Zweites Kapitel.

Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第18章

Zweites Kapitel.

I. Ein stolzer Traum.

Lukerja hat mir soeben erklärt, daß sie hinfort nicht mehr bei mir bleiben will und fortgehen wird, sobald die gnädige Frau beerdigt ist. Habe kniend fünf Minuten gebetet, wollte zuerst eine ganze Stunde lang beten, doch denke ich, denke ich die ganze Zeit; alles nur kranke Gedanken und ein schmerzender Kopf, – was da beten! – wäre ja Sünde ... Sonderbar, daß ich nicht schlafen will. In großem, allzu großem Leid will man doch nach den ersten, stärksten Ausbrüchen immer schlafen. Zum Tode Verurteilte sollen, wie man sagt, in der letzten Nacht ungewöhnlich fest schlafen. Ja, das muß auch so sein, – das verlangt die Natur, sonst würden die Kräfte nicht ausreichen ... Ich legte mich auf den Diwan, konnte aber nicht einschlafen ...


... Sechs Wochen pflegten wir sie Tag und Nacht: ich, Lukerja und die Krankenwärterin aus dem Hospital. Geld sparte ich nicht, ich hatte geradezu das Bedürfnis, für sie auszugeben. Von Ärzten rief ich auch Schröder zu ihr und zahlte ihm zehn Rubel für jede Visite. Als sie allmählich das Bewußtsein wiedergewann, ging ich seltener zu ihr. Doch wozu beschreibe ich das lang und breit. Als sie schließlich aufstand, das Bett verließ, da setzte sie sich leise und schweigend in meinem Zimmer an den kleinen Tisch, den ich mittlerweile gleichfalls für sie gekauft hatte ... Ja, es ist wahr, wir schwiegen ganz und gar; später fingen wir auch zuweilen an, über irgend etwas zu sprechen, aber – immer über Gleichgültiges. Ich war natürlich mit Absicht nicht gesprächig, doch bemerkte ich sehr wohl, daß auch sie froh war, kein überflüssiges Wort sagen zu müssen. Das erschien mir ihrerseits ganz natürlich: „Sie ist viel zu erschüttert, viel zu sehr besiegt,“ dachte ich, „und man muß ihr eben Zeit geben, zu vergessen und sich wieder einzuleben.“ So schwiegen wir denn beide, doch bereitete ich mich im Herzen jeden Augenblick auf das Zukünftige vor. Ich glaubte, daß auch sie dasselbe tat und bemühte mich fortwährend zu erraten, woran sie eigentlich bei sich jetzt denken könnte.

Natürlich ahnt kein Mensch, wieviel ich gelitten habe, als ich während ihrer Krankheit bei ihr wachte. Selbst vor Lukerja verbarg ich es. Ich konnte es mir nicht vorstellen, konnte es nicht einmal in der Annahme zulassen, daß sie sterben könnte, bevor sie alles erfahren haben würde. Als sie aber die Gefahr überstanden hatte und die Gesundheit allmählich wiedererlangte, da, ich weiß es noch genau, beruhigte ich mich gar bald und zwar vollkommen. Ja, ich beschloß sogar, unsere „Zukunft“ so weit als möglich hinauszuschieben und vorläufig alles so wie es war seinen Gang gehen zu lassen. In der Tat, es geschah damals mit mir etwas Sonderbares und Besonderes, – anders verstehe ich es nicht zu bezeichnen: ich hatte gesiegt, und schon die bloße Erkenntnis dessen erwies sich für mich als vollkommen genügend. Und so verging denn der ganze Winter. Oh, was mich anbetraf, so war ich so zufrieden, wie noch nie zuvor ... und das war ich den ganzen Winter über.

Sehen Sie: in meinem Leben gab es ein furchtbares äußeres Verhängnis, das bis zu der Zeit, das heißt, bis zum Tage der Katastrophe mit meiner Frau, mich jeden Tag, jede Stunde bedrückte: das war der Verlust meiner Reputation und jener Ausschluß aus dem Regiment. Kurz: an mir war tyrannisch Ungerechtigkeit verübt worden. Es ist wahr, meine Kameraden liebten mich nicht wegen meines schweren Charakters und, vielleicht auch, wegen meines sonderbaren Charakters, obgleich es doch häufig vorkommt, daß das, was der eine hochhält, schätzt und achtet, zu gleicher Zeit aus irgend einem Grunde den anderen lächerlich erscheint. Auch in der Schule hat man mich niemals geliebt. Immer und überall hat man mich nicht geliebt. Auch Lukerja mag mich nicht. Der Zwischenfall im Regiment – wenn er auch im Grunde die Folge meiner Unbeliebtheit sein mochte, war doch jedenfalls zufällig. Ich sage das nur, weil es nichts Kränkenderes und Unerträglicheres gibt, als durch einen Zufall zu grunde zu gehen, durch einen Zufall, der ebenso gut auch nicht hätte sein können, durch das unglückliche Zusammentreffen von Umständen, die sonst vielleicht wie eine Wolke vorübergezogen wären. Für einen intelligenten Menschen ist das geradezu erniedrigend.

Der Fall war folgender:

Im Zwischenakt im Theater ging ich hinaus ans Buffet. Da trat der Husarenleutnant A–ff plötzlich gleichfalls ein und erzählte zwei anderen Husaren aus seinem Regiment mit ziemlich lauter Stimme – wenigstens so, daß es alle anwesenden Offiziere und das Publikum hören konnten –, daß ein Hauptmann unseres Regiments, Besumzeff, im Korridor Skandal gemacht habe und – „wahrscheinlich betrunken sei“. Es entspann sich weiter kein Gespräch darüber, und dazu war es auch noch ein Irrtum, denn der Hauptmann Besumzeff war weder betrunken gewesen, noch hatte er besonderen Skandal gemacht. Die Husaren gingen auf ein anderes Thema über und damit war’s abgetan. Am nächsten Tage jedoch wurde die Geschichte in unserem Regiment bekannt und sofort wußte man auch, daß von Offizieren unseres Regiments nur ich allein zugegen gewesen und auf den Leutnant A–ff nicht zugetreten war, als er sich in ungeziemender Weise über Hauptmann Besumzeff geäußert, um ihn wenigstens durch eine Bemerkung zurechtzuweisen. Doch – aus welchem Grunde hätte ich das tun sollen? Wenn er etwas gegen unseren Hauptmann Besumzeff hatte, so war das doch eine persönliche Angelegenheit, aus welchem Grunde hätte ich mich da hineinmischen sollen? Meine Kameraden jedoch fanden, daß die Sache keine persönliche gewesen war, sondern das ganze Regiment anging: ich hätte durch mein Verhalten allen am Buffet anwesenden Offizieren und dem Publikum gezeigt, daß es in unserem Regiment auch Offiziere gibt, die in Betreff ihrer wie des Regimentes Ehre nicht gerade empfindlich sind. Mit dieser Auffassung konnte ich nicht übereinstimmen. Man gab mir zu verstehn, daß ich noch alles gutmachen könnte, wenn ich mich noch nachträglich mit A–ff auseinandersetzen wollte. Das aber wollte ich nicht und da ich gereizt war, so weigerte ich mich stolz. Gleich darauf reichte ich mein Abschiedsgesuch ein. Das ist die ganze Geschichte. Äußerlich stolz, doch innerlich gebrochen ging ich fort: krank am Willen, kraftlos im Geiste. Da kam gerade noch hinzu, daß mein Schwager in Moskau unser kleines Kapital verlor und ich somit auch meines Teiles verlustig ging. Und so blieb ich denn ohne eine Kopeke auf der Straße. Ich hätte ja in einen Zivildienst eintreten können, doch tat ich es nicht: nach dem glänzenden Waffenrock mochte ich keine einfache Uniform tragen, irgendwo an der Eisenbahn dienen. Sollte einmal Schande in meinem Leben sein, nun – dann eben Schande, je schlimmer, desto besser – das war’s, was ich vorzog. Darauf folgten dann drei Jahre dunkle Erinnerungen und darunter auch solche aus dem Wjäsemskischen Hause ... Vor anderthalb Jahren starb in Moskau eine reiche alte Frau, meine Taufmutter, und hinterließ mir, wie allen ihren Taufkindern, ganz unerwartet dreitausend Rubel. Das gab mir den Anstoß, nachzudenken, und ich entschied mein Schicksal. Ich entschloß mich für die Pfandkasse, ohne mich um die Menschen weiter zu kümmern: erst Geld erwerben, dann einen Winkel und – neues Leben fern von alten Erinnerungen: – das war mein Plan ... Nichtsdestoweniger quälten mich das dunkle Vergangene und die auf ewig verlorene Ehre in jeder Stunde, in jeder Minute meines Lebens. Dann heiratete ich. Ob zufällig oder nicht – ich weiß es nicht. Jedenfalls glaubte ich, als ich sie in mein Haus führte, daß ich einen Freund einführe, denn einen Freund hatte ich nur zu nötig. Ich erkannte aber deutlich, daß dieser Freund erst vorbereitet, erzogen, sogar besiegt werden mußte. Und wie hätte ich denn dieser voreingenommenen Sechzehnjährigen so mit einem Schlage irgend etwas erklären können? Zum Beispiel, wie hätte ich sie ohne die zufällige Hilfe der furchtbaren Katastrophe mit dem Revolver überzeugen können, daß ich kein Feigling bin und daß man mich im Regiment mit Unrecht als Feigling verurteilt hatte? Doch die Katastrophe kam zur rechten Zeit. Als ich den Revolver aushielt, rächte ich mich an meiner ganzen finsteren Vergangenheit. Und wenn das auch niemand erfuhr, so erfuhr es doch sie, sie aber war alles für mich, denn sie selbst war mir alles, war in meinen Gedanken die ganze Hoffnung meiner Zukunft! Sie war der einzige Mensch, den ich ganz für mich bestimmte, einen anderen brauchte ich nicht mehr, – und da hatte sie denn nun alles erfahren. Sie hatte wenigstens erfahren, daß es von ihr Unrecht gewesen war, sich meinen Feinden anzuschließen. Der Gedanke an meinen Sieg beruhigte mich. In ihren Augen konnte ich folglich nicht mehr gemein sein, vielleicht höchstens noch ein sonderbarer Mensch, doch auch das war mir nach allem, was geschehen war, durchaus nicht so unlieb: Sonderbarkeit ist kein Laster, im Gegenteil, gefällt zuweilen sogar dem weiblichen Charakter. Kurz, ich schob absichtlich die Lösung der Sache hinaus: das Geschehene war vorläufig zu meiner Beruhigung übergenug und enthielt solch eine Fülle von Bildern und Material für meine Träume! Das ist ja die Gemeinheit, daß ich eben ein Träumer bin: mir genügten die Träume, von ihr aber dachte ich, daß sie warten würde.

So verging der ganze Winter, gewissermaßen wie in Erwartung irgend eines Ereignisses. Ich liebte es, sie heimlich zu betrachten, wenn sie so an ihrem Tischchen saß. Sie beschäftigte sich mit einer Handarbeit, nähte an der Wäsche, des Abends aber las sie Bücher, die sie dann aus meinem Schrank nahm. Die Auswahl der Bücher, die ich besaß, mußte in ihrer Art zu meinen Gunsten sprechen. Sie ging fast nirgendwo hin. Vor der Dämmerstunde, nach dem Essen, ging ich jeden Tag mit ihr spazieren, und wir machten uns Bewegung, doch geschah das stets vollkommen schweigend, ganz so wie früher. Ich bemühte mich gerade so zu tun, als ob wir nicht schwiegen und in allem wortlos übereinstimmten, doch, wie gesagt, vermieden wir beide überflüssige Worte. Ich tat es mit Absicht und ihr, dachte ich, muß man unbedingt „Zeit geben“. Eines ist allerdings sonderbar: es kam mir kein einziges mal in den Sinn, daß ich es liebte, sie heimlich zu betrachten, andererseits hatte ich aber während des ganzen Winters kein einziges mal bemerkt, daß auch ihr Blick auf mir ruhte. Ich glaubte, das wäre ihre Schüchternheit. Und zudem war sie von solch einer scheuen Sanftmut, sah sie so kraftlos nach der Krankheit aus. „Nein, warte lieber ab und – und sie wird plötzlich selbst zu Dir kommen ...“

Dieser Gedanke bezauberte mich unwiderstehlich. Füge noch eines hinzu: zuweilen geschah es, daß ich mich selbst gewissermaßen aufhetzte und meinen Geist und meine Vernunft so weit brachte, daß ich sie haßte. Und das dauerte dann so eine geraume Zeit. Doch konnte sich dieser Haß nie so recht in meiner Seele einnisten. Und ich fühlte doch auch selbst im Geheimen, daß es eigentlich nur ein Spiel war. Und sogar damals habe ich, wenn auch ich es war, der unsere Ehe zerriß, indem ich das Bett und den Wandschirm kaufte, – sogar damals habe ich niemals, niemals in ihr eine Verbrecherin sehen können. Und nicht etwa, weil ich ihr Verbrechen leichtfertig beurteilt hätte, nein, weil ich mir vorgenommen hatte, ihr ganz und gar zu vergeben, schon vom ersten Tage an, sogar schon bevor ich noch das Bett kaufte! Mit einem Wort, das war eine Sonderbarkeit meinerseits, denn ich bin moralisch streng ... Im Gegenteil, in meinen Augen war sie dermaßen besiegt, dermaßen erniedrigt, dermaßen vernichtet, daß sie mir zuweilen in der Seele leid tat, obgleich mir andererseits bei all dem der Gedanke an ihre Erniedrigung entschieden wohlgefiel. Ja, ja, der Gedanke an diese unsere Ungleichheit gefiel mir ...

In diesem Winter tat ich absichtlich viel Gutes. Stundete unter anderem zwei Schuldnern und gab einer armen Frau ohne jedes Pfand Geld. Meiner Frau sagte ich nichts davon und tat es auch nicht, damit sie es erfahren sollte; aber die arme Frau kam von selbst, um sich bei mir zu bedanken, – hätte nicht viel gefehlt, so wäre sie auf die Kniee gefallen. So erfuhr sie es denn doch; es schien mir, daß es ihr wirklich Freude machte, dieses von der armen Frau zu hören.

Da kam der Frühling; es war schon Mitte April, die Vorsatzfenster wurden herausgenommen und die Sonne warf bereits leuchtende Strahlenbündel in unsere schweigenden Zimmer. Doch die Binde war noch vor meinen Augen und machte mich blind. Die verhängnisvolle furchtbare Binde! Wie kam es nur, daß es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel und ich mit einem Male alles sah und alles begriff. Ob es ein Zufall war, oder war’s der Tag einer abgelaufenen Frist, oder war’s ein Sonnenstrahl, der in meinem stumpfgewordenen Geiste den Gedanken und die Wahrheit entzündete? Nein, da war nichts von Gedanken noch von Bestimmung, da erzitterte nur plötzlich eine kleine Ader, eine bis dahin scheintot gewesene Ader, die plötzlich zusammenzuckte und sich belebte und meine ganze stumpfgewordene Seele erleuchtete und meinen ganzen teuflischen Hochmut, so daß ich damals geradezu aufschnellte von meinem Stuhl. Und geschah es doch so plötzlich, so unvermutet. Es geschah gegen Abend, so um fünf Uhr nachmittags ...

II. Die Binde fiel.

Zuerst noch zwei Worte. Schon vor einem Monat war mir an ihr eine sonderbare Nachdenklichkeit aufgefallen; das war nicht mehr Schweigsamkeit, sondern solch ein tiefes Sinnen. Das hatte ich gleichfalls ganz plötzlich bemerkt. Sie saß damals mit einer Handarbeit, den Kopf gebeugt und bemerkte nicht, daß ich sie betrachtete. Und da fiel es mir denn plötzlich auf, daß sie so schmal, so mager geworden war, das Gesichtchen so bleich und die Lippen so blaß, – und zudem noch die stille Nachdenklichkeit erschreckte mich mit einem Mal ungewöhnlich. Auch früher schon hatte ich sie von Zeit zu Zeit ein wenig trocken husten gehört, besonders des Nachts. Ich erhob mich sofort und begab mich zu Schröder, um ihn zu uns zu bitten – ohne ihr etwas davon zu sagen.

Schröder kam am nächsten Tage. Sie war sehr verwundert und sah erstaunt bald mich, bald Schröder an.

„Aber ich bin doch ganz gesund!“ sagte sie darauf mit einem unbestimmten Lächeln.

Schröder untersuchte sie nicht sonderlich genau – diese Mediziner sind nicht selten vor lauter Eigendünkel nachlässig – und sagte mir dann im Nebenzimmer, es hätte weiter nichts auf sich, sei noch von der Krankheit nachgeblieben und es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn sie den Sommer am Meere verbringen könnte oder, falls das nicht möglich sein sollte, irgendwo auf dem Lande. Mit anderen Worten: er sagte nichts, außer, daß es Schwäche wäre oder so etwas Ähnliches. Als Schröder fortgegangen war, sagte sie mir, indem sie mich furchtbar ernst anblickte, plötzlich nochmals:

„Ich bin wirklich, wirklich ganz gesund.“

Doch kaum hatte sie es gesagt, als sie plötzlich errötete, augenscheinlich vor Scham. Selbstverständlich war das Scham! Oh, jetzt verstehe ich es: sie schämte sich, daß ich noch ihr Mann war, mich um sie sorgte. Damals jedoch begriff ich es nicht und schrieb das Erröten der Demütigung zu.

Und ... ... – nach einem Monat war’s, so um fünf Uhr nachmittags, im April an einem klaren, sonnigen Tage. Ich saß an der Kasse und rechnete. Plötzlich höre ich, daß sie in meinem Zimmer an ihrem Tischchen bei der Handarbeit – leise, ganz leise ... singt. Das kam so unerwartet, machte auf mich einen so erschütternden Eindruck ... Bis dahin hatte ich sie fast nie singen gehört, höchstens in den allerersten Tagen, nachdem ich sie in mein Haus geführt, als wir noch Mutwillen treiben konnten, ins Ziel schießen und ähnliches ... Damals war ihre Stimme ziemlich stark und gesund und wenn auch ungeschult, so doch seltsam angenehm und klar gewesen. Jetzt aber war das Liedchen so schwach, – oh, nicht daß es melancholisch gewesen wäre – es war irgend eine Romanze –, aber es war, als ob in der Stimme etwas Gesprungenes, Zerbrochenes klang, als ob das Stimmchen sich nicht zurechtfinden konnte, als ob das Lied selbst krank gewesen wäre. Sie sang nur halblaut, und plötzlich, bei einer höheren Note, brach die Stimme ab, – solch ein armes Stimmchen, so leid tat’s einem, als es abbrach! Sie hustete ein wenig und begann dann wieder leise, ganz leise, kaum, kaum hörbar zu singen ...

Man wird über meine Aufregung lächeln, doch niemals wird jemand begreifen, warum ich plötzlich so erregt war. Nein, sie tat mir noch nicht leid ... Es war etwas ganz anderes. Zuerst, wenigstens in den ersten Minuten, kam über mich plötzlich ein Nicht-begreifen-können, eine furchtbare Verwunderung, ja: eine furchtbare und sonderbare, krankhafte und fast mystische Verwunderung: „Sie singt, und das in meiner Gegenwart!? Sollte sie mich etwa vergessen haben?

Ganz erschüttert blieb ich auf meinem Platz. Dann stand ich plötzlich auf, nahm meinen Hut und ging hinaus, gewissermaßen ohne daran zu denken, was ich tat. Wenigstens weiß ich nicht wohin und warum ich ging. Lukerja brachte mir meinen Mantel.

„Sie singt?“ fragte ich sie unwillkürlich. Sie verstand mich nicht und sah mich verwundert an; übrigens war ich auch wirklich unverständlich.

„Singt sie jetzt zum ersten Mal?“

„Nein, wenn Sie fort sind, singt sie zuweilen,“ antwortete Lukerja.

Ich weiß noch. Ich ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und ging dann geradeaus weiter, ging bis zur Ecke, blieb dort stehn und blickte angestrengt irgendwohin. Man ging an mir vorüber, stieß mich, ich fühlte es nicht. Ich rief eine Droschke an und sagte dem Kutscher, er solle zur Polizeibrücke fahren; warum dorthin, weiß ich nicht. Doch stieg ich plötzlich aus und gab ihm einen Zwanziger.

„Für die Ruhestörung,“ sagte ich, sinnlos ihm zulächelnd, doch in meinem Herzen erhob es sich plötzlich wie ein Rausch.

Ich kehrte nach Haus zurück; beschleunigte den Schritt. Die kleine gesprungene, armselige Note erklang plötzlich wieder in meiner Seele. Mir blieb der Atem stehn. Die Binde fiel, fiel von meinen Augen! Wenn sie in meiner Gegenwart zu singen angefangen hatte, so hatte sie mich vergessen, – das war’s, was ich klar begriff, das war das Furchtbare! Das fühlte das Herz. Doch die Begeisterung erfüllte meine Seele und überwältigte die Angst.

Oh Ironie des Schicksals! War doch ... konnte doch in meiner Seele diesen ganzen Winter über nichts anderes sein, außer dieser selben Begeisterung, diesem selben Entzücken – wo aber war ich selbst diesen ganzen Winter über gewesen? wo war denn meine Seele gewesen? Ich lief eilig die Treppe hinauf, weiß nicht, ob ich schüchtern eintrat. Erinnere mich nur noch, daß der ganze Fußboden unter mir wie ein Meer zu wogen schien und ich gleichsam wie in einem breiten Strome schwamm. Ich trat ins Zimmer: sie saß auf ihrem früheren Platz, nähte, den Kopf über die Arbeit gebeugt, doch sang sie nicht mehr. Sie warf einen flüchtigen, gleichgültigen Blick auf mich, doch war das eigentlich kein Blick, sondern nur so eine Bewegung, eine gleichgültige, so wenn irgend jemand ins Zimmer tritt.

Ich ging direkt zu ihr und setzte mich neben sie auf einen Stuhl, ganz dicht neben sie, wie ein Wahnsinniger. Sie blickte schnell zu mir auf, als hätte ich sie erschreckt: ich ergriff ihre Hand. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr sagte oder was ich ihr sagen wollte, denn ich konnte ja nicht mal recht sprechen. Meine Stimme riß immer ab und wollte mir nicht gehorchen. Und ich wußte ja auch gar nicht, was ich sagen sollte, war nur ganz atemlos.

„Sprechen wir ... weißt Du ... sag etwas!“ brachte ich plötzlich stotternd irgend so was Dummes hervor, – oh war’s denn um Klugheit zu tun! Sie zuckte wieder zusammen und bog sich erschrocken zurück, starrte mich entsetzt an, doch plötzlich drückte sich in ihren Augen – strenge Verwunderung aus. Ja, Verwunderung, und strenge Verwunderung! Mit großen Augen sah sie mich an. Diese Strenge, diese strenge Verwunderung zermalmte mich wie mit einem Keulenschlage: „So willst Du noch Liebe? Liebe?“ – fragte es mich plötzlich aus dieser Verwunderung heraus, wenn sie auch schwieg. Doch ich las alles in ihrem Blick, alles. Alles erzitterte in mir und ich stürzte zu ihren Füßen. Ja; ich fiel vor ihr nieder. Sie sprang schnell auf, doch ich hielt sie mit all meiner Kraft an beiden Händen zurück.

Und ich begriff vollkommen meine Verzweiflung, oh ich begriff sie! Doch, werden Sie’s mir glauben, das Entzücken kochte in meinem Herzen so unbezwingbar, daß ich glaubte, ich stürbe. In Verzweiflung und Glück küßte ich ihre Füße. Ja, in Glück, in grenzenlosem, endlosem Glück, und das beim vollen Begreifen meiner ganzen hoffnungslosen Verzweiflung? Ich weinte, sagte etwas, konnte jedoch nicht sprechen. Der Schreck und die Verwunderung wurden in ihr plötzlich von irgend einem besorgten Gedanken verdrängt, von einer furchtbaren Frage, und sie blickte mich so sonderbar an, fast wild, sie strengte sich an, irgend etwas schneller zu begreifen und – sie lächelte. Sie schämte sich furchtbar, daß ich ihre Füße küßte und zog sie immer zurück, doch da küßte ich die Stelle des Fußbodens, wo ihr Fuß gestanden hatte. Sie sah das und plötzlich fing sie an, vor Scham zu lachen (wissen Sie so, wenn die Menschen vor lauter Scham lachen). Da begann die Hysterie, ich sah es wohl, ihre Hände zuckten, – doch ich dachte nicht daran und flüsterte immer nur, daß ich sie liebe, daß ich nicht aufstehn würde, – „laß mich nur Dein Kleid küssen ... das ganze Leben lang Dich anbeten“ ... Ich weiß nicht mehr, erinnere mich nicht, – und plötzlich schluchzte sie auf und erzitterte: ein furchtbarer Nervenanfall. Ich hatte sie erschreckt.

Ich trug sie auf das Bett. Als der Anfall vergangen war, setzte sie sich auf, so zerschlagen sah sie aus, erfaßte meine Hände und bat mich, mich zu beruhigen: „Lassen Sie’s gut sein, quälen Sie sich doch nicht so, beruhigen Sie sich!“ und wieder weinte sie. Diesen ganzen Abend ging ich nicht von ihr fort. Sagte ihr in einem fort, daß ich sie nach Boulogne-sur-mer bringen würde, damit sie Seebäder nehmen könne, jetzt, sofort, oder höchstens nach zwei Wochen, daß sie solch eine gesprungene Note im Stimmchen hätte wie ich vorhin gehört, daß ich die Pfandkasse schließen und an Dobronrawoff verkaufen würde, daß „alles nun von neuem beginnen wird, aber zuerst – nach Boulogne, nach Boulogne!“ Sie hörte zu und fürchtete sich. Immer mehr und mehr fürchtete sie sich. Doch die Hauptsache war für mich, daß ich immer unbezwingbarer wieder ihr zu Füßen liegen und wieder den Boden, auf dem ihre Füße standen, küssen wollte, und sie anbeten und – „sonst werde ich nichts, nichts mehr von Dir bitten,“ wiederholte ich immer wieder, – „antworte mir nichts, beachte mich überhaupt nicht, laß mich nur Dich von einem Winkel aus ansehn, verwandele mich in Deinen Sklaven, in Dein Hündchen“ ... Sie weinte.

Und ich dachte, Sie würden mich einfach so lassen,“ – kam es plötzlich ganz gegen ihren Willen aus ihr heraus, – so daß sie es vielleicht selbst nicht mal bemerkte, wie sie es sagte, währenddessen aber, – oh, das war das allerwichtigste, allerverhängnisvollste Wort von ihr, und das für mich an jenem Abend allerverständlichste, und es war mir, als glitt mir von ihm ein Messer durch das Herz! Alles erklärte es mir, alles, doch so lange wie sie bei mir war, vor meinen Augen, hoffte ich unbezwinglich und war unbeschreiblich glücklich. Oh ich habe sie maßlos ermüdet an jenem Abend, was ich natürlich sehr gut wußte, doch glaubte ich immer, ich würde so alles sofort gutmachen können. Endlich, in der Nacht war sie schon ganz erschöpft; da beredete ich sie denn, einzuschlafen und sie schlief auch im Augenblick ein. Ich blieb bei ihr und wartete, ob sie nicht phantasieren würde: sie tat’s auch, doch nur ein wenig, ganz leicht. In der Nacht erhob ich mich jeden Augenblick, ging leise in den Morgenschuhen zu ihr, um sie zu betrachten. Ich rang die Hände über ihr, als ich dieses kranke Wesen sah, auf diesem armseligen Lager, in diesem eisernen Bettchen, das ich ihr für drei Rubel gekauft hatte. Ich kniete nieder, doch wagte ich es nicht, die Füße der Schlafenden zu küssen – ohne ihre Erlaubnis ... – Ich wollte zu Gott beten – konnt’s aber nicht: sprang auf. Lukerja betrachtete mich ganz verwundert und kam fortwährend aus der Küche. Ich ging zu ihr hinaus und sagte ihr, sie solle schlafen gehn; morgen würde etwas „ganz Anderes“ beginnen.

Und ich glaubte selbst daran – glaubte blind, sinnlos, furchtbar! Oh, das Entzücken, das Entzücken überflutete mich! Ich erwartete nur den nächsten Tag. Vor allen Dingen: ich glaubte an kein Unglück, trotz der Symptome. Die gesunde Vernunft war noch nicht ganz zurückgekehrt, trotz der gefallenen Binde und lange, lange kehrte sie noch nicht zurück, – oh, bis auf den heutigen Tag nicht, bis auf den heutigen Tag!! ja, und wie, wie hätte sie damals auch wiederkehren sollen: lebte sie doch damals noch, war sie doch hier vor meinen Augen und ich vor ihr: „Morgen wird sie aufwachen, und ich werde ihr dann alles sagen und sie wird dann alles verstehn!“ – Das waren meine Gedanken, einfach und klar, darum auch das Entzücken! Die Hauptsache war dabei diese Fahrt nach Boulogne. Aus irgend einem Grunde glaubte ich, daß Boulogne – alles, daß Boulogne etwas Entscheidendes wäre. „Nach Boulogne, nur schnell nach Boulogne!“ ... Sinnlos erwartete ich den Morgen.

III. Verstehe nur zu gut.

Das war doch im ganzen nur vor ein paar Tagen, vor fünf Tagen, im ganzen nur fünf Tagen, am vorigen Dienstag! Nein nein, hätte sie doch nur noch einen Augenblick gewartet und – und ich hätte die Finsternis verscheucht! – Hatte sie sich denn etwa nicht beruhigt? Hörte sie mir doch schon am nächsten Tage mit einem Lächeln zu, trotz der Verlegenheit ... Das war’s ja: in dieser ganzen Zeit, in diesen fünf Tagen war sie entweder verlegen oder sie schämte sich. Auch fürchtete sie sich, oh, sie fürchtete sich sehr. Schon gut, ich sage ja nichts, ich werde nicht wie ein Sinnloser widersprechen: es war Angst. Aber wie hätte sie sich denn nicht ängstigen sollen? Waren wir uns doch schon so fremd geworden, hatten uns doch schon so lange von einander entwöhnt und plötzlich all das ... Ich beachtete ihre Angst nicht weiter, die Zukunft leuchtete! ... Es ist wahr, es ist zweifellos wahr, daß ich einen Fehler begangen habe. Und vielleicht habe ich sogar viele Fehler begangen. Gleich am Morgen schon, sofort nachdem wir aufgewacht waren, das war also am folgenden Tage, am Mittwoch – beging ich einen großen Fehler: ich machte sie plötzlich zu meinem Freunde. Nur – beeilte ich mich damit zu sehr, allzu sehr ... aber die Beichte war doch notwendig, unvermeidlich. Ach, was sage ich „Beichte“! – Das war doch weit mehr! Ich verbarg ihr nicht einmal das, was ich auch vor mir selbst mein Leben lang verborgen hatte. Ich sprach es offen aus, daß ich in diesem ganzen Winter von ihrer Liebe überzeugt gewesen war. Ich setzte ihr auseinander, daß die Pfandkasse nur die Folge meines gebrochenen Willens und Geistes war, meine persönliche Idee von Selbstgeißelung und Eigenqual. Ich erklärte ihr, daß ich damals am Buffet tatsächlich den Mut verloren hatte und zwar einfach aus meinem Charakter heraus, aus Mißtrauen zu mir selbst, wenn man will; mich hatte die Umgebung eingeschüchtert, es ängstigte mich das: „wie werde ich da nun so vortreten und – wird es sich nicht vielleicht lächerlich ausnehmen?“ Hatte nicht das Duell gefürchtet, wohl aber, daß es sich „lächerlich ausnehmen könnte“ ... Dann aber hatte ich das schon nicht mehr eingestehn wollen und mich und alle anderen deswegen gequält und auch sie deswegen gequält, und sie auch nur geheiratet, um sie deswegen zu quälen. Überhaupt sprach ich die ganze Zeit wie im Fieber. Sie erfaßte meine Hände und bat mich, aufzuhören: „Sie übertreiben ... Sie quälen sich,“ und wieder brach sie in Tränen aus, wieder kam es fast zu Anfällen! Immer wieder bat sie mich, nicht mehr davon zu sprechen und überhaupt nicht daran zu denken.

Ich beachtete ihr Flehen nicht oder nur wenig: ich dachte an den Frühling, an Boulogne! Dort ist Sonne, dort ist unsere neue Sonne! und nur davon sprach ich. Ich schloß die Pfandkasse und übergab die Sachen Dobronrawoff. Ich schlug ihr plötzlich vor, alles den Armen zu geben, außer den ersten drei Tausend, die ich von meiner Taufmutter erhalten hatte, um mit diesen nach Boulogne zu fahren – „und dann,“ sagte ich, „kehren wir zurück und beginnen ein neues arbeitsames Leben“. Dabei blieb’s auch, denn sie erwiderte mir doch nichts darauf ... Sie lächelte nur. Ich glaube, sie lächelte mehr aus Zartgefühl, um mich nicht zu betrüben. Ich sah es doch, daß ich ihr zur Last fiel, glauben Sie nicht, ich wäre so dumm und solch ein Egoist gewesen, daß ich das nicht hätte sehen können. Ich sah alles, alles bis auf den letzten Haarstrich, sah und wußte besser als alle anderen; meine ganze Verzweiflung stand mir doch klar vor Augen!

Ich sprach immer nur von mir und von ihr. Auch von Lukerja. Ich erzählte ihr, daß ich geweint hatte ... Oh, ich wechselte doch auch das Gespräch, bemühte mich doch, gewisser Dinge mit keinem Wort zu erwähnen. Und sie belebte sich dann auch sogar, hin und wieder, – ich erinnere mich doch noch dessen, ich sah doch alles ganz genau! Wieso ..., was sagen Sie da, ich hätte gesehn und dabei doch nichts bemerkt? – Wenn nur das nicht geschehn wäre, so wäre alles gut geworden! Erzählte sie mir doch noch vor drei Tagen, als das Gespräch auf die Lektüre kam, darauf, was sie in diesem Winter gelesen hatte, – erzählte sie mir da doch alles ganz munter und als ihr die Szene aus dem Gil-Blas mit dem Erzbischof von Granada einfiel, – da lachte sie doch! Und welch ein kindliches Lachen, wie lieb war’s, – ganz wie früher, als wir noch verlobt waren – einen Augenblick! einen Augenblick! Wie froh ich war! Übrigens setzte mich dieses vom Erzbischof ungemein in Erstaunen: also mußte sie doch im Winter, als sie hier so allein saß, soviel Seelenruhe und Glück gefunden haben, daß sie über ein Chef-d’oeuvre lachen konnte. Folglich war sie auf dem Wege, fest zu glauben, daß ich sie einfach so lassen würde ... „Und ich glaubte, Sie würden mich einfach so lassen!“ – hatte es sich doch an jenem Dienstag aus ihr herausgerungen! Oh, Phantasie eines kleinen, zehnjährigen Mädchens! Und sie glaubte doch, glaubte doch ernstlich, daß ich sie wirklich einfach so lassen würde: sie an ihrem Tisch und ich an meinem und so bis zum sechzigsten Jahre. Und plötzlich – tauche ich wieder auf, ich, der Mann, und der Mann braucht Liebe! Oh, meine Blindheit, oh mein Mißverstehen! Ach, warum verstand ich es nicht richtig, ach warum war ich so blind!

Ein Fehler war es gleichfalls, daß ich in Ekstase zu ihr aufsah; hätte mich beherrschen sollen, denn diese Ekstase schreckte natürlich. Aber ich beherrschte mich doch auch, küßte ich doch nicht mehr ihre Füße. Kein einziges Mal ließ ich es merken, daß ... nun, daß ich Mann bin, – oh, auch in meinem Geiste war nichts davon, ich betete nur! Aber ich konnte doch nicht ganz und gar schweigen, konnte doch nicht überhaupt nicht sprechen! Ich sagte ihr plötzlich, daß ihr Gespräch mich entzückte und daß ich sie seelisch für unvergleichlich, unvergleichlich gebildeter und entwickelter hielte, als mich. Sie errötete darauf furchtbar und sagte ein wenig verwirrt, ich übertriebe. Da war es denn, daß ich dummer Weise – konnte es nicht zurückhalten, – erzählte, wie entzückt ich gewesen war, als ich, hinter der Tür stehend, damals ihrem Zweikampf zugehört hatte, dem Zweikampf der Unschuld mit jenem Lump, und wie mich ihre Klugheit, ihre so geistreichen Antworten bei aller kindlichen Gutmütigkeit, bezaubert hatten. Sie erzitterte am ganzen Körper, stammelte zwar wieder, ich übertriebe, doch plötzlich bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte auf ... Da hielt auch ich es denn nicht mehr aus: wieder fiel ich vor ihr nieder, wieder küßte ich ihre Füße und wieder kam es zu einem Nervenanfall, ganz so, wie an jenem Dienstag. Das war gestern abend, und am nächsten Morgen ...

Am nächsten Morgen?! Wahnsinniger, dieser Morgen war doch heute, vorhin noch, noch kürzlich, noch ganz kürzlich!

Hören Sie und begreifen Sie es: als wir uns vorhin beim Samowar trafen – also nach dem gestrigen Anfall –, da setzte sie mich doch noch durch ihre Ruhe in Erstaunen, ja, so war’s doch! Ich aber hatte die ganze Nacht aus Angst vor den Folgen der letzten Szene gezittert. Doch plötzlich tritt sie zu mir, stellt sich vor mich hin mit gefalteten Händen – vorhin, vorhin! –, sagt, daß sie – eine Verbrecherin sei, daß sie es sehr wohl wisse, daß das Verbrechen sie den ganzen Winter gequält hätte, auch jetzt quäle ... daß sie meine Großmut nur zu sehr schätze und ... „ich werde ... Ihre treue Frau sein, ich werde Sie achten ...“ Da sprang ich auf und wie ein Wahnsinniger umarmte ich sie! Ich küßte sie, küßte ihr Gesicht, küßte ihre Lippen, küßte sie, wie ein Mann nach langer Trennung küßt! Und warum nur ging ich vorhin fort ... im ganzen nur auf zwei Stunden ... unsere ausländischen Pässe ... Oh Gott! Wär’ ich nur fünf Minuten früher zurückgekehrt! ... Und da steht diese Volksmenge an unserer Haustür, diese Blicke auf mich ... oh Gott!

Lukerja sagt – ach, auf keinen Fall lasse ich jetzt Lukerja fort, für keinen Preis, sie weiß alles, sie war den ganzen Winter zugegen, sie wird mir alles erzählen –, sie sagt, daß sie im ganzen nur so zwanzig Minuten vor meiner Rückkunft zur gnädigen Frau in unser Zimmer gegangen war, um etwas zu fragen, ich weiß nicht mehr was, und da hatte sie gesehn, daß ihr Heiligenbild (dieses selbe der Muttergottes) vor ihr auf dem Tisch steht, die gnädige Frau aber ganz so steht, als ob sie gerade vor ihm gebetet hätte.

„Was ist Ihnen, gnädige Frau?“

„Nichts, Lukerja, geh nur ... wart, Lukerja,“ sie ist zu ihr gekommen und hat sie geküßt.

„Sind Sie jetzt,“ frage ich, „glücklich, gnädige Frau?“

„Ja, Lukerja.“

„Ja ja, der Herr hätte gnädige Frau schon längst um Verzeihung bitten müssen ... Gott sei Dank, daß Sie sich jetzt versöhnt haben.“

„Schon gut, Lukerja,“ sagt sie, „geh jetzt, Lukerja,“ und sie lächelte so, ja, so sonderbar ... So sonderbar, daß Lukerja nach zehn Minuten zurückgekommen war, um nochmals nach der gnädigen Frau zu sehn.

„Ich sehe, sie steht an der Wand, ganz nah am Fenster, hat die Hand an die Wand gelegt und preßt den Kopf in die Hand, steht so und denkt. Und steht so tief nachdenklich, daß sie gar nicht bemerkt hat, wie ich hereingekommen bin, und sie dort aus dem anderen Zimmer betrachte. Ich sehe, sie scheint so zu lächeln, steht, denkt und lächelt. Ich betrachtete sie, drehte mich dann leise um und ging wieder zurück, denke noch so bei mir selbst; nur höre ich plötzlich das Fenster öffnen. Ich ging sofort wieder hin, um zu sagen, daß es kalt ist, gnädige Frau, Sie könnten sich erkälten – und plötzlich sehe ich: sie steigt auf das Fenster und steht schon ganz aufgerichtet im offenen Fenster, mit dem Rücken zu mir, hält in den Händen das Heiligenbild. Mein Herz blieb mir stehn, schreie: Frau! Frau! Sie hörte es, wollte sich so wie zu mir umkehren, kehrte sich aber nicht um, und – trat vorwärts, preßte das Heiligenbild an die Brust und – stürzte!“

Ich erinnere mich nur noch, daß sie, als ich an der Haustür ankam, noch warm war. Und alle sehen sie mich an. Zuerst schrien sie und sprachen, und plötzlich ist alles still und verstummt und ... da treten sie vor mir zurück und ... und da sehe ich sie liegen mit dem Heiligenbild. Ich erinnere mich nur noch, wie durch einen dichten Nebel, daß ich schweigend zu ihr trat und lange vor mich hinsah. Und alle umringen sie mich, und sprechen etwas zu mir. Lukerja soll auch dort gewesen sein, ich weiß es nicht, ich habe sie nicht gesehn. Sie sagt, sie hätte mit mir gesprochen. Ich erinnere mich nur noch jenes Bauern: er rief mir die ganze Zeit zu: „nur ein Löffelvoll Blut ist aus dem Mund geflossen, nur ein Löffelvoll, Löffelvoll!“ und wies, zu mir gewandt, immer auf das bißchen Blut daselbst auf dem Stein. Ich, ich glaube, – ich berührte das Blut mit dem Finger, beschmutzte den Finger, betrachtete darauf meinen Finger (dessen erinnere ich mich noch ganz genau), er aber schreit noch fortwährend: „ein Löffelvoll, ein Löffelvoll, ein Löffelvoll!“

„Was ist das für ein Löffelvoll!?“ soll ich plötzlich wütend aufgeschrien haben. Man sagt, ich habe die Hände erhoben und mich auf ihn gestürzt ...

Oh Wahnsinn! Mißverständnis! Unmöglichkeit! Unmöglichkeit!

IV. Im ganzen nur fünf Minuten zu spät.

Etwa nicht? Ist denn das wahrscheinlich? Kann man denn sagen, das wäre möglich? Wozu, warum starb diese Frau?

Ach, glauben Sie mir, ich verstehe es vollkommen, doch wozu ist sie gestorben – das bleibt immer noch eine Frage. Meine Liebe hat sie erschreckt, sie hat sich gewissenhaft gefragt: soll ich sie annehmen oder soll ich nicht, und hat die Frage nicht ertragen und ist lieber in den Tod gegangen. Ich weiß, ich weiß, es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen: sie hatte zu viel versprochen, sie erschrak, fürchtete, daß sie es nicht würde halten können, – es ist doch klar. Hier gibt es ganz furchtbare Gründe ...

Aber wozu ist sie gestorben? – das bleibt immerhin die Frage. Diese Frage klopft, klopft in meinem Hirn, klopft, klopft ... Ich hätte sie doch einfach so in Ruh gelassen, wenn sie gewollt hätte, daß es einfach so bliebe. Sie aber konnte nicht daran glauben, das war’s! Nein nein, ich lüge, gar nicht das war’s. Einfach, weil man mit mir ehrlich sein mußte: lieben, dann auch ganz lieben, nicht aber so, wie sie den Kaufmann geliebt hätte. Da sie aber zu keusch war, zu rein, um sich mit solch einer Liebe, wie sie der Kaufmann braucht, abzufinden, so wollte sie mich nicht betrügen. Wollte mich nicht mit einer Halb-Liebe unter dem Anschein der Liebe betrügen oder mit einer Viertel-Liebe. Solche sind schon allzu ehrlich, das ist’s! Hochherzigkeit hatte ich ihr einimpfen wollen, wissen Sie noch? Sonderbarer Gedanke.

Ungemein interessant wäre doch zu wissen, ob sie mich überhaupt geachtet hat? Ich weiß nicht, hat sie mich verachtet oder nicht? Ich glaube nicht, daß sie mich verachtet hat. Wie sonderbar: warum ist es mir kein einziges Mal in den Sinn gekommen, im ganzen langen Winter, daß sie mich verachtet? Ich war im höchsten Grade vom Gegenteil überzeugt bis zu demselben Augenblick, da sie mich damals plötzlich mit strenger Verwunderung anblickte. Gerade mit strenger. Da begriff ich denn mit einem Mal, daß sie mich verachtete. Begriff es unwiderruflich, auf ewig! Ach, gut, gut, möge sie mich verachten, meinetwegen das ganze Leben lang, aber – möge sie nur leben, leben! So kürzlich war es noch, daß sie hier herumging, sprach. Ich begreife wirklich nicht, wie sie sich aus dem Fenster gestürzt hat! Und wie hätte ich mir das nur fünf Minuten vorher denken können? Ich rief Lukerja. Oh, die Lukerja, die lasse ich jetzt auf keinen Fall fort, auf keinen Fall!

Wir hätten uns ja noch besprechen können, wir waren doch schon übereingekommen. Nur hatten wir uns im Winter so entwöhnt von einander, – aber hätten wir uns denn nicht wieder aneinander gewöhnen können? Warum, warum hätten wir nicht wieder eine Ehe führen und ein ganz neues Leben beginnen können? Ich bin großmütig und sie ist es gleichfalls – da hätten wir ja schon einen Einigungspunkt! Noch ein paar Worte, noch zwei Tage – nicht mehr, das hätte genügt, und sie würde alles begriffen haben.

Vor allen Dingen ist das kränkend, daß es nur ein Zufall war, – ein gewöhnlicher, barbarischer, passiver Zufall! Das ist ja das Beleidigende! Fünf Minuten, im ganzen, im ganzen nur fünf Minuten bin ich zu spät gekommen! Wäre ich fünf Minuten früher zurückgekehrt – und der Augenblick wäre wie eine Wolke vorübergezogen, und es wäre ihr nie wieder in den Sinn gekommen. Und schließlich hätte sie alles begriffen. Jetzt aber sind die Zimmer wieder leer, wieder bin ich allein. Dort tickt der Pendel, ihn geht es nichts an, ihm tut nichts leid. Niemand ist bei mir – das ist das Unglück!

Ich gehe, die ganze Zeit gehe ich ... Ich weiß, ich weiß, sagt mir nicht vor: Ihr lächelt darüber, daß ich den Zufall anklage und die fünf Minuten? Aber hier liegt es doch auf der Hand! Bedenken Sie bloß eines: sie hat nicht mal einen Zettel hinterlassen, daß ... nun, so, wie ihn alle hinterlassen. Anderenfalls hätte sie sich doch sagen müssen, daß man jetzt sogar Lukerja verdächtigen könnte ... „Bist ganz allein mit ihr gewesen, also hast Du sie zum Fenster hinausgestoßen.“ Wenigstens hätte man Lukerja doch beunruhigen können, wenn nicht zufällig vier Zeugen vorhanden wären, die aus ihren Fenstern gesehen haben, wie sie mit dem Heiligenbild im offenen Fenster gestanden und sich selbst hinuntergestürzt hat. Das ist doch ein reiner Zufall, daß diese vier es gesehn haben. Nein, das Ganze – war nur ein Augenblick, bloß ein willkürlicher Augenblick, in dem sie sich von ihrer Tat nicht Rechenschaft ablegte ... Plötzlichkeit und Phantasie! Was will’s besagen, daß sie vor dem Heiligenbild gebetet hat? Das bedeutet doch nicht, daß sie vor dem Tode ... Dieser Augenblick hat vielleicht im ganzen nur irgend welche zehn Minuten gedauert, den ganzen Entschluß hat sie gefaßt – gerade als sie, den Kopf in die Hand gestützt, an der Wand stand und lächelte. Der Gedanke ist ihr plötzlich durch den Kopf gegangen, hat ihr Schwindel verursacht und – und sie hat ihm nicht widerstehen können.

Das war ein augenscheinliches Mißverständnis – was Sie da auch einwenden mögen. Mit mir könnte man doch leben ... Wie aber, wenn es Blutarmut war? ... Einfach aus Blutarmut, aus Erschöpfung der Lebensenergie? Müde war sie geworden im Winter, das war’s ...

Zu spät!!!

Wie schmal sie im Sarge ist, wie das Näschen sich zugespitzt hat! Die Wimpern liegen wie kleine Zeiger. Und wie sie doch gefallen ist – nichts hat sie sich zerschlagen, nichts verunstaltet! Nur dieser eine „Löffel voll Blut“, nur ein Teelöffelvoll. Innere Verblutung.

Sonderbarer Einfall ... wenn es möglich wäre, sie nicht zu beerdigen? Denn, wenn man sie fortträgt ... oh, nein, sie fortbringen ist fast unmöglich! Oh, ich weiß ja, daß man sie fortbringen muß, ich bin doch nicht wahnsinnig, ich phantasiere doch nicht, im Gegenteil, – nie noch ist mein Verstand so wach gewesen, aber wie soll denn das wieder so: – wieder kein Mensch im Hause, wieder zwei Zimmer und wieder ich allein mit den Pfändern ... Fieberphantasie, Fieberphantasie ... das ist ja Fieberphantasie! Ich habe sie zu Tode gequält – das ist’s!

Was sind mir jetzt Eure Gesetze? Was sollen mir jetzt Eure Gebräuche, Eure Sitten, Euer Leben, Euer Staat, Euer Glaube? Möge mich Euer Richter richten, möge man mich vor Euer Gericht schleppen, vor Euer Geschworenengericht, und ich werde sagen, daß ich nichts anerkenne! Der Richter wird mich anschreien: „Schweigen Sie, Offizier!“ Ich aber rufe zurück: „Woher willst Du solch eine Macht nehmen, daß ich Dir jetzt gehorchte? Warum hat finstere Passivität das zerschlagen, was mir am teuersten war? Was sind mir denn jetzt Eure Gesetze?! Ich scheide mich aus! Oh, ist mir doch alles gleich!“

Du blindes, blindes Wesen du! – Tot, – sie hört nicht – ... Du weißt nicht, mit welch einem Paradies ich Dich umgeben hätte. Das Paradies war in meiner Seele, ich hätte es um Dich gepflanzt! Gut, Du hättest mich nicht geliebt, – sei’s drum, nun, und – was? Alles wäre jetzt einfach so und würde auch einfach so bleiben. Würdest mir nur wie einem Freunde erzählen, – und da würden wir uns denn freuen, würden zusammen lachen, freudig uns in die Augen blicken. Und so würden wir denn gelebt haben ... Und wenn Du einen anderen lieb gewinnen solltest, – nun, sei’s drum, sei’s drum! Du würdest dann mit ihm gehn und lachen, ich aber würde nur von der anderen Straßenseite sehn ... Ach, alles alles! nur möge sie noch einmal die Augen aufschlagen! Nur auf einen Augenblick, nur auf einen! mich anblicken, so wie vorhin, da sie vor mir stand und schwor, daß sie mein treues Weib sein würde! Ach, mit einem einzigen Blick würde sie alles begreifen!

Oh Natur! Die Menschen sind einsam auf der Erde – das ist das Unglück! „Sprich, Ferne, lebt in dir ein Mensch?“ rief einstmals, wie unser Heldensang uns sagt, in alten Zeiten der fahrende russische Held. So rufe auch ich, doch niemand gibt mir Antwort und die Ferne verschlingt das Echo. Es heißt, die Sonne belebe das Weltall. Wenn die Sonne aufgeht – so seht sie doch an, – ist das nicht eine Leiche? ist sie nicht tot? ... Alles ist tot und überall sind Tote. Allein die Menschen sind noch, doch um sie herum ist Schweigen – das ist die Erde! Es tickt ... tickt ... tickt der Pendel, gefühllos, widerlich ... zwei Uhr nachts. Ihre Schuhchen stehn am Bett, ganz als ob sie sie erwarteten ... Nein, im Ernst, wenn man sie morgen fortträgt – was soll ich dann?