Zweites Kapitel.
Zu stark für dies Leben • 第4章
Zweites Kapitel.
Als Grahl und Uri im Klubzimmer der „Krone“ anlangten, war der Raum von Biergeruch, Zigarettendunst und Durcheinandergewirr der Stimmen durchwirbelt; aus einer Ecke, wo übrigens einige Jünglinge untereinander tanzten, klang das Gehämmer auf einem Klavier. Sie haben noch nicht begonnen? dachte Grahl und biß ärgerlich auf den hängenden Schnurrbart, denn er hatte gehofft, die Formalitäten schon erledigt zu finden, um sofort an der Resolution teilnehmen zu können. Er begab sich sofort an den Sofaplatz vor der Mitte des Tisches und eröffnete seinerseits eilig, mit gewohnten Worten, den Abend, verlas die Bekanntmachungen in einem Zuge und brachte die Hauptfrage zur Besprechung, während der junge Mann am Klavier mit gelangweiltem Ausdruck seinen Bock eine nachlässige Drehung beschreiben ließ.
„Bekannt ist worden, daß seitens der Personalabteilung der Firma ein Plan in Vorschlag gebracht worden ist, das Personal zu verringern. Da die Durchführung dieses Vorschlags nur auf Kosten des Arbeitsstundengesetzes erfolgen kann, ersucht der Ausschuß um eine Resolution des Personals, um im gegebenen Fall zum Handeln bereit zu sein.“
Obgleich allen Anwesenden der Inhalt, wenn auch nicht der Wortlaut dieser von Grahl verlesenen Eingabe schon vorher bekannt gewesen war, da dieser Antrag das eigentliche Ereignis des Abends bildete, erhob sich dennoch ein Lärm, ähnlich dem vorigen – der kaum mit Mühe verebbt war. Ironische Rufe flogen durcheinander, jeder Bemerkung folgte mit doppelt verstärkter Stimme die nächste, so daß eine Steigerung des Durcheinanders am Ende schlechthin nicht zu denken war. Am lebhaftesten gebärdete sich aber der junge Mann, der sich vom Klavierbock erhoben hatte, mit überschwenglichen Gebärden die rechte Hand über dem Kopfe schüttelnd. „Ich weiß,“ schrie er mit so maßloser Anstrengung, daß die Adern an seinem hageren Halse, die der niedere Kragen ohnehin stark hervortreten ließ, bedeutend schwollen, „ich weiß, wer der erste ist, der hinausfliegt. Das bin ich!“ Er rief es mit einer Art Siegesgewißheit. Sein Haar war blond wie Getreidestiele, seine Augen kindlich und offen. Er war achtzehn Jahre und hieß „der Geiger“, weil er abends mit Geigenspiel in Cafés sein Monatseinkommen erhöhte. Hier ist der Platz, eine Begebenheit zu erzählen, die dem „Geiger“ an einem Spätsommervormittag geschehen ist.
Der „Geiger“, den sein Violinspiel in Kaffeehäusern nicht nur mit Geld, sondern in gleichem Maße mit jungen Damen bekannt gemacht hatte, war am Tage des betreffenden Tages von einem Brief in rosa Umschlag überrascht und sozusagen tödlich verwundet worden. Als er das Kontor betrat, lag in seinen sonst so lustigen Augen der ergreifendste Ausdruck von Gleichgültigkeit gegen die Dinge des Lebens. Er setzte sich auf seinen Bock, starrte mit einem schrägen Blick trübselig ins Leere, und zog endlich das rosa Kuvert aus der Brusttasche seines Jacketts, um es dicht vor die Nase zu bringen. Er atmete so wahrscheinlich das feine Parfüm des Papiers ein ... er steckte sogar die Nase ins Innere des Umschlags, und es war als sog er sich voll von Schmerz. Denn es stieg ihm blank über die Augen. Auf diesen Augenblick hatte sein Schicksal gewartet. Der Chef, ein furchtbarer Mann auch für solche, die sich in keiner Beziehung schuldig fühlten – sein Blick traf alle Angestellten mit einer Schärfe, mit welcher ein Stein durch das Fenster ins Innere einer friedlichen Wohnung einschlägt – dieser Herr Winter, der mehrere Male am Tag durch die Pultreihen streifte, plötzlich auftauchend und unvermittelt die Stimme erhebend, ein jähes Geschrei in der Nacht – er befand sich nun hinter dem „Geiger“, der nichts davon ahnte, und beobachtete seinen Angestellten, der, seine Nase tief in den rosa Umschlag gesenkt, in der schmerzlichsten Haltung dasaß. Zu einer Rettungsaktion seitens seiner Kollegen war es zu spät – und übrigens platzten die anderen an ihren Pulten vor innerlicher Erwartung, wie es begänne, wie es geschähe ...
„Wie alt sind Sie?“ krachte es förmlich los.
Der „Geiger“ fuhr herum. Er sah aus, als wollte er sagen: Ja, wenn du auf Zehenspitzen heranschleichst, du Gauner, da kann ich dich wohl nicht hören. Dann richtete er sein vorwurfsvolles Gesicht auf sein Gegenüber. Warum habt ihr mich nicht gewarnt, ihr Filous ...! sollte das heißen.
Da krachte es neben ihm noch einmal: „Ich frage, wie alt Sie sind.“
Der „Geiger“ konnte sich immer noch nicht zur Antwort entschließen. Er empfand so natürlich! Na, na ...! hätte er leicht gesagt, halb erstaunt, halb verächtlich – es fehlte nicht viel. Als er aber bemerkte, daß das tiefrote Gesicht, in das er hineinsah, wahrhaftig bis in die Stirne erbleichte, beeilte er sich.
„Achtzehn Jahre, Herr Winter.“
„Achtzehn Jahre ... hmhm ...“ wiegte Winter den spitzen Kahlkopf. Er war so klein; er blickte zu dem langaufgeschossenen „Geiger“ hinauf, der sich nun sogar respektvoll erhob.
„Haben Sie einen Vater?“ fragte Herr Winter, unheimlich tief, und so laut, daß man die Stimme noch an den letzten Pulten am Ausgang vernahm. Es war so still im Kontor – man hätte eine Bureaunadel fallen hören.
„Einen Vater? – Jawohl,“ gab der „Geiger“ zur Antwort.
„Und“, fragte der Chef, „er erzieht Sie nicht besser?“
Darauf wußte der junge „Geiger“ keine Antwort mehr. Er sah seinem Chef zuerst in die seegrünen Augen, dann auf die Geiernase und endlich auf die Brillantnadel in der Krawatte.
„Zeigen Sie mir diesen Brief,“ sagte Winter.
„Mit nichten,“ sagte der „Geiger“ entschlossen. „Dieser Brief ist an mich.“
„Zeigen Sie ihn,“ sagte Winter lauter.
„Wie kann ich!“ rief der „Geiger“ entrüstet, „ich kann nicht die Dame, die mir dies schreibt, kompromittieren.“
Damit wußte Herr Winter immerhin etwas und es sah aus, als wollte er gehen. Plötzlich schrie er: „Wieviel verdienen Sie aber im Monat?“
Der „Geiger“ nannte sein lächerliches Anfangsgehalt.
„Und für mein Geld ...!“ schrie Herr Winter und schnappte. „Sie bestehlen mich!“
Und er ging mit langsamen schallenden Schritten davon. Der „Geiger“, dessen Gehirn an diesem Morgen mehr tragen mußte, als es imstande war, murmelte noch: „Meinetwegen!“ und „Nun tue ich den ganzen Tag nichts mehr – es komme, was mag,“ ging hinaus zur Garderobe und schloß sich in seine gewohnte Kabine ein, um ein wenig zu rauchen.
Daher war der „Geiger“ an diesem Abend so fest überzeugt davon, daß auf der Liste der zu entlassenden Angestellten sein Name zu oberst stünde.
Von den Ausschußmitgliedern, die sich um den großen Tisch zusammengezogen hatten, war inzwischen eine Entschließung verfaßt worden. Sie wurde nun den Versammelten vorgelegt.
„Der Ausschuß versagt seine notwendige Zustimmung zur Entlassung eines Angestellten in jedem Fall, wenn die Entlassung nicht anders als mit der Absicht einer Personalverringerung begründet erscheint. Eine derartige Absicht kann durch den Gang des Betriebes durchaus nicht gerechtfertigt werden. Die Befugnis des Ausschusses zum Einschreiten gegen Entlassungen wie die bezeichneten ergibt sich aus dem Paragraph drei im zweiten Abschnitt des Arbeitsgesetzes.“
Als diese Resolution, trotz den Zwischenrufen des „Geigers“, der noch eine Klausel verlangte, im übrigen einstimmig angenommen war, drehte sich dieser auf seinem Klavierbock und behämmerte wieder die Tasten. Die Anfangsstimmung drang durch. Einige Herren vom Ausschuß verabschiedeten sich, die Ausschußmitglieder waren alle reiferen Alters. Mehrere Angestellte wollten nicht bleiben, da sie unmöglich am vorletzten Tage des Monats – es war der neunundzwanzigste September des Jahres neunzehnhundertundvierundzwanzig – ein Vergnügen sich vorstellen imstande waren. Es hatte kaum zu den beiden Gläsern hellen Bieres gereicht ...
Der mit höflichem, dennoch sehr hastigem Gruß, das Zimmer als erster verließ, war Grahl.