Zehntes Kapitel.

Zu stark für dies Leben   •   第12章

Zehntes Kapitel.

Zu seiner Verwunderung fand er zu Hause weder Gertrud noch Hermann, obgleich der Eingang zur Wohnung unverschlossen gewesen war. Es war ihm recht, mit sich selber allein zu sein. Er legte sich, bleierne Schwere in Kopf und Füßen, aufs Sofa. Er wünschte zu schlafen, um vor den Gedanken, die hinter der Stirne eilig wie Mäuse durcheinanderflohen, Ruhe zu haben. Er fand sich nicht fähig, den in seiner Sache notwendigen Entschluß zu fassen. In Wirklichkeit – sagte er sich, wenn er die letzte Kraft seines Denkens für einen Augenblick zu sammeln vermochte – in Wirklichkeit muß die Verteidigung gegen das Unrecht, das mir getan worden ist, einfach sein; obgleich diese Pflicht, mich zu wehren, wie eine unabwälzbare Last auf mir kniend, mich lähmt ...

Plötzlich wurde die Wohnungstür in nervöser Hast mit dem Schlüssel geöffnet. Die Stubentür wurde aufgerissen; Hermann, bleich und mit klebrigem Haar, rief verzweifelt: „Vater, komm mit.“ Grahl sprang auf. In diesem Augenblick fühlte er nichts mehr von seinen Leiden, er stolperte durch den Flur, und ohne den Hut aufzusetzen, folgte er seinem Sohn die Treppen hinunter, indem er beständig sagte: „Was ist denn geschehen? Ist deiner Mutter etwas geschehen?“ und Hermann mit seiner abgehetzten heiseren Kehle hervorstieß: „Komm mit, ich erzähle dir unterwegs.“ An der Haltestation der Straßenbahn blickte Hermann den Lauf der Schienen hinunter. „Wir müssen laufen, es kommt keine Bahn,“ flüsterte er, und ohne zu zögern, warf er den Körper herum und hastete weiter. – „Hermann, ich folge nicht mehr – keinen Schritt“ – keuchte der Vater, „wenn ich nicht nun erfahre ... Ist deiner Mutter ... oder ist Gertrud ... Hermann ...“

„Gertrud,“ stieß Hermann im Laufen heraus, „ist heute früh zum Gefängnis gegangen. Sie kam dann zurück und holte mich – wie ich dich. Als ich von ihr erfuhr, was geschehen war, angeblich geschehen, lief ich zu dir ins Bureau. Dort sagte man mir, du wärest nach Hause gegangen. So ist es gewesen ...“

„Was ist denn geschehen?“

„Es ist vielleicht gar nicht geschehen, gar nicht so furchtbar, Vater ... aber du mußt denken, bei dir ... du mußt dir das Furchtbarste denken. Dann bist du sicher ... vor jeder Nachricht, die uns erwartet. Stelle dir vor ... das Schlimmste – es braucht darum nicht zu sein.“

„Ich stelle mir nun das Schlimmste vor – Hermann – ist es so?“

„Ich weiß es selber nicht, Vater. Ich weiß es nicht.“

So rannten sie bis zum Bahnhof, wo sie den Vorortzug, mit dem sie zur Wette gelaufen waren, davonfahren sehen mußten. Sie hatten eine Viertelstunde zu warten, sie gingen, jeder für sich, umher. Sie blickten aneinander vorbei und schwiegen.

Im Abteil führten sie eine Unterhaltung, die darin bestand, daß Grahl seinen Sohn – und Hermann den Vater ermahnte, des Schlimmsten gewärtig zu bleiben ... des Schlimmsten, das denn nichts anderes als ein natürlicher Punkt des Lebens sei.

„Ich denke meine Gedanken zu Ende, Vater, und bleibe ruhig. Bleibe auch du ruhig, Vater.“

„Ich kann was vertragen, Hermann. Man muß auch mal zeigen, daß man sich meistern kann. – Uebrigens ist es noch gar nicht gesagt ...“

„Natürlich ist es nur eine Sicherheit gegen den äußersten Fall, wenn wir uns ...“

„Ganz ruhig bleiben, mein Junge, ganz ruhig ...“

Als sie aber in einer Räumlichkeit mit nackten Wänden an der Bahre standen, auf welcher die Strafgefangene Anna Grahl mit ein wenig geöffneten Augen lag, waren die Vorbereitungen gänzlich vergessen. Hermann, mit dem Ausdruck eines skeptischen Philosophen, stand an der langen Seite der Bahre, die Brauen herunter-, den Mundwinkel aufwärts gezogen, als nähme er mit schlichter Nachdenklichkeit das Geschehnis zur Kenntnis. Er nickte sogar in einer Weise, als fände er hier eine naturwissenschaftliche Annahme bestätigt. Dann ging er hinaus. – Grahl hatte zuerst überrascht geblickt. Dann betrachtete er mit einer Miene von Grauen, Schrecken und schmerzlicher Verdrossenheit die durch einen Spalt glänzend blickenden Augen in jenem bekannten unbekannten Gesicht, auf welchem trotz der Verzerrtheit des Mundes die hohe Fremdheit vollkommener Ruhe und unendlicher stiller Entferntheit schwieg. Dann wich sein Blick zur Seite, wo, neben der Bahre, ein Halstuch lag, zusammengerollt wie ein Strick. Er sah wieder die offenen Lippen, die tiefe Färbung des Angesichts – seine Augen gingen langsam über die fremde geöffnete Kleidung und langsam wieder hinauf bis zur Stirn ... Mißtrauen und ängstliche Ahnung, wie sie sich eines Knaben in unbekannter geheimnisvoller Umgebung bemächtigten, runzelten seine Haut überm Brillensattel. „Anna,“ sagte er leise ... „lebst du nicht mehr?“

Es schien ihm, als zuckte die Unterlippe. – Kein Laut.

Da stampfte Grahl mit dem Fuß.

Es war aus. Und der Schmerz, der Kampf, die Arbeit ums Leben – was sie beide gemeinsam gehabt und getragen ...

Das war alles umsonst? War nur dies?

Schon wieder besiegt? Schon wieder besiegt? Ja, ungerecht wie die Menschen – so war auch der Tod.