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Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第21章

I.

Ich bin ein lächerlicher Mensch. Jetzt halten sie mich sogar für irrsinnig. Das wäre ja eine Rangerhöhung, wenn ich dabei nicht immer noch lächerlich für sie bliebe. Jetzt aber ärgere ich mich nicht mehr darüber, jetzt sind sie mir alle lieb, auch wenn sie über mich lachen – ja dann sind sie mir aus irgend einem Grunde noch ganz besonders lieb. Ich würde gern mit ihnen lachen, – nicht gerade über mich, wohl aber aus Liebe zu ihnen, wenn mich nur ihr Anblick nicht so traurig machte. Traurig, weil sie die Wahrheit nicht wissen. Ich aber weiß die Wahrheit. Oh Gott, wie schwer ist es doch, ganz allein die Wahrheit zu wissen! Doch das werden sie nicht verstehn. Nein, das werden sie nicht verstehn.

Früher schuf es mir viel Leid, daß ich lächerlich schien. Nein, nicht schien, sondern war. Ich war immer lächerlich, und das weiß ich vielleicht schon seit meiner Geburt. Vielleicht wußte ich es schon mit sieben Jahren, daß ich lächerlich war. Später besuchte ich die Schule, dann die Universität, aber – je mehr ich lernte, desto mehr erkannte ich, daß ich lächerlich bin. So daß meine ganze Universitätswissenschaft zum Schluß für mich nichts anderes bedeutete, als mir in dem Maße, wie ich mich in sie vertiefte, zu beweisen und zu erklären, daß ich lächerlich bin. Und im Leben erging es mir ähnlich wie in der Wissenschaft. Mit jedem Jahr wuchs und befestigte sich in mir dieselbe Erkenntnis meiner Lächerlichkeit in jeder Lebensbeziehung. Über mich haben immer alle gelacht. Aber kein einziger von ihnen wußte oder erriet es wenigstens, daß, wenn es irgendwo in der Welt einen Menschen gab, der besser als alle anderen wußte, wie lächerlich ich bin, ich dieser Mensch war. Und gerade das war es, was mich am meisten kränkte: daß sie das nicht wußten. Aber daran war ich selbst schuld: ich war immer so stolz, daß ich es um nichts in der Welt einem Menschen gestanden hätte. Und dieser Stolz wuchs in mir noch mit den Jahren, und wenn es geschehen wäre, daß ich mir erlaubt hätte, irgend jemandem, einerlei wem, sei es wem es sei, einzugestehen, daß ich lächerlich bin, so würde ich mir sofort, noch am Abend desselben Tages eine Kugel durch den Kopf geschossen haben. Oh, wie litt ich in meiner Jugend unter der Angst, ich könnte es vielleicht nicht aushalten, und es plötzlich selbst meinen Kameraden sagen. Doch seit der Zeit, da ich schon ein junger Mann wurde, wenn ich dabei auch mit jedem Jahr immer mehr und mehr meine furchtbare Eigenschaft erkannte, wurde ich doch aus irgend einem Grunde ruhiger ... Gerade aus irgend einem Grunde, denn ich kann bis jetzt noch nicht sagen warum. Vielleicht weil in meiner Seele die Angst einer bestimmten Erkenntnis, die menschlich höher war als mein Ich, gerade damals wuchs und wuchs: – das war die mich ergreifende Überzeugung, daß in der ganzen Welt alles einerlei ist.

Ich hatte es schon sehr lange vorausgefühlt, aber die volle Überzeugung überkam mich erst im letzten Jahre und irgendwie ganz plötzlich. Ich fühlte mit einem Mal, daß es mir ganz einerlei wäre, ob die Welt existierte, oder ob es überhaupt nichts gäbe. Allmählich sah und fühlte ich mit meinem ganzen Wesen, daß es nichts außer mir gab. Zuerst schien es mir immer, daß es dafür früher vieles gegeben hatte, dann aber erriet ich, daß auch früher nichts gewesen war, sondern nur aus irgend einem Grunde geschienen hatte. Und allmählich überzeugte ich mich, daß es auch hinfort niemals etwas geben wird. Da hörte ich plötzlich auf, mich über die Menschen zu ärgern, und ich bemerkte sie fast nicht mehr. Und das tat sich bald in den kleinsten Dingen kund, z. B. kam es vor, daß ich, wenn ich auf der Straße ging, mit den Leuten zusammenstieß. Und das nicht etwa, weil ich in Gedanken versunken gewesen wäre: woran hätte ich denn denken sollen, ich hatte damals ganz aufgehört, zu denken: mir war alles einerlei. Und wenn ich doch wenigstens Fragen gelöst hätte! Oh, keine einzige habe ich gelöst, und doch gab es ihrer wahrlich nicht wenig! Aber mir wurde alles einerlei, und die Fragen entfernten sich von selbst.

Und dann, plötzlich erfuhr ich die Wahrheit. Die Wahrheit erfuhr ich im vorigen November, genau am dritten November und seit der Zeit erinnere ich mich jedes Augenblicks meines Lebens. Es war in einer finsteren, so finsteren Nacht, wie ich sie dunkler noch nie gesehn. Ich kehrte damals um elf Uhr abends heim, und ich weiß noch, ich dachte gerade, daß es eine noch finstrere, dunklere Zeit nicht geben könnte. Sogar in physischer Beziehung. Der Regen hatte den ganzen Tag gerieselt, und das war der allerkälteste, allerfinsterste Regen gewesen, so ein die Seelen ängstigender Regen, das weiß ich noch, der so eine fühlbare Feindseligkeit zu den Menschen hatte. Und plötzlich, um elf Uhr nachts, hörte er auf, und es begann eine furchtbare Feuchtigkeit, die noch feuchter und noch kälter als der Regen war, und von überall her erhob sich ein Nebel, wie Dampf, von jedem feuchten Steine der Straße und aus jeder Quergasse, wenn man im Vorübergehn in sie tiefer hineinblickte, dorthin, wo die beiden Häuserstreifen sich ineinander näherten und im Dunkel verschwanden, stieg er auf. Ich dachte plötzlich, daß es doch viel wohltuender wäre, wenn das Gas erlöschen würde, denn die Beleuchtung machte das alles sichtbar, und so wurde es dem Herzen nur schwerer. Ich hatte an jenem Tage fast nichts gegessen und seit der Dämmerstunde war ich mit zwei anderen bei einem Ingenieur gewesen. Ich hatte die ganze Zeit geschwiegen und war ihnen wahrscheinlich langweilig gewesen. Sie sprachen über irgend etwas und plötzlich gerieten sie sogar in Meinungsverschiedenheiten und Streit. Aber es ging sie im Grunde doch nichts an, das wußte ich, und sie ereiferten sich nur um des Ereiferns willen. Das sagte ich ihnen denn auch plötzlich: „Hört, es ist Euch doch alles einerlei.“ Sie waren deswegen nicht gekränkt, sondern lachten nur über mich. Weil ich es ohne jeden Vorwurf gesagt hatte, einfach weil mir alles einerlei war. Sie sahen es denn auch ein, daß mir alles einerlei war, und wurden wieder guter Laune.

Als ich auf der Straße an das Erlöschen der Gasbeleuchtung dachte, blickte ich zum Himmel auf. Er war unheimlich dunkel, doch deutlich konnte man hellere, zerrissene, zerflatterte Wolken unterscheiden und zwischen ihnen bodenlose schwarze Flecke. Plötzlich erblickte ich in einem dieser Flecke einen kleinen Stern: ich blieb stehn und betrachtete ihn aufmerksam. Ich tat es nur, weil mir dieser kleine Stern einen Gedanken gab: ich beschloß, mich noch in derselben Nacht zu erschießen. Das hatte ich schon vor zwei Monaten fest beschlossen, und wie arm ich auch war, ich hatte mir doch einen schönen Revolver gekauft und ihn noch am selben Tage geladen. Und doch waren schon zwei Monate vergangen und er lag immer noch in meinem Kasten; es war mir alles dermaßen einerlei, daß ich einen Augenblick, in dem mir nicht alles so einerlei sein würde, abwarten wollte, warum – weiß ich nicht. Und so kam es denn, daß ich in diesen zwei Monaten in jeder Nacht, wenn ich heimkehrte, glaubte, ich würde mich in dieser Nacht erschießen. Ich erwartete immer den Augenblick. Und plötzlich gab mir dieser kleine Stern den Gedanken, und ich beschloß, daß es unbedingt in dieser Nacht geschehen sollte. Warum mir aber der Stern den Gedanken gab – das weiß ich nicht.

Und da war’s denn, daß mich, als ich in den Himmel blickte, plötzlich dieses kleine Mädchen am Ellenbogen zupfte. Die Straße war schon ganz, ganz still, kein Mensch war ringsum zu sehn. Nur in der Ferne schlief ein Droschkenkutscher auf seinem Bock. Das Mädchen war vielleicht acht Jahre alt, in einem dünnen Kleidchen, hatte nur ein kleines Tuch um, war ganz durchnäßt, doch am meisten fielen mir ihre nassen zerrissenen Stiefel auf und auch jetzt noch erinnere ich mich ihrer deutlich. Sie stachen mir ganz besonders in die Augen. Sie zupfte mich plötzlich am Ärmel und rief irgend etwas. Sie weinte nicht, aber sie stieß wie bellend irgend welche Worte hervor, Worte, die sie nicht deutlich aussprechen konnte, da sie vor Kälte am ganzen Körper zitterte. Sie war so erschrocken, so entsetzt, daß sie in ihrer Verzweiflung nur stockend immer ein und dasselbe rief: „Mammi! Mammi!“ Ich blickte mich zwar einmal nach ihr um, sagte aber kein Wort und ging weiter, sie aber lief mir nach und zupfte mich immer am Ärmel und in ihrer Stimme klang jener Ton, der bei erschrockenen Kindern Verzweiflung bedeutet. Ich kenne diesen Ton. Wenn sie auch ihre Worte nicht aussprach, so begriff ich doch, daß ihre Mutter irgendwo im Sterben lag, oder daß bei ihnen sonst etwas Furchtbares geschehen sein mußte, und sie hinausgelaufen war, um irgend jemanden zu Hilfe zu rufen, um irgend etwas zu finden, ihrer Mammi zu helfen. Ich aber folgte ihr nicht, wohin sie mich rief, im Gegenteil, es fiel mir sogar ein, sie fortzujagen. Zuerst sagte ich ihr noch, sie solle den Schutzmann suchen. Sie jedoch faltete plötzlich die Händchen zusammen und lief schluchzend, atemlos, neben mir her: wahrscheinlich hatte sie Angst mich zu verlassen. Und da war es denn, daß ich plötzlich mit dem Fuß stampfte und sie anschrie. Sie rief nur angstvoll: „Herr, lieber Herr! ...“ dann aber blieb sie stehn und plötzlich lief sie schnell über die Straße: dort ging eine Gestalt, und so verließ sie mich, um zu dem anderen Menschen hinüber zu laufen.

Ich stieg in meinen fünften Stock. Ich wohne hier bei einer Frau, die Zimmer vermietet. Mein Zimmer ist ärmlich und klein; es hat nur ein halbrundes Dachfenster. Ich habe einen mit Wachstuch bezogenen Schlafdiwan, einen Tisch, auf dem meine Bücher stehn, zwei Stühle und einen Lehnstuhl, der zwar alt, uralt, dafür aber bequem ist. Ich setzte mich, zündete das Licht an und kam ins Denken. Im Nebenzimmer, das nur durch eine dünne Wand von meinem Zimmer geschieden ist, zog sich das Gelage schon den dritten Tag hin. Dort wohnte ein verabschiedeter Hauptmann und bei ihm waren wieder Gäste – sechs Mann; gewöhnlich tranken sie Schnaps und spielten mit alten fettigen Karten irgend ein Hazardspiel. In der vergangenen Nacht war es bei ihnen zu einer Prügelei gekommen und ich weiß, daß zwei von ihnen sich lange gegenseitig in den Haaren gelegen hatten. Die Wirtin wollte sich beklagen, wagte es jedoch nicht, da sie vor dem Hauptmann furchtbar Angst hatte. Sonst gibt es hier an Mietern nur noch eine kleine, magere Dame, eine angereiste, mit ihren drei kleinen und hier bei uns erkrankten Kinderchen. Sie wie die Kleinen fürchten den Hauptmann bis zur Lächerlichkeit und wenn er wieder Gäste hat, so schlafen sie die ganze Nacht nicht, zittern und bekreuzen sich und das kleinste soll vor Angst schon irgend welche Krämpfe gehabt haben. Dieser Hauptmann bettelt zuweilen, wie ich genau weiß, die Menschen auf dem Newsky an, eine Stelle sucht er sich nicht, doch sonderbarer Weise – deswegen erzähle ich ja nur von ihm – hat mich dieser Hauptmann während der ganzen Zeit, die er bei uns wohnt, noch kein einziges Mal gestört. Seinem Verkehr war ich allerdings gleich zu Anfang ausgewichen, und ich wurde ihm auch schon bei seinem ersten Besuch in meinem Zimmer furchtbar langweilig, doch wie laut sie auch im Nebenzimmer schreien mochten – mir war immer alles einerlei. Ich sitze die ganze Nacht in meinem Lehnstuhl, und wirklich, ich höre sie überhaupt nicht – so weit konnte ich sie und ihr Geschrei vergessen. Schlafe ich doch in keiner einzigen Nacht – und das tue ich jetzt schon ein Jahr lang. Ich sitze bis zum Morgengrauen in meinem Sessel und mache nichts. Bücher lese ich nur des Tags. Ich sitze und denke nicht einmal, ich sitze einfach so, irgend welche Gedanken schweifen umher und ich lasse sie ruhig gewähren. Das Licht brennt in der Nacht ganz aus. Ich setzte mich an den Tisch, nahm meinen Revolver und legte ihn vor mich hin. Ich weiß noch – als ich ihn vor mich hinlegte, fragte ich mich: „Ja?“ und vollkommen ruhig antwortete ich mir: „Ja.“ Also hatte ich beschlossen, mich noch in derselben Nacht zu erschießen. Ich wußte, daß ich mich in dieser Nacht bestimmt erschießen würde, wie lange ich aber vorher noch so sitzen würde – das wußte ich nicht. Und zweifellos hätte ich mich auch erschossen, wenn nicht jenes Mädchen ...