboff mit ernstem Gesicht.

„Und wie ma–ger Sie geworden sind, wie S–sie sich verändert haben ... seit der Zeit ...“ fuhr Swerkoff nicht ohne Bosheit mit einem gewissen arglistigen Bedauern fort, während er mich und meinen Anzug betrachtete.

„Lassen Sie ihn, machen Sie ihn doch nicht ganz verlegen,“ rief Ferfitschkin.

„Mein Herr, bitte zu begreifen, daß ich mich nicht im geringsten verlegen machen lasse!“ rief ich, da mich meine Selbstbeherrschung schon ganz verlassen hatte. „Hören Sie! Ich speise hier im ‚Café-Restaurant‘ für mein Geld, für meines, und nicht auf Kosten anderer, merken Sie sich das, monsieur Ferfitschkin.“

„Wie – wa–as!? Wer speist denn hier nicht für sein Geld? Sie tun ja wirklich, als ob ...“ Ferfitschkin konnte natürlich nicht nachgeben – er war rot wie ein Krebs und blickte mir starr in die Augen.

„So – Da–aas!“ antworte ich, und da ich fühlte, daß ich schon zu weit gegangen war, fügte ich noch hinzu: „und ich glaube, wir täten besser, ein etwas klügeres Gespräch zu führen.“

„Sie beabsichtigen wohl, Ihren Verstand zu zeigen?“

„Oh, beunruhigen Sie sich nicht: das wäre hier vollkommen überflüssig.“

„Was fehlt Ihnen eigentlich, Verehrtester: Sie scheinen ja, wenn Sie einmal ins Gackern hineingekommen sind, nicht mehr aufhören zu können. Oder haben Sie Ihren Verstand vielleicht in Ihrem Departemang gelassen?“

„Genug, meine Herren, genug!“ rief allmächtig Swerkoff dazwischen.

„Wie dumm das ist!“ brummte halblaut Ssimonoff.

„Du hast Recht, das ist wirklich dumm. Wir haben uns hier als Freunde versammelt, zum letzten Mal, zum Abschied von unserem verreisenden Freunde, und Sie müssen es natürlich wieder zum Streit bringen,“ sagte Trudoljuboff, wobei er sich grob nur an mich allein wandte. „Sie haben sich uns gestern selbst aufgedrängt, so stören Sie denn jetzt bitte nicht die allgemeine Harmonie ...“

„Genug, genug!“ rief Swerkoff. „Hören Sie auf, meine Herren, das geht wirklich nicht so weiter. Ich werde Ihnen lieber erzählen, wie ich vor drei Tagen fast geheiratet hätte – faktisch ...“

Und so begann denn die Erzählung der Geschichte, wie dieser Herr vor drei Tagen fast geheiratet hätte. Von dem Heiratsprojekt selbst war eigentlich wenig die Rede, oder richtiger, überhaupt nicht; es drehte sich immer nur um Generäle, Generalleutnants, Obristen und sogar Kammerjunker, – unter denen Swerkoff natürlich die erste Rolle spielte. Bald erhob sich auch beifälliges Lachen; Ferfitschkin wieherte förmlich.

Mich vergaßen sie ganz; ich saß moralisch vernichtet auf meinem Stuhl und schwieg.

„Gott, ist denn das meine Gesellschaft?“ dachte ich. „Und als was für einen Tölpel habe ich mich ihnen gezeigt! Aber Ferfitschkin habe ich doch zu viel erlaubt. Da denken nun die Rüpel, sie machten mir große Ehre, wenn sie mir an ihrem Tisch einen Platz geben, und begreifen nicht, daß ich es bin, der ihnen Ehre erweist, aber nicht etwa sie sie mir erweisen! ‚Wie mager!! Wie verändert!‘ Oh, diese verfluchten Hosen! Swerkoff hat ja schon bei der Begrüßung den gelben Fleck auf dem Knie bemerkt ... Ach was! Stehe sofort auf, nehme meinen Hut und gehe ohne ein Wort zu sagen ... Aus Verachtung! Und morgen meinetwegen auf Pistolen ... Diese Schufte! Mir tun doch nicht die sieben Rubel leid. Aber, sie könnten denken ... Hols der Teufel! Was sind denn sieben Rubel! Ich gehe sofort! ...“

Natürlich blieb ich.

Vor Kummer trank ich Lafitte und Sherry glasweise. Da ich das Trinken aber nicht gewohnt war, so wurde ich bald betrunken, und mit der Trunkenheit wuchs auch der Ärger. Mich überkam plötzlich die Lust, sie alle in der frechsten Weise zu beleidigen und dann fortzugehn: „Den günstigsten Augenblick abwarten und sich dann einmal zeigen: mögen sie sagen: wenn er auch lächerlich ist, so ist er doch klug ... und ... und ... mit einem Wort – der Teufel hole sie alle!“

Ich betrachtete sie unverschämt mit meinen blöd gewordenen Augen; sie aber taten, als bemerkten sie mich überhaupt nicht. Bei ihnen ging es laut und fröhlich zu. Es war immer noch Swerkoff, der da sprach. Er erzählte von irgend einer schönen Dame, die er endlich so weit gebracht haben wollte, daß sie ihm eine Liebeserklärung gemacht – er log natürlich wie ... wie ein Mensch – und daß ihm in dieser Sache sein intimer Freund, der Husarenoffizier Kolä – irgend ein Fürst, der dreitausend Seelen besitzen sollte – ganz besonders geholfen hätte.

„Das hindert natürlich nicht, daß es diesen Kolä, der dreitausend Seelen hat, überhaupt nicht gibt,“ unterbrach ich plötzlich das Gespräch.

Alle verstummten.

„Sie sind ja schon jetzt besoffen,“ sagte endlich Trudoljuboff, der allein mich zu bemerken geruhte, und blickte mich verächtlich von der Seite an. Swerkoff fixierte mich wie einen Käfer unterm Mikroskop. Ich senkte meinen Blick. Ssimonoff beeilte sich, den Champagner einzugießen.

Trudoljuboff erhob das Glas und seinem Beispiel folgten alle – außer mir.

„Auf Deine Gesundheit! und glückliche Reise!“ rief er Swerkoff zu, „auf die alten Jahre, meine Herren, die Zukunft! Hurrah!“

Alle tranken und gingen dann zu Swerkoff, um ihn zu küssen. Ich saß unbeweglich, das volle Glas stand vor mir unberührt.

„Sie wollen also nicht trinken?!“ schrie mich plötzlich drohend Trudoljuboff an, dem die Geduld riß.

„Ich möchte meinerseits einen Speech halten ... und dann erst werde ich trinken, Herr Trudoljuboff.“

„Widerlicher Giftpilz!“ brummte Ssimonoff.

Ich bog mich etwas zurück auf dem Stuhl, Brust heraus, nahm das Glas und erwartete im Fieber etwas ganz Ungewöhnliches: ich wußte selbst noch nicht, was ich eigentlich sagen würde.

„Silence!“ rief Ferfitschkin. „Jetzt wird’s Verstand hageln!“

Swerkoff erwartete sehr ernst, was da kommen würde, denn er begriff, worum es sich handelte.

„Herr Leutnant Swerkoff,“ begann ich, „ich hasse die Phrase, die Phraseure und die engen Taillen ... Das ist der erste Punkt, und hierauf folgt der zweite.“

Alle wurden unruhig.

„Der zweite Punkt ist: ich hasse gewisse Damen und die Liebhaber dieser Damen. Besonders die Liebhaber! Der dritte Punkt: ich liebe Wahrheit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit,“ fuhr ich fast mechanisch fort, denn ich fühlte mich schon gefrieren, erstarren vor Entsetzen; begriff ich doch selbst nicht, wie ich das alles so sagen konnte. „Ich liebe den Gedanken, monsieur Swerkoff; ich liebe wahre Kameradschaftlichkeit auf gleichem Fuß, nicht aber ... hm! ... Ich liebe ... Doch übrigens – wozu? Auch ich werde auf Ihre Gesundheit trinken, monsieur Swerkoff. Verführen Sie Tscherkessinnen, erschießen Sie die Feinde des Vaterlandes und ... und ... Auf Ihre Gesundheit, monsieur Swerkoff!“

Swerkoff erhob sich, verbeugte sich gemessen und sagte eisig:

„Ich danke Ihnen sehr.“

Er war maßlos gekränkt und ganz bleich im Gesicht.

„Das ist aber mal stark!“ schrie Trudoljuboff und schlug empört mit der Faust auf den Tisch.

„Für so etwas verabreicht man Ohrfeigen!“ rief Ferfitschkin.

„Läßt ihn einfach rausschmeißen!“ brummte Ssimonoff.

„Kein Wort, meine Herren, kein Wort weiter!“ rief feierlich Swerkoff und hielt damit die allgemeine Empörung auf. „Ich danke Ihnen allen, meine Herren, doch ich werde ihm selbst beweisen, inwieweit ich seine Worte zu schätzen verstehe.“

„Herr Ferfitschkin, morgen noch werden Sie mir für Ihre Worte Rechenschaft geben!“ sagte ich plötzlich laut und wichtig zu Ferfitschkin.

„Sie meinen – ein Duell? Mit Vergnügen,“ antwortete der, doch war ich in dem Augenblick, als ich forderte, wahrscheinlich so lächerlich, daß Swerkoff, Ssimonoff und Trudoljuboff, und nach ihnen auch Ferfitschkin sich vor Lachen einfach wälzten.

„Er ist ja schon ganz besoffen, beachten wir ihn weiter nicht!“ sagte schließlich angeekelt Trudoljuboff.

„Werde mir nie verzeihen, daß ich ihn zugelassen habe!“ brummte wieder Ssimonoff.

„Jetzt einfach eine Flasche ihnen allen an die Köpfe,“ dachte ich, nahm die Flasche und ... goß mir das Glas bis zum Rande voll.

„Nein, lieber bleibe ich bis zum Schluß hier!“ fuhr ich fort zu denken, „Euch, meine Lieben, Euch könnte jetzt wohl nichts Angenehmeres geschehen, als daß ich aufstände und fortginge. Gepfiffen! Werde zum Trotz bis zum Schluß sitzen bleiben, zum Zeichen dessen, daß ich Euch nicht die geringste Wichtigkeit beilege. Werde sitzen und trinken, denn das hier ist doch ein öffentliches Lokal, in das ich für mein Geld eingetreten bin. Werde sitzen und trinken, denn in meinen Augen seid Ihr nichts als Tölpel, nicht vorhandene Tölpel! Werde sitzen und trinken ... und singen, wenn’s mir einfällt, ja, und auch singen, denn ich habe das Recht ... zu singen ... hm!“

Aber ich sang doch nicht. Ich bemühte mich bloß, auf keinen von ihnen zu sehn; ich nahm die unabhängigsten Posen an, und wartete ungeduldig, wann sie mit mir wieder sprechen würden, – sie zuerst! Doch leider taten sie es nicht. Ach und wie wünschte ich in diesem Augenblick, mich mit ihnen zu versöhnen! Es schlug acht ... Es schlug neun. Sie gingen vom Tisch zum Diwan. Swerkoff streckte sich sofort aus und legte einen Fuß auf ein kleines rundes Tischchen. Dorthin wurde dann auch der Wein gebracht. Er setzte ihnen tatsächlich drei Flaschen an. Mich forderte er natürlich nicht auf. Die anderen setzten sich um ihn herum und hörten ihm andächtig zu. Man sah es ihnen an, daß sie ihn liebten. „Weswegen? Weswegen nur?“ dachte ich bei mir. Zuweilen gerieten sie in trunkene Begeisterung und fielen dann einander um den Hals. Sie sprachen vom Kaukasus, sprachen über die wahre Leidenschaft, über das Kartenspiel, über vorteilhafte Posten im Dienst, sprachen über die Einkünfte, die der Husarenoffizier Podcharschewski hatte, – ein Mensch, den keiner von ihnen persönlich kannte, und sie freuten sich, daß er große Einkünfte hatte – sie sprachen von der ungewöhnlichen Schönheit und Grazie der Fürstin D–i, die gleichfalls keiner von ihnen gesehn hatte; endlich kam es so weit, daß Shakespeare von ihnen für unsterblich erklärt wurde.

Ich lächelte spöttisch und ging in der anderen Hälfte des Zimmers auf und ab: vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch. Aus allen Kräften strengte ich mich an, ihnen zu zeigen, daß ich auch ohne sie auskommen könnte; mittlerweile aber fing ich absichtlich an, so laut wie möglich auf und ab zu schreiten, ja ich stampfte sogar ganz ordentlich mit den Absätzen. Doch alles war vergeblich. Sie schenkten mir nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ich hatte die Geduld, in dieser Weise vor ihnen von acht bis elf Uhr auf und ab zu gehn, immer auf ein und derselben Stelle: vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch. „So, ich gehe einfach, und niemand kann es mir verbieten.“ Der abräumende Bediente hielt mehrmals in seiner Beschäftigung inne, um mich verwundert zu betrachten. Von dem häufigen Umkehren drehte sich mir schon alles vor den Augen; zuweilen schien mir alles nur ein Fieberwahn zu sein. In diesen drei Stunden geriet ich dreimal in Schweiß und wurde dreimal wieder pulvertrocken. Mitunter bohrte sich mir mit tiefem, ätzendem Weh der Gedanke ins Herz, daß ich mich noch nach zehn Jahren, nach zwanzig, nach vierzig Jahren, ja, selbst nach vierzig Jahren noch mit Schmerz und Selbstverabscheuung an diese schmutzigsten, lächerlichsten und schrecklichsten Augenblicke meines ganzen Lebens erinnern werde. Noch gewissenloser und noch freiwilliger sich selbst zu erniedrigen, war schon unmöglich, und ich begriff das vollkommen, nein, wirklich, das begriff ich so voll und ganz, wie man’s besser überhaupt nicht gekonnt hätte – und trotzdem fuhr ich fort, vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch zu gehn. „O, wenn Ihr nur wüßtet, welcher Gefühle und Gedanken ich fähig bin, und überhaupt wie entwickelt ich bin!“ dachte ich, mich in Gedanken an den Diwan wendend, auf dem meine Feinde saßen. Doch meine Feinde taten, als wäre ich überhaupt nicht im Zimmer gewesen. Einmal, nur ein einziges Mal wandten sie sich nach mir um, nämlich als Swerkoff über Shakespeare sprach und ich plötzlich laut auflachte: ich lachte so unnatürlich, so gemein, daß sie alle im selben Augenblick verstummten und mich zwei oder drei Minuten lang schweigend und ernst betrachteten, wie ich an der Wand vom Tisch bis zum Ofen und vom Ofen bis zum Tisch ging und sie überhaupt nicht beachtete. Aber sie sagten kein Wort und wandten sich wieder von mir ab. Da schlug es elf.

„Meine Herren!“ rief aufspringend plötzlich Swerkoff. „Jetzt gehn wir alle dorthin!“

„Versteht sich! Famos!“ riefen die anderen.

Ich drehte mich hastig um und trat auf Swerkoff zu. Ich war dermaßen abgequält, dermaßen gemartert, daß ich, und wenn es mir auch das Leben gekostet hätte, einen Schluß damit machen mußte. Ich war im Fieber; meine vom Schweiß feucht gewordenen Haare waren an Stirn und Schläfen angetrocknet.

„Swerkoff! Ich bitte Sie um Verzeihung,“ sagte ich schroff und entschieden. „Auch Sie, Ferfitschkin, bitte ich, mir zu verzeihen, und Sie alle, alle, ich habe alle beleidigt!“

„Aha! Das Duell scheint ihm doch ’nen Schrecken eingejagt zu haben!“ tuschelte Ferfitschkin boshaft seinem Nachbar zu.

Das schnitt mir weh ins Herz.

„Nein, Ferfitschkin, ich habe keine Angst vor dem Duell! Ich bin bereit, mich morgen mit Ihnen zu schlagen, aber erst nachdem wir uns versöhnt haben. Ich bestehe sogar darauf, und Sie können es mir nicht abschlagen. Ich will Ihnen beweisen, daß ich das Duell nicht fürchte. Sie haben den ersten Schuß, ich aber werde in die Luft schießen.“

„Will sich trösten,“ bemerkte Ssimonoff.

„Faselt wieder mal!“ meinte Trudoljuboff.

„So lassen Sie mich doch vorüber, Sie versperren einem ja den Weg! ... Was wollen Sie denn eigentlich?“ fragte Swerkoff verächtlich.

Alle waren sie rot; ihre Augen glänzten: hatten viel getrunken.

„Ich bitte Sie um Ihre Freundschaft, Swerkoff, ich habe Sie beleidigt, aber ...“

„Beleidigt? S–sie? M–mich? Wissen Sie, mein Verehrtester, daß Sie niemals und unter keinen Umständen mich beleidigen können!“

„Ach, hol ihn der Kuckuck,“ rief Trudoljuboff. „Fahren wir.“

„Olympia gehört mir, meine Herren, das ist abgemacht!“ rief Swerkoff.

„Schön, wir machen sie Ihnen nicht streitig!“ antwortete man ihm lachend.

Ich blieb wie ein begossener Hund zurück. Die Bande verließ geräuschvoll das Zimmer, Trudoljuboff stimmte irgend ein Lied an. Ssimonoff aber blieb noch auf einen Augenblick zurück, um den Bedienten das Trinkgeld zu geben. Da trat ich plötzlich an ihn heran.

„Ssimonoff! Geben Sie mir sechs Rubel!“ sagte ich entschlossen in meiner Verzweiflung.

Er sah mich über die Maßen verwundert mit sonderbar stumpfem Blick an. Er war gleichfalls betrunken.

„Ja, wollen Sie denn auch dorthin mit uns!“

„Ja!“

„Ich habe kein Geld!“ sagte er kurz und wollte verächtlich lächelnd das Zimmer verlassen.

Ich ergriff ihn am Rock. Das war ja ein Alpdruck, ein Traum!!

„Ssimonoff! Ich habe in Ihrem Beutel das Geld gesehn, warum schlagen Sie es mir ab? Bin ich denn ein Schuft? Hüten Sie sich, es mir abzuschlagen: wenn Sie wüßten, wenn Sie nur wüßten, wozu ich es bitte! Davon hängt alles ab, alles, meine ganze Zukunft, alle meine Pläne ...“

Ssimonoff zog das Geld heraus und warf es mir verächtlich hin.

„Nehmen Sie, wenn Sie so unverschämt sind!“ rief er mir unbarmherzig zu und eilte den anderen nach.

Ich blieb eine Minute lang allein zurück. Unordnung, Speisereste, ein zerschlagenes Glas auf dem Fußboden, verschütteter Wein, Zigarettenstummel, Rauch .. Rausch und Fieberleere im Kopf, quälendes Weh im Herzen und schließlich der Kellner, der alles gesehn und gehört hatte und mir neugierig in die Augen blickte ...

Dorthin!“ schrie ich auf. „Entweder sind alle auf den Knieen und flehen mich um meine Freundschaft an, oder ... oder ich gebe Swerkoff eine Ohrfeige!“

V.

„Endlich, endlich ist der Zusammenstoß mit der Wirklichkeit gekommen!“ murmelte ich, als ich die Treppe hinunter lief. „Das ist jetzt nicht mehr der Papst, der Rom verläßt, um nach Brasilien auszuwandern, das ist nicht mehr der Ball auf dem Comersee!“

„Gemein bist du, wenn du jetzt darüber lachst!“ zuckte es mir durch den Kopf.

„Meinetwegen!“ rief ich mir selbst zur Antwort. „Jetzt ist ja doch schon alles verloren!“

Von ihnen war jede Spur verschwunden: doch was tat’s schließlich: ich wußte, wohin sie gefahren waren.

An der Vorfahrt hielt einsam ein Schlitten; der Kutscher – einer von den Bauern, die die Not im Winter in die Stadt treibt, ein Wanjka in grobem Bauernkittel – war von dem immer noch träge fallenden nassen und, wie man hätte glauben können, warmen Schnee schon ganz bedeckt. Die Luft war feucht und schwül. Sein kleines rauhhaariges, mageres Pferdchen war gleichfalls schon ganz weißgeschneit und hustete – das weiß ich noch genau. Ich riß die Schlittendecke zurück, doch kaum hatte ich den Fuß hineingesetzt, als mich plötzlich die Erinnerung daran, wie Ssimonoff mir die sechs Rubel zugeworfen hatte, durchzuckte –: ich fiel wie von einem Keulenschlage getroffen auf den Schlitten.

„Nein, ich muß viel tun, um das wieder gut zu machen!“ schrie ich heiser. „Aber ich werde es schon tun, oder es ist noch heute Nacht aus mit mir. Fahr zu!“ Ich sagte ihm wohin. Das Pferd zog an. Ein ganzer Wirbelsturm von Gedanken wütete in meinem Hirn.

„Sie werden mich ja doch nicht um meine Freundschaft bitten, geschweige denn, daß sie es noch auf den Knieen täten. Das ist ja eine Fata morgana, eine umgekehrte Welt, die ich mir vorstelle, eine widerliche, romantische und phantastische Luftspiegelung, die ich mir wieder einmal vorstelle, ist ebenso wie der Ball auf dem Comersee. Und darum muß ich Swerkoff eine Ohrfeige geben! Ich bin verpflichtet, sie ihm zu geben. Also es steht fest: ich fahre hin, um ihm eine Ohrfeige zu geben. Schneller! Fahr zu!“

Der Wanjka zog die Zügel an.

„Sofort nachdem ich eingetreten bin, gebe ich sie ihm. Oder sollte man noch vorher einige Sätze so ... hm, gewissermaßen als Vorwort sagen? Nein. Ich trete ein und gebe sie ihm. Sie werden alle im Salon sitzen, er mit Olympia auf dem Sofa. Diese verfluchte Olympia! Sie hat über mein Gesicht gelacht und mir einmal abgesagt. Ich werde Olympia an den Haaren und Swerkoff an den Ohren fortziehen! Nein, besser an einem Ohr und so am Ohr werde ich ihn denn durch’s ganze Zimmer ziehen. Sie werden mich vielleicht überfallen und hinauswerfen. Bestimmt werden sie das tun. Meinetwegen! Immerhin habe ich zuerst die Ohrfeige gegeben; also meine Initiative ... und nach den Gesetzen des Ehrenkodex ist das alles: er ist gebrandmarkt und kann dann mit keinen Schlägen seine Ohrfeige abwaschen, außer mit einem Duell. Er muß mich fordern. Und mögen sie mich jetzt nur schlagen. Mögen Sie nur! Diese Undankbaren! Am meisten wird Trudoljuboff schlagen: er ist stark; Ferfitschkin wird sich an ungefährlicheren Stellen ankrallen, in die Haare wird er mir fahren, natürlich, der bestimmt in die Haare. Die sind ja für ihn wie geschaffen. Meinetwegen! Zu dem Zweck gehe ich ja hin. Diese Schafsköpfe werden doch endlich das Tragische in all dem begreifen müssen! Wenn sie mich zur Tür schleppen, werde ich ihnen zurufen, daß sie im Grunde nicht einmal meinen kleinen Finger wert sind. Fahr zu, Wanjka, fahr zu!“ schrie ich plötzlich. Der Kutscher zuckte zusammen vor Schreck und hieb mit der Peitsche auf seine Mähre ein. Ich hatte schon etwas zu wild geschrieen.

„Beim Morgengrauen schlagen wir uns, das steht fest. Mit der Kanzlei, oder wie Swerkoff sagt, dem Département ist es aus. Ferfitschkin sagte vorhin, ‚Debartemang‘. Woher aber die Pistolen nehmen? Unsinn! Ich nehme meine Gage voraus und kaufe sie. Aber das Pulver, und die Kugeln? Das ist Sache des Sekundanten. Und wie damit bis zum Morgengrauen fertig werden? Und wo den Sekundanten hernehmen? Ich habe keine Bekannten. Unsinn!“ rief ich noch erregter, „Unsinn! Der erste beste, den ich auf der Straße treffe und den ich darum angehe, ist verpflichtet, mein Sekundant zu sein, ganz so, wie er zum Beispiel verpflichtet wäre, einen Ertrinkenden aus dem Wasser zu ziehen. Die exzentrischsten Zufälle müssen doch zugegeben werden. Ja, wenn ich den Direktor morgen bitte, mein Sekundant zu sein, so müßte der sich schon allein aus Ritterlichkeit dazu bereit erklären und ... und das Geheimnis bewahren! – Anton Antonytsch ...“

Doch in demselben Augenblick begriff ich klarer und deutlicher als je die ganze blödsinnige Unmöglichkeit meiner Voraussetzungen und die ganze Kehrseite der Medaille, aber ...

„Fahr zu, Wanjka, fahr zu, Esel, fahr zu!“

„Ach Herr!“ sagte die Landkraft.

Ein Frösteln überlief mich.

„Aber wär’s nicht besser ... weiß Gott, wär’s nicht besser ... direkt nach Hause zu fahren, sofort? Ach, warum, warum drängte ich mich gestern zu diesem Abschiedsmahl auf! Doch nein, das ist unmöglich! Und der Spaziergang von acht bis elf vom Tisch bis zum Ofen, vom Ofen bis zum Tisch? Nein, sie, sie müssen für diesen Spaziergang büßen! Sie müssen diese Schmach abwaschen! Fahr zu!“

„Aber was dann, wenn sie mich auf die Polizeiwacht bringen?! Das werden sie nicht wagen! Werden einen Skandal fürchten. Was aber dann, wenn Swerkoff aus Verachtung das Duell ausschlägt? Das ist ja so gut wie sicher; dann aber werde ich ihnen beweisen ... Dann werde ich in den Posthof gehen, wenn er morgen abfährt, werde ihn am Bein packen, werde ihm, wenn er in den Postwagen kriecht, den Mantel abreißen. Werde ihn mit den Zähnen an der Hand packen, werde ihn beißen. ‚Seht, wozu man einen verzweifelten Menschen bringen kann!‘ Mögen sie mich auf den Kopf schlagen und sie alle da hinter mir ... Ich werde dem ganzen Publikum zuschreien: ‚Seht diesen jungen Hund, der, um Tscherkessinnen zu verführen, in den Kaukasus fährt – mit meinem Speichel im Gesicht!‘

„Versteht sich, dann ist alles aus! Dann ist das ‚Département‘ vom Angesicht der Welt verschwunden. Man wird mich ergreifen, verurteilen, aus dem Dienst jagen, mich zu den Zwangsarbeitern stecken, darauf zu den sibirischen Ansiedlern ... Mögen Sie nur! Nach fünfundzwanzig Jahren schleppe ich mich zu ihm, in Lumpen, als Bettler, wenn man mich aus dem Gefängnis entlassen hat. Ich suche ihn irgendwo in einer Gouvernementsstadt auf. Er wird verheiratet und glücklich sein. Er wird eine erwachsene Tochter haben ... Ich werde einfach sagen: Sieh, Unmensch, sieh meine eingefallenen Wangen und mein zerlumptes Gewand! Ich habe alles verloren: die Karriere, das Glück, die Kunst, die Wissenschaft, das geliebte Weib, und alles Deinetwegen. Sieh, hier sind Pistolen. Ich bin gekommen, um meine Pistole abzufeuern und ... ich vergebe Dir! Da schieße ich denn einfach in die Luft und verschwinde spurlos ...“

Es fehlte nicht viel und ich hätte aufgeschluchzt, obgleich ich im selben Augenblick ganz genau wußte, daß meine Phantasie auf Lermontoffs „Sylvio“ und der „Maskerade“ beruhte. Und plötzlich schämte ich mich furchtbar, ich schämte mich dermaßen, daß ich das Pferd anhalten ließ, aus dem Schlitten kroch und mitten auf der Straße im Schnee stehen blieb. Der Wanjka sah mich verwundert an und seufzte.

Was sollte ich tun? Dorthin konnte ich nicht: es würde nichts dabei herauskommen; und die Sache auf sich beruhen lassen – war gleichfalls unmöglich: was dann herauskommen würde ... Himmlischer Vater! Wie denn so etwas auf sich beruhen lassen! Und nach solchen Beleidigungen!

„Nein!“ schrie ich und stürzte wieder in den Schlitten. „Das ist vorausbestimmt, das ist Verhängnis, Schicksal! Fahr zu, fahr zu, dorthin!“

Vor Ungeduld schlug ich mit der Faust den Wanjka ins Genick.

„Ach! Gott! Was haust Du mich!“ rief das Bäuerlein erschrocken, peitschte aber doch seine Schindmähre, sodaß sie mit den Hinterbeinen ausschlug.

Der nasse Schnee fiel senkrecht in dichten Flocken, als ob ihn die Erde angezogen hätte. Ich vergaß alles, denn ich hatte mich endgültig für die Ohrfeige entschlossen; ich fühlte nur mit Grauen, daß es doch schon unbedingt und sofort geschehn würde und sich durch keine Macht der Welt mehr aufhalten ließe. Die einsamen Laternen schauten mürrisch durch das von Schneestreifen durchzogene Dunkel, wie Fackeln bei nächtlichen Beerdigungen. Der Schnee schlug mir in den offenen Mantel, unter den Rock, auf die Weste, fiel mir in den Mantelkragen, rutschte dann weiter in das Halstuch, taute an meinem heißen Halse auf und durchnäßte meinen Kragen; ich schlug aber meinen Mantel nicht zu: es war ja doch schon alles verloren! Endlich kamen wir an. Ich sprang fast bewußtlos aus dem Schlitten, lief die Stufen hinauf und schlug mit Händen und Füßen an die Tür. Meine Beine wurden besonders in den Knieen furchtbar schwach. Sonderbarer Weise wurde bald geöffnet; ganz als ob sie mich erwartet hätten.

Ssimonoff hatte in der Tat schon gesagt, daß vielleicht noch jemand kommen würde, hier aber mußte man anmelden und überhaupt Vorsichtsmaßregeln ergreifen. Es war eines jener „Modegeschäfte“, die jetzt schon längst von der Polizei aufgehoben sind. Tagsüber war es allerdings ein „Modegeschäft“; abends jedoch wurden Herren, die eine Rekommendation hatten, empfangen.

Ich ging schnellen Schrittes durch den dunklen Laden in den mir bekannten Saal und blieb erstaunt in der Tür stehen: der Saal war leer; nur ein einziges Licht brannte auf einem Tisch.

„Wo sind sie denn?“ fragte ich irgend jemanden.

Sie hatten natürlich schon Zeit gehabt, auseinanderzugehn.

Vor mir stand ein Weibsbild mit dummem Lächeln; das war die Wirtin. Sie kannte mich schon von früher. Nach einer Minute öffnete sich eine Tür und eine andere Person trat ein.

Ich schritt im Zimmer auf und ab und sprach mit mir. Es war mir, als wäre ich vom Tode errettet worden; ich fühlte es freudig mit meiner ganzen Seele: denn ich hätte ja die Ohrfeige unbedingt, unbedingt gegeben! Doch sie waren nicht da und ich ... alles war wie Spukgebilde verschwunden, alles hatte sich verändert! Endlich blickte ich mich um. Ich konnte noch nicht recht begreifen. Mechanisch blickte ich auch auf die eingetretene Person: vor meinen Augen verschwamm ein frisches, junges, etwas bleiches Gesicht mit geraden, dunklen Augenbrauen, mit einem ernsten und fast ein wenig verwunderten Blick. Das gefiel mir sofort; ich würde sie gehaßt haben, wenn sie gelächelt hätte. Ich mußte mich anstrengen, um aufmerksamer hinzusehn: noch fiel es mir schwer, meine Gedanken zu sammeln. Etwas Offenherziges und Gutes lag in diesem Gesicht, doch war es bis zur Sonderbarkeit ernst. Ich bin überzeugt, daß sie nur deswegen bei diesen dummen Jungen verspielt hatte. Übrigens konnte man sie nicht gerade schön nennen, wenn sie auch ziemlich groß, schlank und gut gebaut war. Angezogen war sie ungewöhnlich schlicht. Etwas Gemeines kroch mir ins Herz; ich trat geradenwegs auf sie zu.

Ich blickte zufällig in den Spiegel: mein erregtes aufgedunsenes Gesicht erschien mir unsagbar ekelhaft: bleich, boshaft, gemein, von zottigem, nassem Haar umrahmt. „Meinetwegen, – um so besser,“ dachte ich. „Es freut mich gerade, daß ich ihr ekelhaft erscheinen muß; das ist mir sehr angenehm ...“ –

VI.

... Irgendwo im Nebenzimmer begann plötzlich, wie unter einem starken Druck, als ob sie jemand gewürgt hätte – heiser die Uhr zu schnurren. Nach unnatürlich langem, langsamem, heiserem Rrrr folgte plötzlich ein heller und ganz unerwartet hastiger Schlag, – ganz als ob jemand plötzlich vorspringt. Es schlug zwei. Ich erwachte, wenn ich auch vorher nicht geschlafen, sondern nur in halber Vergessenheit dagelegen hatte.

In dem schmalen und niedrigen Zimmer, in dem noch ein großer Kleiderschrank stand und Hutpaudeln, Stoffe und verschiedener Kleiderkram herumlagen, war es fast ganz dunkel. Der Lichtstumpf, der auf einem Tisch am anderen Ende des Zimmers in einem alten Leuchter brannte, drohte schon auszulöschen, nur ab und zu flackerte er noch auf. Nach wenigen Minuten mußte tiefes Dunkel herrschen.

Es dauerte nicht lange, bis ich ganz zu mir kam; mit einem Mal, ohne mich angestrengt zu haben, fiel mir alles wieder ein; als ob es mir irgendwo aufgelauert hätte, um sich dann plötzlich wieder auf mich zu stürzen. Ja, und selbst in der Bewußtlosigkeit blieb im Gedächtnis doch noch, ich möchte sagen: so ein Punkt, der unter keiner Bedingung in Vergessenheit versank, und um den müde, unermüdlich, schwerfällig die Schemen meines Halbschlaftraumes kreisten. Doch eines war sonderbar: alles, was mit mir an jenem Tage geschehn war, schien mir, als ich im dunklen Zimmer erwachte, schon längst, längst vergangen zu sein, als ob ich das alles schon längst, längst überlebt hätte.

In meinem Kopf war nichts als schwerer Dunst. Es war mir, als ob etwas über mir schwebte, mich lähmte und zu gleicher Zeit beunruhigte und erregte. Die Beklemmung und die ohnmächtige Wut schwollen wieder an, schäumten auf und suchten einen Ausgang. Plötzlich – sah ich dicht neben mir zwei offene Augen, die mich ernst und beharrlich betrachteten. Der Blick war kalt-teilnahmslos, war finster, als ob er von einem ganz fremden Wesen herrührte. Es wurde mir schwer unter ihm.

Ein häßlicher Gedanke erwachte in meinem Hirn und kroch mir wie ein gemeines Gefühl über den ganzen Körper, etwa wie die Empfindung, die einen überkommt, wenn man in einen feuchten, faulenden Keller tritt. Es war so sonderbar unnatürlich, daß es diesen zwei Augen gerade jetzt einfiel, mich zu betrachten. Es fiel mir ein, daß ich in diesen zwei Stunden mit diesem Wesen kein einziges Wort gewechselt und das auch für völlig überflüssig gehalten hatte; sogar das Schweigen hatte mir zu Anfang aus irgend einem Grunde gefallen. Jetzt jedoch empfand ich plötzlich deutlich den ganzen Ekel, die ganze spinnenhafte Scheußlichkeit der Idee der Ausschweifung, die ohne Liebe, roh und schamlos direkt damit beginnt, womit die wahre Liebe sich krönt. Lange blickten wir uns so durch das nächtliche Dunkel in die schimmernden Augen, doch senkte sie nicht ihren Blick vor mir: ohne mit der Wimper zu zucken, ohne den Blick zu verändern, schauten die Augen still und bewegungslos furchtlos mich an ... Mich schauderte.

„Wie heißt Du?“ fragte ich rauh, um der Stille ein Ende zu machen.

„Lisa,“ klang es fast flüsternd, doch sonderbar unfreundlich zurück, und sie wandte die Augen von mir ab.

Ich schwieg.

„Das Wetter ist heute scheußlich ... Schnee ...“ sagte ich mehr so vor mich hin, schob die Hand unter den Kopf und blickte zur Decke hinauf.

Sie antwortete nicht. Widerlich war das alles.

„Bist Du eine hiesige?“ fragte ich nach einer Minute etwas aufgebracht und kehrte meinen Kopf ein wenig zu ihr.

„Nein.“

„Woher kommst Du denn?“

„Aus Riga,“ sagte sie unwirsch.

„Bist ’ne Deutsche?“

„Nein, Russin.“

„Bist Du schon lange hier?“

„Wo?“

„Hier, in diesem Hause?“

„Zwei Wochen.“

Sie antwortete immer schroffer und schroffer. Das Licht erlosch schon fast ganz; ich konnte ihr Gesicht kaum noch unterscheiden.

„Leben Deine Eltern noch?“

„N–ja ... nein ... doch, sie leben.“

„Wo denn das?“

„Dort, in Riga.“

„Was sind sie?“

„So ...“

„Wie ‚so‘? Von welch einem Stande?“

„Kleinbürger.“

„Hast Du immer bei ihnen gelebt?“

„Ja.“

„Wie alt bist Du?“

„Zwanzig.“

„Warum bist Du denn von ihnen fortgegangen?“

„So ...“

Dieses so bedeutete: hör auf, bist mir zuwider. Wir verstummten.

Gott mag wissen, warum ich nicht fortging. Es wurde mir selbst immer widerlicher und qualvoller zu Mut. Die Schemen des vergangenen Tages zogen ganz von selbst in wirrem, hastigem Durcheinander, eigentlich ohne daß ich’s gewollt hätte, durch mein Gedächtnis. Plötzlich fiel mir etwas ein, was ich am Morgen auf dem Wege zur Kanzlei gesehn hatte.

„Heute wurde ein Sarg herausgetragen und beinahe hätte man ihn fallen lassen,“ sagte ich plötzlich laut, ohne ein Gespräch beginnen zu wollen, einfach so, fast in Versehen.

„Ein Sarg?“

„Ja, auf der Ssennaja[3]; aus einem Keller.“

„Aus einem Keller?“

„Das heißt, nicht gerade aus einem Keller, sondern aus einer Kellerwohnung ... Nun, Du weißt schon ... von unten ... aus einem unanständigen Hause ... Es war dort so schmutzig überall ... Kehricht ... Gestank ... Gemein war’s.“

Schweigen.

„Scheußlich, heute beerdigt zu werden!“ sagte ich wieder nach einiger Zeit, nur um nicht zu schweigen.

„Wieso?“

„So, ich meine nur, der Schnee, die Feuchtigkeit ...“ Ich gähnte.

„Was tut das!“ stieß sie plötzlich nach längerem Schweigen hervor.

„Nein, ’s ist doch schon gemein ...“ Ich gähnte wieder. – „Die Totengräber haben sicherlich geschimpft ... es ist ja auch kein Vergnügen, bei solch einem Wetter zu beerdigen. Und im Grabe wird bestimmt Wasser gewesen sein.“

„Warum soll denn im Grabe Wasser sein?“ fragte sie neugierig, aber doch etwas ungläubig-spöttisch. Übrigens stieß sie die Worte noch abgerissener, schroffer hervor. Mich stachelte plötzlich etwas gegen sie auf, ich weiß nicht, was es war.

„Weißt Du das denn nicht? Die Särge liegen zum mindesten bis zur Hälfte unter Wasser, gewöhnlich aber ganz. Hier auf dem Wolchoffschen Friedhofe kannst Du kein einziges trockenes Grab finden.“

„Warum nicht?“

„Wieso – warum nicht!? Morastiger Boden. Hier ist doch überall Sumpf. So wird man denn einfach ins Wasser hinabgesenkt. Habe selbst gesehn ... mehrere Mal ...“

(Kein einziges Mal hatte ich es gesehn, und war überhaupt noch nicht auf dem Wolchoffschen Friedhofe gewesen, hatte nur andere davon sprechen gehört.)

„Ist es Dir denn wirklich ganz gleichgültig, zu sterben?“

„Warum soll ich denn sterben?“ fragte sie gereizt, wie um sich zu verteidigen.

„Nun, einmal wirst auch Du sterben, und dann wird man Dich ebenso beerdigen, wie jenes Mädchen heute Morgen. Das war ... auch so Eine ... Ist an der Schwindsucht gestorben.“

„Solch Eine hätte doch im Krankenhause sterben können ...“

(Aha, dachte ich, das weiß sie schon; und sie sagte auch: „solch Eine“.)

„Sie schuldete der Wirtin,“ entgegnete ich, immer mehr aufgestachelt durch das Gespräch, „und war bei ihr bis zum Tode, obgleich sie schwindsüchtig war. Droschkenkutscher und Soldaten sprachen dort an der Pforte über sie. Wahrscheinlich ihre gewesenen Bekannten. Lachten natürlich. Nahmen sich vor, in der Schenke noch ein Glas Schnaps auf ihr Wohl zu trinken.“

(Auch hierbei setzte ich noch vieles von mir aus hinzu.)

Schweigen, tiefes Schweigen. Sie bewegte sich nicht einmal.

„Ach, bleibt sich das nicht wirklich ganz gleich!? ... Und warum soll ich denn sterben?“ fügte sie gereizt hinzu.

„Nicht jetzt, natürlich, aber später?“

„Ach, später ...“

„Ja, ja! Jetzt bist Du noch jung, hübsch und frisch, deswegen schätzt man Dich auch. Nach einem Jahr aber wird Dich dieses Leben schon verändert haben, wirst bald verwelkt sein.“

„Nach einem Jahr?“

„Jedenfalls wirst Du nach einem Jahr schon im Wert gesunken sein,“ fuhr ich schadenfroh fort. „Dann wirst Du aus diesem Hause in ein anderes, niedrigeres kommen. Nach einem zweiten Jahr – in ein drittes Haus, immer niedriger und niedriger, und so nach sieben Jahren wirst Du dann glücklich an der Ssennaja in der Kellerwohnung angelangt sein. Und das würde verhältnismäßig noch angehn. Wie aber, wenn sich dann noch irgend eine Krankheit einstellen sollte, sagen wir, schwache Brust, oder so etwas Ähnliches ... oder Du erkältest Dich womöglich. Bei solch einem Leben vergehen die Krankheiten nicht so leicht. Hat man sie sich einmal zugezogen, so ist man gewöhnlich geliefert. Nun, und dann wirst Du eben sterben.“

„Nun, dann werde ich eben sterben!“ sagte sie wütend und bewegte sich hastig.

„Es tut einem aber doch leid.“

„Was?“

„Das Leben.“

Schweigen.

„Hast Du einen Bräutigam gehabt? – Wie?“

„Was geht das Sie an?“

„Du hast Recht, was geht das mich an. Ich will Dich ja nicht ausfragen. Warum ärgerst Du Dich nur? Du wirst natürlich Deine Unannehmlichkeiten gehabt haben ... Was geht’s mich an! Es war ja nur so gesagt. Aber immerhin kann man doch bedauern.“

„Wen?“

„Dich natürlich.“

„Lohnt sich nicht ...“ sagte sie kaum hörbar und bewegte sich wieder.

Das ärgerte mich. Wie! Ich war so freundlich zu ihr, sie aber ...

„Ja, was denkst Du denn eigentlich? Bist Du etwa auf einem guten Wege?“

„Nichts denke ich.“

„Das ist es ja, daß Du Dir nichts dabei denkst! Besinn Dich so lange es noch Zeit ist. Jetzt geht’s ja noch. Du bist noch jung und hübsch; könntest Dich verlieben, könntest heiraten und glücklich sein ...“

„Nicht alle sind glücklich, wenn sie verheiratet sind,“ unterbrach sie mich wieder schroff.

„Nicht alle!! Selbstverständlich nicht alle! Aber es ist doch immer besser als hier, hundertmal, tausendmal besser als hier! Liebt man aber, so kann man auch ohne Glück leben. Auch im Leid ist das Leben schön; es ist überhaupt immer schön, auf der Welt zu leben, selbst einerlei wie man lebt. Was ist aber hier außer ... Gestank. Pfui Teufel!“

Ich drehte mich angeekelt auf die andere Seite. Ich sprach nicht mehr kaltblütig, nein, ich geriet schon in Begeisterung. Mich riß das Verlangen mit sich fort, meine geliebten Ideechen, die ich im Keller ausgebrütet hatte, auseinanderzusetzen. Irgend etwas entflammte sich in mir plötzlich, ich sah plötzlich ein Ziel vor mir.

„Übrigens mußt Du mich nicht als Beispiel nehmen. Ich bin vielleicht noch schlechter als Du. Ich bin ja betrunken hierhergekommen.“ (Ich beeilte mich doch ein wenig, mich zu rechtfertigen.) „Zudem kann ein Mann einem Weibe nie ein Beispiel sein. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge; wenn ich auch schlechter bin als Du, und wenn auch ich es bin, der andere besudelt, so bin ich doch niemandes Sklave; komme und gehe und damit ist’s abgetan, – bin wieder ein anderer Mensch. Und jetzt bedenke bloß das eine, daß Du gleich von Anfang an – Sklavin bist. Ja, Sklavin! Du gibst alles hin, Deinen ganzen Willen. Und wenn Du später diese Ketten zerreißen willst, so kannst Du es nicht mehr: immer fester und fester wirst Du umsponnen werden. Das ist schon so der Fluch dieser Ketten, daß sie sich immer fester ziehen. Ich kenne sie. Von dem übrigen rede ich lieber gar nicht, Du würdest es vielleicht auch nicht einmal verstehn, aber sag doch mal: Du schuldest natürlich schon der Wirtin? Nun, sieh mal!“ fügte ich hinzu, obgleich sie mir nichts geantwortet hatte, sondern nur schweigend, mit ganzer Seele zuhörte, „– da hast Du die Kette! Wirst Dich nie mehr loskaufen können. Das wird schon so gemacht werden. Kennt man ... Ebenso gut, wie dem Teufel die Seele verkauft ...“

„... Und zudem bin ich vielleicht ebenso unglücklich wie Du und, was kannst Du wissen, suche vielleicht absichtlich den Schmutz ... vor Leid. Trinken doch viele vor Leid und Kummer: nun, und ich bin wiederum vor Leid hierher gekommen. Sag doch selbst, was ist denn das eigentlich: nun, wir beide sind ... zusammengekommen ... gestern Abend, und haben doch kein Wort miteinander gewechselt, und erst nachher fiel es Dir ein, mich wie eine Wilde zu betrachten; und ich ebenso auch Dich. Liebt man denn etwa so? Soll denn der Mensch den Menschen auf diese Weise kennen lernen? Das ist doch nur eine ... eine Unanständigkeit und weiter nichts!“

„Ja!“ sagte sie plötzlich rauh, – sie stimmte mir sofort bei. Mich wunderte sogar die Hastigkeit dieses „Ja“. – „Also ist durch ihren Kopf vielleicht derselbe Gedanke gegangen, als sie mich vorhin betrachtete? So ist also auch sie schon zu eigenen Gedanken fähig? ... Hols der Teufel; das ist interessant, das ist ja – Seelenverwandtschaft,“ dachte ich und hätte mir fast schon die Hände gerieben. „Wie soll man auch mit solch einer jungen Seele nicht fertig werden! ... –“

Aber am meisten verlockte mich doch das Spiel.

Sie drehte ihren Kopf etwas näher zu mir und stützte ihn in die Hand – so schien es mir wenigstens in der Dunkelheit. Vielleicht sah sie mich wieder an. Wie bedauerte ich es, daß ich ihre Augen nicht mehr sehn konnte. Ich hörte ihr tiefes Atmen.

„Warum bist Du in dieses Haus gekommen?“ begann ich bereits mit einer gewissen Überlegenheit.

„So.“

„Und doch, wie schön ist’s, im Elternhause zu leben! Warm, behaglich; eigenes Nest!“

„Wenn es aber schlimmer ist als hier?“

(„Ich muß den richtigen Ton finden,“ zuckte es mir durch den Kopf, „mit etwas Sentimentalität wirst Du sie wahrscheinlich am ehesten nehmen.“)

Übrigens zuckte das, wie gesagt, nur in einer Sekunde durch meine Gedanken. Ich schwöre es, sie interessierte mich tatsächlich. Und dann war ich auch in einer so sonderbaren Stimmung, entkräftet. Und Spitzbüberei verträgt sich ja so gut mit Gefühl.

„Oh, das kommt natürlich auch vor!“ Beeilte mich, schnell zu entgegnen. „Ich bin überzeugt, daß Dich irgend jemand beleidigt hat, daß eher sie vor Dir schuldig sind, als Du vor ihnen. Zwar kenne ich Deine Lebensgeschichte nicht, aber ich weiß doch, daß ein Mädchen, wie Du, nicht freiwillig zum Vergnügen in solch ein Haus kommt ...“

„Was für ein Mädchen bin ich denn?“ fragte sie flüsternd, kaum hörbar; ich aber hörte es doch.

(„Weiß der Teufel – ich schmeichle ja. Das ist gemein von mir. Aber, weiß Gott, vielleicht ist’s auch gut.“)

Sie schwieg.

„Sieh mal, Lisa, ich sage das von mir aus: hätte ich von Kindheit an eine Familie gehabt, so würde ich jetzt anders sein, als ich bin. Darüber habe ich schon oft nachgedacht. Denn wie schlecht es auch in der Familie sein mag – es sind doch immer Vater und Mutter, und nicht Fremde, nicht Feinde. Sie lieben Dich doch, und wenn sie es Dir auch nur einmal im Jahr beweisen. Immerhin weißt Du, daß Du bei Dir zu Hause bist. Sieh mal, ich bin ohne Familie aufgewachsen; darum bin ich wahrscheinlich auch so ... gefühllos geworden.“

(„Hm, vielleicht versteht sie’s überhaupt nicht,“ dachte ich, „und ’s ist ja auch lachhaft: – Moral.“)

„Wenn ich Vater wäre und eine Tochter hätte, ich würde, glaub ich, meine Tochter mehr als meine Söhne lieben, nein nein, – tatsächlich!“ sagte ich, denn ich wollte auf ein anderes Thema übergehn, um sie zu zerstreuen. Ich muß gestehen, ich errötete.

„Warum denn das?“ fragte sie.

(„Aha, sie hört also doch!“)

„So, ich weiß nicht, warum. Sieh, Lisa, ich kannte einen Vater, der sonst im Leben ein strenger, stolzer Mensch war, vor seiner Tochter aber auf den Knieen lag, ihr Hände und Füße küßte und sich an ihr nicht satt sehen konnte. Wenn sie auf den Bällen tanzte, stand er zuweilen fünf Stunden lang auf ein und demselben Fleck und ließ sie nicht aus den Augen. Sie war ihm zur fixen Idee geworden: das kann ich sehr gut verstehn. Wenn sie schläft, wacht er bei ihr, küßt und bekreuzt sie. Selbst geht er in einem schäbigen Rock, ist geizig bis zur Unglaublichkeit – für sie aber kauft er alles, was sie haben will, macht ihr teure Geschenke und freut sich wie ein Kind, wenn das Geschenk ihr gefällt. Der Vater liebt die Töchter immer mehr als die Mutter. Viele Töchter haben ein gutes Leben zu Haus! Ich aber würde meine Tochter wahrscheinlich überhaupt nicht heiraten lassen.“

„Warum denn nicht?“ fragte sie, kaum, kaum lächelnd.

„Weiß Gott! Ich glaube, aus Eifersucht nicht. Sie soll einen Fremden küssen? Einen Fremden mehr als den Vater lieben? Es wird einem ja unheimlich, bloß wenn man daran denkt! Aber das ist ja natürlich Unsinn; schließlich nehmen ja auch solche Väter Vernunft an. Ich aber würde mich vorher bestimmt schon allein durch die Sorge totquälen: würde alle Heiratskandidaten ausbrackieren. Schließlich würde ich sie aber doch verheiraten, und würde sie natürlich nur dem geben, den sie liebt. Man weiß doch, daß derjenige, den die Tochter selbst liebgewinnt, dem Vater immer der Schlechteste scheint. Das ist schon einmal so. Deswegen kommt es zu viel häßlichen Auftritten in manchen Familien.“

„Manche sind froh, wenn sie ihre Tochter verkaufen können, nicht daß sie sie in Ehren fortgeben wollten,“ sagte sie plötzlich.

(„Aha! das also ist’s!“)

„Das, Lisa, kommt nur in jenen verfluchten Familien vor, in denen weder Gott noch Liebe ist,“ griff ich eifrig das neue Thema auf, „wo es aber keine Liebe gibt, dort gibt es auch keinen Verstand. Solche Familien gibt es, ich weiß es selbst, aber nicht von ihnen spreche ich. Du mußt wohl in Deiner Familie wenig Güte gesehn haben, wenn Du so sprichst. Glaube es Dir gern, daß Du unglücklich bist. Hm! ... Das geschieht aber doch meistens nur aus Armut.“

„Ist es denn bei den reichen Herrschaften besser? Auch in der Armut leben gute Menschen ehrlich.“

„Hm! ... ja. Vielleicht. Aber sieh, Lisa ... der Mensch liebt es, nur sein Leid in Betracht zu ziehen, sein Glück aber nicht. Würde er aber alles richtig einschätzen, so müßte er zugeben, daß es überall Glück gibt. Jedem Menschen ist Glück beschert. Wie schön aber ist es, wenn in der Familie alles wohlgelingt, wenn Gottes Segen auf ihr ruht, wenn Du einen Mann hast, der Dich liebt und hätschelt, keinen Schritt von Dir geht. Schön ist solch eine Familie! Ja, zuweilen ist es dann sogar mit dem Leid schön; und wo gibt es denn kein Leid? Solltest Du einmal heiraten, dann wirst Du es selbst erfahren. Und denk bloß an die erste Zeit nach der Hochzeit, wenn Du den bekommen hast, den Du liebst –: wieviel Glück, wieviel wundervolles herrliches Glück es dann zuweilen gibt! Glück auf Schritt und Tritt! In der ersten Zeit endet sogar jeder Streit zwischen Mann und Frau mit Glück! Manche Frauen rufen sogar desto häufiger Streit hervor, je mehr sie ihren Mann lieben. Nein, nein, tatsächlich, ich habe selbst solch eine Frau gekannt: ‚Ich liebe Dich so sehr,‘ sagt sie, ‚und so quäle ich Dich denn aus lauter Liebe – Du aber solltest das fühlen‘. Weißt Du auch, daß man einen Menschen aus Liebe absichtlich quälen kann? Meistens tuns die Frauen. Bei sich aber denken sie dann: ‚Dafür werde ich Dich nachher so lieben, werde so reizend zu Dir sein, daß es doch keine schlimme Sünde sein kann, Dich jetzt ein bißchen zu quälen‘. Und ein jeder, der Euch sieht, freut sich über Euch und Ihr seid gut, fröhlich, friedlich, und ehrlich ... Manche sind natürlich eifersüchtig. Geht der Mann einmal aus, – ich kannte solch eine –, da hält sie’s nicht aus und läuft sogar in der Nacht hinaus, um heimlich zu erfahren, wo er ist: in diesem oder jenem Hause, bei dieser oder jener? Das ist schon nicht mehr schön. Und das weiß sie ja auch und verurteilt sich auch selbst und das Herz bleibt ihr stehn vor Angst, – aber sie liebt doch! Es geschieht ja nur aus Liebe! Und wie schön ist es, sich nachher zu versöhnen, ihn um Verzeihung zu bitten oder selbst zu verzeihen. Und so gut werden beide, so schön wird’s ihnen zu Mut – ganz als ob sie sich von neuem gefunden hätten, und von neuem beginnt ihre Liebe. Und niemand, niemand soll wissen, was zwischen Mann und Weib geschieht, wenn sie sich beide lieben. Und was für ein Streit auch zwischen ihnen ausbrechen mag – selbst die leibliche Mutter dürfen sie nicht zum Richter wählen, noch darf ihr der eine über den anderen etwas erzählen. Sie müssen sich selbst Richter sein. Die Liebe ist ein Geheimnis Gottes und sie muß allen fremden Augen verborgen bleiben – was auch geschehen möge. Dadurch wird sie heiliger, schöner. Mann und Weib werden sich dann gegenseitig mehr achten, auf der Achtung aber beruht gar vieles. Und wenn schon einmal Liebe zwischen ihnen gewesen ist, wenn sie sich um der Liebe willen geheiratet haben, warum soll dann die Liebe vergehen? Sollte sie sich wirklich nicht erhalten lassen? Nur ganz selten kommt es vor, daß man sie nicht mehr erhalten kann, daß es wirklich unmöglich ist. Ist aber der Mann ein guter, ehrlicher Mensch, wie soll dann die Liebe vergehn? Die erste Liebe – die vergeht natürlich mit der Zeit, aber dann kommt ja wieder eine andere, ebenso schöne Liebe. Dann nähern sich die Seelen; alle Angelegenheiten werden gemeinsam erörtert, beraten, kein Geheimnis besteht zwischen ihnen. Und kommen dann die Kinder, so sind ja selbst die schwersten Zeiten lauteres Glück. Wenn man nur liebt und mutig ist. Dann ist auch die Arbeit eine Freude, dann versagt man sich manches Mal auch ein Stückchen Brot, um es den hungrigen Mäulchen zu geben – und auch das ist dann Freude. Werden sie doch später Dich dafür lieb haben. Die Kinder werden größer – und Du fühlst, daß Du ihnen ein Beispiel, eine Stütze bist; Du weißt, daß sie nach Deinem Tode Deine Gedanken und Gefühle ihr Leben lang in sich tragen werden, da Du sie ihnen gegeben hast. Sie werden Dein Ebenbild sein. Wie Du siehst: das ist eine große Pflicht! Wie sollen sich dann Vater und Mutter nicht nähertreten? Da sagt man allerdings, Kinder haben sei schwer! Wie ist das nur möglich! Kinder sind doch Himmelsglück! Liebst Du kleine Kinderchen, Lisa? Ich liebe sie furchtbar. Weißt Du, – solch ein rosarotes zartes Bengelchen saugt Dir an der Brust, – Gott! welch eines Mannes Herz wird nicht zu seiner Frau gezogen, wenn er sieht, wie sie sein Kind nährt! Das Kerlchen ist so weich und dick, zappelt, reckt und streckt sich, breitet die Ärmchen nach Dir aus; die Beinchen, die Händchen sind noch voller Grübchen, die Nägelchen sind reingewaschen, klein, ho! so klein, daß es zum lachen ist; die Augen aber blicken schon drein, als ob er alles verstände. Saugt er, so haut er mit den Fäustchen um sich rum, schlägt Dir auf die Brust womöglich, spielt. Tritt der Papa an ihn heran, – reißt er sich los von der Brust, biegt sich zurück, guckt ihn an, lacht – ganz als obs weiß Gott wie lachhaft wäre – und dann geht von neuem das Trinken an. Und mitunter, wenn’s dem Schlingel mal einfällt, da beißt er die Brust, wenn die Zähnchen schon kommen, selbst aber lugt der Racker dann mit seinen kleinen Äuglein: ‚siehst Du, hab gebissen‘! Ja, ist denn das kein Glück, wenn sie drei beisammen sind – Mann, Weib und Kind? Für diese Minuten kann man vieles verzeihen. Nein, Lisa, weißt Du, zuerst muß man selbst zu leben lernen und dann andere beschuldigen!“

„Mit solchen kleinen Bildern, gerade mit solchen, muß man Dir kommen!“ – dachte ich bei mir, obgleich ich, bei Gott, mit tiefem Gefühle sprach, und plötzlich errötete ich: „Wie aber, wenn sie jetzt plötzlich lacht wohin soll ich mich dann verkriechen?“ – Dieser Gedanke machte mich rasend! Zum Schluß der Rede war ich tatsächlich in Begeisterung geraten und darum litt mein Ehrgeiz, als sie nichts darauf erwiderte.

Das Schweigen dauerte an. Ich wollte ihr fast schon einen Stoß geben.

„Nein, – Sie ...“ begann sie plötzlich – und stockte.

Doch ich hatte schon alles begriffen: in ihrer Stimme zitterte etwas anderes, nicht mehr Schroffes, Rauhes, wie vorher, sondern etwas Weiches und Verschämtes, dermaßen Verschämtes, daß ich mich plötzlich auch vor ihr schämte, daß ich mich vor ihr schuldig fühlte.

„Was?“ fragte ich in zärtlicher Neugier.

„Sie ...“

„Was denn?“

„Nein, Sie sprechen wirklich ganz wie ein Buch,“ sagte sie stockend und wieder schien es mir, daß in ihrer Stimme etwas Spöttisches klang.

Oh, schmerzhaft traf mich diese Bemerkung. Nicht das hatte ich erwartet!

Ich begriff nicht einmal, daß sie sich absichtlich hinter dem Spott verbergen wollte, daß dieses gewöhnlich der letzte Winkelzug aller schamhaften Menschen ist, die keuschen Herzens sind, und denen man aufdringlich und roh in die Seele dringt. Ich begriff nicht, daß sie sich bis zum letzten Augenblick aus Stolz nicht ergeben wollte, und sich fürchtete, jemandem ihr Gefühl zu zeigen. Schon die Zaghaftigkeit, mit der sie sich erst nach mehreren Ansätzen zu ihrem Spott entschloß, hätte mir alles verraten müssen. Ich aber erriet es nicht, und ein böses Gefühl erfaßte mich.

„Wart mal!“ dachte ich.

VII.

„Ach, Gott, Lisa, was kann hier wie ein Buch sein, wenn ich es selbst schlecht habe im Leben. Alles das erwachte jetzt wieder in mir ... Sollte dieses Haus Dich hier wirklich nicht anekeln? Nein, weiß Gott, Gewohnheit macht doch viel aus! Teufel noch eins, was die Gewohnheit alles aus einem Menschen machen kann! Glaubst Du denn im Ernst, daß Du ewig jung und hübsch sein wirst, und daß man Dich hier bis in alle Ewigkeit behalten und bezahlen wird? Ganz abgesehen davon, daß hier nichts als Schmutz ist ... Übrigens, weißt Du, was ich Dir über Dein jetziges Leben sagen werde: sieh, jetzt bist Du noch jung, hübsch, gut, gefühlvoll und Du hast doch noch eine Seele; nun, so laß es Dir denn gesagt sein, daß es mich vorhin, als ich erwachte, einfach anekelte, hier mit Dir zu liegen! Man kann ja doch nur in betrunkenem Zustande hierher geraten. Wärest Du aber an einem anderen Ort, lebtest Du wie anständige Menschen leben, so würde ich vielleicht – nicht etwa nach Dir her sein – nein, ich würde mich einfach in Dich verlieben, würde glücklich sein, wenn Du mir einen Blick schenkst, und selig, wenn Du ein Wort mit mir sprichst; ich würde Dich an der Haustür erwarten, würde auf den Knieen vor Dir liegen; würde Dich wie meine Braut hochhalten und es mir zur Ehre anrechnen, wenn Du freundlich zu mir wärst. Würde es nicht wagen, etwas Unsauberes von Dir auch nur zu denken. Hier aber weiß ich doch, daß ich bloß zu pfeifen brauche und Du, ob Du willst oder nicht, kommen mußt, und dann scher ich mich gerade was um Deinen Willen. Du mußt tun, was ich will. Selbst der letzte Tagelöhner verdingt sich doch nicht wie Du mit Leib und Seele und zudem weiß er, daß er es nur für eine bestimmte Zeit tut. Wann aber ist Deine Zeit um? Bedenk doch bloß, was Du hier verdingst! Was Du hier zur Knechtschaft hingiebst! Die Seele, Deine Seele verdingst Du hier zur Knechtschaft! Deine Liebe gibst Du zur Beschimpfung dem ersten besten Trunkenbold hin. Deine Liebe! Das ist ja doch alles, das ist ja der Talisman, der Schatz jedes Mädchens – die Liebe! Um diese Liebe zu erwerben, ist gar manch einer bereit, in den Tod zu gehn. Wie hoch aber wird Deine Liebe hier eingeschätzt? Man kauft Dich ja ganz, mit Leib und Seele, wozu sich da noch besonders um die Liebe bemühen, wenn auch ohne Liebe alles möglich ist! Eine größere Beleidigung kann es ja für ein Mädchen überhaupt nicht geben – begreifst Du das auch? Da hab ich nun gehört, daß man Euch Törinnen Liebhaber zu halten erlaubt, um Euch zu trösten. Das ist ja doch nur ein Betrug, ist ja nur Spott! Was glaubst Du wohl – liebt er Dich etwa, Dein Liebhaber? Ich glaub’s nicht. Wie soll er Dich denn lieben, wenn er weiß, daß man Dich zu jeder Zeit von ihm fortrufen kann. Ein gemeiner Mensch ist er und weiter nichts! Achtet er Dich denn etwa auch nur so viel? Was gibt es zwischen Euch Gemeinsames? Er lacht ja nur über Dich und bestiehlt Dich womöglich noch obendrein, und das ist seine ganze Liebe! Kannst noch froh sein, wenn er Dich nicht schlägt. Frag ihn doch, wenn Du einen hast, ob er Dich heiraten würde. Er wird Dir ja ins Gesicht lachen, wenn er Dich nicht anspuckt oder durchprügelt – er selbst aber ist vielleicht nicht mal eine halbe Kopeke wert. Und warum nur, warum richtest Du Dich hier zu Grunde? Weil man Dir hier Kaffee gibt und Du Dich hier sattessen kannst? Aber so bedenke doch bloß, zu welch einem Zweck Du hier gefüttert wirst! Eine andere Ehrliche würde solch einen Bissen überhaupt nicht anrühren können, denn sie weiß doch, warum man ihr zu essen gibt. Du schuldest hier der Wirtin, und so wirst Du ihr ewig schulden: bis zu dem Tage, da die Gäste Dich nicht mehr werden haben wollen. Das aber wird schon bald kommen, vertraue nicht zu sehr auf Deine Jugend. In solch einem Hause geht es ja mit Riesenschritten. Dann wirst Du einfach hinausgeworfen werden. Und zwar wird man Dich schon lange vorher schikanieren, Dir Vorwürfe machen, Dich schimpfen, – als ob nicht Du Deine Gesundheit für sie hergegeben, Deine Jugend, Deine Seele für sie geopfert hast, sondern als ob Du sie womöglich noch zu Grunde gerichtet, bestohlen, beschimpft hättest. Und hoffe nur nicht auf Beistand: die anderen, diese Deine Freundinnen werden dann gleichfalls über Dich herfallen, um der Alten einen Gefallen zu erweisen, denn hier sind ja alle Sklavinnen, hier haben alle jegliches Mitleid und jegliches Gewissen verloren. Gemeineres, Beleidigenderes als diese Schimpfwörter, die sie Dir dann sagen werden, gibt es in der ganzen Welt nicht. Und alles wirst Du hier opfern, alles, – Gesundheit, Jugend, Schönheit, und alle Deine Hoffnungen wirst Du hier begraben und mit zweiundzwanzig Jahren wirst Du aussehn, als ob Du fünfunddreißig wärst, und wirst noch Gott danken können, wenn Du nicht krank bist. Du denkst jetzt natürlich: hier brauche ich nicht zu arbeiten, lebe nur zum Vergnügen! Aber es gibt ja auf der ganzen Welt keine Arbeit, die schwerer, sklavischer, knechtender wäre, als diese ‚Arbeit‘ hier. Und kein Wort darfst Du sagen, kein halbes Wörtchen, wenn man Dich von hier fortjagt! Du wirst wie eine Verbrecherin von hier fortgehn, wirst zuerst in ein anderes Haus gehn, dann wieder in ein anderes, und schließlich wirst Du dann an der Ssennaja landen ... Dort aber geht dann das Prügeln an; das ist dort so eine übliche Liebenswürdigkeit; dort verstehn die Gäste überhaupt nicht zärtlich zu sein, wenn sie nicht vorher geprügelt haben. Du glaubst es vielleicht nicht? Geh einmal hin, vielleicht wirst Du es mit eigenen Augen sehn können. Ich sah dort einmal am Neujahrstage eine an der Tür. Sie wurde von ihren Hausgenossen hinausgeworfen; da sie zu sehr geschrieen hatte, sollte sie ein wenig kalt gestellt werden, und hinter ihr wurde die Tür zugeschlagen. Um neun Uhr morgens war sie schon total betrunken, zerzaust, halbnackt und blau geschlagen. Ihr Gesicht war gepudert und geschminkt, doch um die Augen hatte sie dunkle grünbraune Ringe; aus Mund und Nase floß ihr das Blut. Irgend ein Kutscher hatte sie wahrscheinlich gehörig bearbeitet. Sie setzte sich auf die kleine steinerne Treppe, in der Hand hatte sie irgend einen gesalzenen Fisch, einen Hering, glaub ich, sie gröhlte, und klagte irgend etwas über ihr ‚Los‘, und dabei klatschte sie mit dem Fisch ununterbrochen auf die Steinstufen der Treppe. Natürlich hatte man sich schon um sie versammelt, Droschkenkutscher und betrunkene Soldaten, die sie neckten. Du glaubst wohl nicht, daß auch Du so herunterkommen wirst? Auch ich würde es nicht glauben wollen, aber, was kann man wissen, vielleicht war diese selbe mit dem gesalzenen Fisch vor zehn, vor acht Jahren rein und unschuldig wie ein kleiner Engel hierher gekommen; errötete womöglich bei jedem Wort. Vielleicht war sie auch so eine wie Du: stolz, empfindlich, den anderen unähnlich; sah vielleicht wie eine Königin drein und wußte, daß denjenigen, der sie liebgewinnen und den sie wiederlieben würde, ein ganzes, großes wundervolles Glück erwartete. Und sieh nun, womit das geendet hat! Und wenn ihr in dem Augenblick, als sie mit dem Fisch auf die schmutzigen Stufen klatschte und das Blut ihr aus der Nase floß, wenn sie sich in dem Augenblick ihrer Jugend, ihrer Kinderjahre im Elternhause erinnerte: wie der Nachbarssohn sie auf dem Heimweg erwartete und ihr sagte, daß er sie sein ganzes Leben lang lieben würde, und wie sie dann beschlossen, sich zu heiraten, wenn sie erst groß sein würden! Nein, Lisa, Du kannst von Glück reden, wenn Du dort irgendwo in einem Kellerloch bald an der Schwindsucht sterben solltest, so wie die, die gestern beerdigt wurde. Du sagtest, man könne ja ins Krankenhaus gehn? Schwindsucht ist nicht wie Influenza. Ein Schwindsüchtiger glaubt noch bis zur letzten Minute, daß er gesund ist. Tröstet sich auf diese Weise. Der Wirtin aber ist das sogar vorteilhaft. Glaub mir, das ist schon so: hast Deine Seele verkauft und zudem bist Du noch Geld schuldig, also darfst Du nicht einmal mucksen. Liegst du aber schon, so wirst du von allen verlassen, alle kehren Dir dann den Rücken, – dann ist ja nichts mehr von Dir zu holen. Dann wird man Dir noch vorwerfen, daß Du unnütz Platz einnimmst, nicht schnell genug stirbst. Nicht mal einen Schluck Wasser werden sie Dir ohne Vorwürfe geben. ‚Du Vieh, wann wirst Du denn endlich einmal krepieren, läßt uns nicht schlafen, stöhnst in der Nacht, die Gäste ärgern sich.‘ Ja, ja, das ist schon so; hab selbst solche Vorwürfe gehört. Wenn Du mit dem Tode ringst, stopft man Dich in den schmutzigsten Winkel der Kellerwohnung – Finsternis, Feuchtigkeit, Schimmel an den Wänden. Was glaubst Du wohl, was für Gedanken Dir kommen werden, wenn Du allein dort liegen mußt? Bist Du endlich tot, so packt man Dich irgendwie in einen Futtertrog ein. Niemand segnet Dich, niemandem fällt es ein, Deinetwegen auch nur zu seufzen – ist froh, wenn man Dich schneller los wird! Und so trägt man Dich denn hinaus, so wie gestern diese Arme hinausgetragen wurde, und geht dann in die Schenke zur ‚Gedächtnisfeier‘. Im Grabe ist dunkles, fettiges Wasser, Schmutz, nasser, braungewordener Schnee, – ‚He! hop, Wanjucha, rinn mit dem Kasten! – Hoho! da sieht man doch gleich, was das für eine ist: selbst hier geht sie noch mit die Beine ruff. Na, reck die Schniere, wird’s bald?‘ – ‚Siehste denn nicht, daß sie mit’n Kopf nach unten liegt! War doch auch’n Mensch!‘ – ‚Is schon gut genug für solch eine‘. – ‚Nu, mein’twegen‘. Nicht einmal schimpfen wollen sie sich um solch eine. Schütten mit der nassen, blauen Lehmerde das Grab irgendwie zu und gehn dann in die Schenke ... Und damit ist die Erinnerung an Dich hier auf Erden begraben. Andere Gräber werden von den Kindern, Vätern, Müttern, Männern der Verstorbenen besucht, – an Deinem Grabe fällt keine Träne, wird kein einziger Seufzer laut. Niemand, niemand kommt zu Dir, kein einziger Mensch: Dein Name verschwindet auf ewig von dieser Erde – als ob Du niemals auf ihr gelebt hättest, niemals von einem Weib geboren wärst! Schmutz und Sumpf umgeben Dich, – und kein Echo gibt Dir Antwort, wenn Du in der Nacht, wenn die Toten erwachen, in Deiner Verzweiflung an den Deckel Deines Sarges schlägst und rufst: ‚Laßt mich, laßt mich, Ihr guten Menschen, noch einmal die Sonne sehn! Ich lebte, doch jetzt bin ich gestorben, ohne das Leben gekannt zu haben: mein Leben wurde an der Sjennaja vertrunken! Ach, laßt mich, laßt mich Ihr stolzen Menschen, noch einmal die Welt und das Leben sehn!‘“

Ich geriet in solches Pathos, daß mir schon ein Kehlkopf- oder Halskrampf drohte und ... und plötzlich verstummte ich, erhob mich erschrocken und lauschte mit ängstlich gesenktem Kopf und pochendem Herzen. Ich hatte wahrlich Grund, mich zu ängstigen.

Schon lange hatte ich gefühlt, daß ich ihr die ganze Seele um und umkehrte, und je mehr ich mich davon überzeugte, desto mehr verlangte es mich, so schnell als möglich, das Ziel zu erreichen. Das Spiel, ja, das Spiel verlockte mich ... Übrigens nicht nur das Spiel ...

Ich wußte, daß ich unnatürlich und steif sprach, aber ich verstand nicht, anders zu sprechen, als eben „wie ein Buch“. Doch nicht das verwirrte mich: ich wußte doch, ich ahnte es ja, daß ich verstanden wurde, und daß dieses „wie ein Buch“ die Sache nur noch höher hinaufschraubte. Dann aber, als ich plötzlich den Effekt erreicht hatte, überkam mich die Angst. Nein, nie noch, nie noch war ich Zeuge solch einer Verzweiflung gewesen! Sie hatte das Gesicht in das Kissen gepreßt, das sie mit beiden Händen umklammerte. Ihr ganzer junger Körper zitterte und zuckte wie in Krämpfen. Das zurückgedrängte Schluchzen drohte, sie zu ersticken, ihr die Brust zu zerreißen – und plötzlich brach es in Schreien, in Gestöhn aus ihr heraus. Da preßte sie ihr Gesicht noch fester in das Kissen: sie wollte nicht, daß irgend jemand, wenn auch nur eine einzige lebende Seele, etwas von ihrer Qual und von ihren Tränen wisse. Sie biß in das Kissen, biß sich die Hand blutig – das sah ich später –, oder sie krallte die Finger in ihre gelösten Flechten und erstickte geradezu in der Anstrengung, den Atem zurückzuhalten. Ich wollte ihr etwas sagen, sie bitten, sich zu beruhigen, doch fühlte ich, daß ich es nicht durfte, und plötzlich packte mich ein Frösteln; ich stürzte fast entsetzt aus dem Bett und beeilte mich, tastend und tappend meine Kleider zusammenzusuchen. Es war stockdunkel im Zimmer: wie sehr ich mich auch beeilte, ich konnte es doch nicht schnell genug machen. Da fand ich schließlich die Streichholzschachtel und ein ungebrauchtes Licht neben dem Leuchter. Kaum hatte ich es angezündet, als Lisa sich hastig erhob und sich auf den Bettrand setzte. Ihr Gesicht war sonderbar verzerrt, ein halbwahnsinniges Lächeln irrte um ihren Mund und fast sinnlos blickte sie mich an. Ich setzte mich neben sie und ergriff ihre Hände; sie kam wieder zu sich, wandte sich dann zu mir und wollte mich, glaub ich, umarmen – doch plötzlich wagte sie es nicht und senkte schweigend ihren Kopf vor mir.

„Lisa, mein lieber Freund, ich habe es ... Du, verzeih mir,“ begann ich, sie aber preßte meine Hände so stark mit ihren heißen Fingern, daß ich erriet, wie überflüssig meine Worte waren, und ich verstummte.

„Hier hast Du meine Adresse, Lisa; komm einmal zu mir.“

„Ich werde kommen ...“ sagte sie leise aber entschlossen, den Blick noch immer zu Boden gesenkt.

„Jetzt gehe ich, leb wohl ... und auf Wiedersehn.“

Ich stand auf und auch sie erhob sich langsam.

Plötzlich wurde sie über und über rot, fuhr zusammen, ergriff ein auf dem Stuhl liegendes Tuch, das sie sich umwarf und unter dem Kinn stramm zusammenzog. Darauf lächelte sie wieder so sonderbar, errötete und blickte mich schließlich ganz seltsam an. Mir tat es weh; ich beeilte mich, hinaus zu kommen, – zu verschwinden!

„Warten Sie,“ sagte sie plötzlich – wir waren schon im Flur an der Tür angelangt –, hielt mich noch schüchtern am Ärmel zurück, stellte dann schnell das Licht auf den Fußboden und lief zurück. Ersichtlich war ihr etwas eingefallen, das sie mir zeigen wollte. Als sie mich zurückhielt, errötete sie wieder, ihre Augen glänzten und auf ihren Lippen erschien ein Lächeln, – was mochte es sein? Unwillkürlich wartete ich: sie kam sofort zurück, – mit einem Blick, der mich fast um Verzeihung bat. Überhaupt war das nicht mehr jenes Gesicht vom Abend vorher, mit dem mürrischen, mißtrauischen, starren Blick: es war ein flehender, weicher und zu gleicher Zeit zutraulicher, freundlicher, zaghafter Ausdruck in ihren Augen. So pflegen Kinder diejenigen anzusehn, die sie sehr lieb haben und von denen sie etwas erbitten wollen. Hellbraun waren ihre Augen. Oh, prachtvolle Augen waren es, Augen, die Liebe und Haß zu sprechen verstanden.

Ohne mir etwas zu erklären, als ob ich wie irgend ein höheres Wesen alles auch ohne Erklärungen wissen müßte, reichte sie mir einen Brief. Ihr ganzes Gesicht erstrahlte in naivstem, fast kindlichem Stolz. Ich faltete den Bogen auseinander: es war ein Schreiben an sie von einem Studenten der Medizin oder so etwas ähnliches, – eine sehr schwülstige, blumenreiche, doch ungemein höfliche Liebeserklärung. Ich habe zwar die Redewendungen vergessen, doch weiß ich noch, daß durch den verschnörkelten Stil wahres, aufrichtiges Gefühl leuchtete, eines, das man nicht künstlich vortäuschen kann. Als ich zu Ende gelesen hatte, traf ich ihren heißen, neugierigen, kindlich-ungeduldigen Blick. Sie hing geradezu mit ihrem Blick an meinem Gesicht und erwartete in fiebernder Ungeduld, was ich sagen würde. Darauf erzählte sie mir in kurzen Worten, flüchtig, aber doch gewissermaßen stolz, daß sie irgendwo auf einem Tanzabend in einer Familie gewesen war, „bei sehr sehr guten Menschen, in einer Familie, wie gesagt, wo man noch nichts weiß, nicht das geringste,“ – denn sie war ja in diesem Hause erst ganz kurze Zeit und nur so ... und sie hatte sich doch noch nicht entschlossen, hier zu bleiben, im Gegenteil, sie würde sogar bestimmt fortgehn, sobald sie nur ihre Schuld bezahlt hätte ... – Nun, und dort war auch dieser Student gewesen, er hatte den ganzen Abend mit ihr getanzt und gesprochen, und siehe da, bei der Gelegenheit hatte es sich herausgestellt, daß er gleichfalls aus Riga war, daß sie sich als Kinder gekannt und zusammen gespielt hatten, nur war das alles schon sehr lange her – und sogar ihre Eltern kannte er, doch davon wisse er nichts-nichts-nichts und vermutete es nicht einmal! Und da hatte er ihr denn am Tage nach dem Tanzabend – vor drei Tagen also – durch ihre Freundin, durch dieselbe, mit der sie hingegangen war, diesen Brief geschickt ... und ... nun, und das war alles.

Nachdem sie geendet hatte, senkte sie ein wenig verschämt ihre leuchtenden Augen vor meinem Blick.

Armes Ding! Sie bewahrte diesen Brief des Studenten wie einen Schatz auf, und lief nach diesem ihrem einzigen Hab und Gut, da sie nicht wollte, daß ich fortginge, ohne zu erfahren, daß auch sie in Ehren und aufrichtig geliebt wurde, daß man auch mit ihr ehrerbietig sprach. Ich glaube, diesem Brief wird es wohl bestimmt gewesen sein, in ihrem Kasten ergebnislos ewig liegen zu bleiben. Aber was hat das zu sagen! Bin ich doch überzeugt, daß sie ihn ihr Leben lang wie einen Schatz verwahren wird, wie ihren Stolz und ihre Rechtfertigung. Sogar in solch einem Augenblick erinnerte sie sich seiner und brachte ihn mir, um ihn in naivem Stolz auch mir zu zeigen, um sich in meinen Augen zu erhöhen, um auch von mir gelobt zu werden. Ich sagte ihr kein Wort, drückte ihr nur die Hand und ging. Es drängte mich so maßlos, fortzugehn ... Ich ging zu Fuß nach Haus, obgleich der nasse Schnee immer noch in dicken, schweren Flocken niederfiel. Ich war zu Tode gequält, war vernichtet, und wurde noch von Zweifeln gemartert. Doch die Wahrheit schimmerte schon durch die Zweifel. Diese scheußliche Wahrheit!

VIII.

Und so verging denn auch noch eine geraume Zeit, bis ich schließlich einwilligte, diese Wahrheit anzuerkennen. Als ich am nächsten Morgen nach kurzem, tiefem Schlaf erwachte, fiel mir sofort der ganze vergangene Tag ein, und wirklich – ich wunderte mich sogar über meine „Sentimentalität“ mit Lisa und über diesen ganzen „gestrigen Unfug“.

„Pfui Teufel, was für eine weibische Nervosität einen doch zuweilen überfallen kann!“ dachte ich ärgerlich. „Und wozu habe ich ihr eigentlich meine Adresse gegeben? Jetzt wird sie ja womöglich herkommen? Na, meinetwegen, mag sie nur kommen ...“ Doch selbstverständlich war jetzt nicht das von Wichtigkeit: wichtig war vielmehr, daß ich so schnell wie möglich meine Reputation in den Augen Swerkoffs und Ssimonoffs rettete. Das war die Hauptsache! Lisa aber vergaß ich an jenem Morgen vor lauter anderen Sorgen ganz und gar.

Vor allen Dingen hieß es, Ssimonoff das geliehene Geld sofort zurückzuerstatten. Ich entschloß mich zu einem verzweifelten Schritt: Anton Antonytsch um ganze fünfzehn Rubel anzugehn. Zum Glück war er an jenem Morgen gerade in vorzüglicher Gemütsverfassung und erfüllte daher meine Bitte einwandlos. Das erfreute mich dermaßen, daß ich ihm, als ich den Schuldschein unterschrieb, unaufgefordert, nur so wie nebenbei, erzählte, wie ich gestern mit meinen Freunden im Hôtel de Paris den Abschied eines Schulkameraden gefeiert hatte, „ja, ich kann wohl sagen, meines Jugendfreundes. Und wissen Sie, – er ist ein fabelhafter Durchgänger, maßlos verwöhnt in solchen, wie überhaupt in allen Dingen, – nun, versteht sich, aus guter Familie, riesige Einkünfte, glänzende Karriere, geistreich, liebenswürdig, kennt vorzüglich diese Damen, Sie wissen schon, haben noch ‚einem halben Dutzend‘ den Hals gebrochen, und ...“ Und wie gut das alles klang, es hörte sich so flott, unterhaltend und selbstzufrieden an.

Nach Haus zurückgekehrt, setzte ich mich sofort hin und schrieb an Ssimonoff.

Noch jetzt lacht mir das Herz vor Freude, wenn ich an den wahrhaft weltmännischen, harmlosen Ton meines Briefes denke. Gewandt und doch vornehm, und vor allen Dingen ganz ohne überflüssige Worte: die Schuld an allem schrieb ich mir allein zu. Ich rechtfertigte mich – „wenn es mir zusteht, mich zu rechtfertigen“ – mit der Erklärung, daß ich bereits nach dem ersten Gläschen, welches ich angeblich schon vor ihrer Ankunft im Hôtel de Paris getrunken hatte, nicht mehr ganz nüchtern gewesen wäre, natürlich nur infolge meiner völligen Entwöhnung von Alkohol. Um Entschuldigung bat ich eigentlich nur Ssimonoff; doch fügte ich zum Schluß noch hinzu, daß ich ihm dankbar wäre, wenn er meine Erklärung auch allen anderen mitteilen wollte, besonders Swerkoff, den ich, wie ich „glaubte“, – denn ich könnte mich des Vorgefallenen „nicht mehr ganz deutlich entsinnen – vielleicht beleidigt habe“. Ich fügte noch hinzu, daß ich selbst bei allen anfahren würde, doch schmerzte mein Kopf zu sehr und zudem – schämte ich mich der ganzen Geschichte. Besonders gefiel mir die „gewisse Leichtigkeit“, fast sogar Nachlässigkeit – übrigens eine vollkommen vornehme – die sich in meinem Stil ausdrückte, und ihnen besser als alle Beweise zu verstehen geben mußte, daß ich „auf diese ganze gestrige Geschichte“ ziemlich gleichgültig blickte, also keineswegs niedergeschlagen oder gar vernichtet war, wie es jene Herren wahrscheinlich glaubten, sondern die ganze Sache so auffaßte, wie sie ein sich achtender Gentleman eben auffassen mußte.

„Hm, ... und sieh mal einer an, was für eine Scherzhaftigkeit drin steckt – das macht mir so leicht kein Grandseigneur nach!“ dachte ich, als ich schmunzelnd mein Kunstwerk durchlas. „Und das kommt natürlich nur daher, daß ich ein entwickelter und gebildeter Mensch bin! Andere würden an meiner Stelle nicht wissen, wie sich hier herausreißen, ich aber bin schon wieder obenauf, und das nur, weil ich eben ein ‚gebildeter und entwickelter Mensch unserer Zeit bin‘. Und wie kann ich’s wissen, vielleicht ist das alles gestern wirklich nur vom Wein gekommen? Hm! ... um die Wahrheit zu sagen, das stimmt denn doch nicht so ganz. Schnaps hatte ich ja überhaupt nicht getrunken, zwischen fünf und sechs, als ich sie erwartete. Hab’s dem Ssimonoff bloß weisgemacht. Im Allgemeinen ist Lügen gemein; ja, und auch jetzt ist’s nicht schön ...“

„Ach, hol’s der Kuckuck! – Die Hauptsache ist, daß ich die Geschichte los bin!“

Ich legte die sechs Rubel in den Brief, versiegelte ihn und bat darauf meinen Apollon, ihn zu Ssimonoff zu bringen. Als Apollon hörte, daß in dem Brief Geld war, wurde er höflicher, und erklärte sich bereit, hinzugehn. In der Schummerstunde ging ich hinaus ... spazieren. Mein Kopf tat mir noch weh. Doch je mehr der Abend heranrückte und je dunkler es wurde, desto mehr verwirrten sich meine Eindrücke und mit ihnen auch meine Gedanken. Irgend etwas wollte in mir nicht sterben, etwas, das in der Tiefe des Herzens und Gewissens lag – es wollte nicht sterben und quälte mich in brennender Sehnsucht. Ich schob mich durch die belebtesten Straßen, durch die Meschtschanskaja, Ssadowaja und am Jussupoffgarten vorüber. Ich liebte es besonders in der Dämmerung, in diesen Straßen zu spazieren, wenn dort die Menge der Fußgänger dichter wurde, wenn Kaufleute, Handwerker, Arbeiter mit ihren von den Sorgen zuweilen bis zu Verbrecherphysiognomien entstellten Gesichtern vorüberschoben, um schnell nach Haus zu gelangen. Gerade diese nackte Prosa, diese stiere Hast gefielen mir. Und an jenem Abend wirkte dieses ganze Straßengedränge noch ganz besonders auf mich. Ich konnte mich auf keine Weise mit meinen Gefühlen zurechtfinden. Es war etwas in meiner Seele, das mir weh tat und sich erhob, erhob und immer wieder erhob, und sich nicht beruhigen konnte. Ganz verstimmt kehrte ich schließlich heim. Es war mir, als ob auf meiner Seele ein Verbrechen läge.

Mich quälte beständig der Gedanke, daß Lisa zu mir kommen würde. Sonderbar kam es mir vor, daß von allen schrecklichen Erinnerungen des vergangenen Tages die Erinnerung an sie mich ganz besonders quälte. Alles andere hatte ich bis zum Abend schon glücklich vergessen, hatte einmal ausgespuckt und damit war es abgetan, und im übrigen blieb ich mit meinem Brief an Ssimonoff vollkommen zufrieden. Mit dieser Geschichte aber konnte ich mich doch nicht zufrieden geben. Nein, diese Lisa quälte mich. „Wenn sie jetzt zu mir kommt?“ dachte ich immer wieder. „Ach, nun, so mag sie doch kommen! Hm! Schon allein, daß sie dann, zum Beispiel, sehn wird, wie ich wohne! Gestern war ich ja gewissermaßen ein Held vor ihr ... jetzt aber, hm! Genau genommen ist es doch gemein, daß ich so heruntergekommen bin. Es ist ja die reine Bettlerwohnung. Und gestern entschloß ich mich, in solchen Kleidern ins Hôtel de Paris zu fahren! Und mein altes Wachstuchsofa, aus dem Krollhaar und Bast heraushängt! Und mein Schlafrock, der vorne nicht zugeht! Und die Troddeln ... Und das wird sie alles sehn! Und auch den Apollon wird sie sehn! Er wird sie ja bestimmt beleidigen. Dieses Vieh wird ihr natürlich irgend eine Frechheit sagen, um mich zu ärgern. Ich aber werde selbstverständlich nach meiner alten Gewohnheit wieder verlegen werden, werde mich mit den Schlafrockschößen zu bedecken suchen, werde lächeln, werde lügen ... Pfui Teufel, diese Gemeinheit! Und die größte Gemeinheit besteht ja nicht einmal darin! Es gibt ja noch etwas Wichtigeres, Gemeineres, Schändlicheres! Ja, Schändlicheres! Und wieder, wieder muß ich mich hinter dieser verlogenen, ehrlosen Maske verstecken! ...“

Bei diesem Gedanken angekommen, stieg mir das Blut zu Kopf.

„Warum ist es denn eine ‚ehrlose‘? Was für eine ehrlose? Ich habe doch gestern aufrichtig gesprochen! Ich erinnere mich doch ganz genau, daß ein aufrichtiges Gefühl mich zum Reden zwang. Ich wollte ja in ihr gerade edle Gefühle hervorrufen ... Wenn sie schließlich weinte, so war das gut, heilbringend ...“

Aber ich konnte mich doch nicht beruhigen.

Den ganzen Abend, nachdem ich schon zurückgekehrt war, nach neun, also zu einer Zeit, da Lisa nach menschlicher Berechnung nicht mehr hätte kommen können, sah ich sie immer noch vor mir, und zwar immer noch so, wie damals, als ich mit dem Streichholz das Zimmer plötzlich erhellt hatte: sah ihr verzerrtes Gesicht mit dem gequälten Blick und ihr armseliges, gezwungenes Lächeln, zu dem sie sich in jenem Augenblick zwang! Doch damals wußte ich noch nicht, daß ich sie auch nach fünfzehn Jahren immer noch mit diesem armseligen, verzerrten, unnötigen Lächeln vor mir sehen würde.

Am folgenden Tage war ich wieder bereit, das Ganze für Unsinn, für Nervosität und vor allen Dingen für – übertrieben zu halten. Ich habe immer diese meine schwache Seite gekannt und mich zuweilen sogar sehr vor ihr gefürchtet: „Immer übertreibe ich alles, das ist schon einmal mein Kreuz,“ dachte ich ununterbrochen. Doch schließlich: „Einmal wird Lisa doch kommen“ – das war der Refrain, mit dem alle meine Gedanken endeten. Ich war dermaßen unruhig, daß ich mitunter ganz außer Rand und Band geriet: „Sie wird kommen! Unbedingt wird sie kommen!“ rief ich, im Zimmer auf und ab rasend, – „wenn nicht heute, dann morgen, aber kommen wird sie! Das ist die verfluchte Romantik all dieser sentimentalen Seelen! Oh Gemeinheit, oh Dummheit, oh Borniertheit dieser sogenannten reinen Herzen! Herrgott, was ist denn da zu begreifen, Mensch, was ist denn da zu begreifen?“ ... Hier aber stockte ich selbst und war noch mehr verwirrt.

„Und wie weniger Worte hat es bedurft,“ dachte ich nach einem Augenblick, „wie wenig Idyll – und dazu war’s ja noch kein echtes, sondern nur ein literarisches, sozusagen –, um sofort ein ganzes Menschenleben umzudrehen, so wie man’s will. Ja ja, die Jungfräulichkeit! Die Frische des Bodens, wie man zu sagen pflegt ...“

Zuweilen kam mir auch der Gedanke, selbst zu ihr zu fahren, ihr „alles zu erzählen“ und sie zu bitten, nicht zu mir zu kommen. Doch erfaßte mich bei diesem Gedanken, wenn ich bei jenem Punkt angekommen war, solch eine Wut, daß ich diese „verfluchte“ Lisa einfach nur so plattgeschlagen hätte, wenn sie neben mir gewesen wäre, daß ich sie beleidigt, bespieen, hinausgejagt, geprügelt hätte!

Inzwischen aber verging auch der zweite Tag und dann verging noch einer, und schließlich noch einer – sie kam nicht, und ich beruhigte mich ein wenig; besonders, wenn die Uhr schon neun geschlagen hatte. Dann ging zuweilen auch wieder das Phantasieren an, was mitunter gar nicht übel und ganz vernünftig war: Ich rette z. B. Lisa gerade durch meinen Verkehr mit ihr, indem ich ihr erlaube, mich zu besuchen, und sie bei der Gelegenheit belehre ... Ich erziehe, ich bilde sie. Endlich bemerke ich dann, daß sie mich liebt, leidenschaftlich liebt. Ich stelle mich, als ob ich es nicht bemerke – warum ich mich so stelle, weiß ich übrigens selbst nicht, aber es muß wohl so sein, zur Verschönerung wahrscheinlich. Schließlich erhebt sie sich vom Sofa, ganz verwirrt, schön wie eine Göttin, und stürzt zitternd und schluchzend zu meinen Füßen, und sagt mir, daß ich ihr Retter bin, daß sie mich mehr als alles auf der Welt liebt. Ich bin erstaunt, aber ... „Lisa,“ sage ich ihr, „glaubtest Du wirklich, daß ich Deine Liebe zu mir nicht bemerkt hätte? Ich sah alles, ich erriet alles, doch konnte ich nicht als erster von Liebe sprechen, denn gerade weil ich einen Einfluß auf Dich hatte, fürchtete ich, daß Du Dich dann vielleicht aus Dankbarkeit zwingen würdest, mich zu lieben, daß Du Gefühle in Dir erwecken würdest, die Du in Wirklichkeit nicht für mich übrig hast – das wollte ich aber nicht, denn das wäre ... Despotismus ... Das ist unfein“.. Hier kam ich etwas aus dem Konzept, da ich mich zu sehr in irgend einer europäischen, George-Sandschen, unerklärlich edlen Feinheit ergangen hatte ... „Jetzt jedoch, jetzt bist Du mein! Du bist mein Geschöpf, Du bist lauter, und rein, und schön, Du bist mein wundervolles Weib.“