Sechstes Kapitel.
Zu stark für dies Leben • 第8章
Sechstes Kapitel.
Am zweiten Oktober wurde das Schriftstück, das der Ausschuß am vorhergehenden Abend beraten hatte, dem Personalchef Herrn Karst übergeben. Dies geschah gegen Mittag. Nachmittags ging Herr Karst in das Kontor des Chefs, und die Türe wurde nachdrücklich geschlossen. Aber bis zum Abend geschah durchaus nichts.
Grahl blieb an diesem Tage bis fast in die Nacht am Pulte, um die Fakturenkontrolle, wie erforderlich, am nächsten Tage beenden zu können. Mitunter gelang es ihm, wohl eine Viertelstunde lang ruhig und aufmerksam die Salden der Konteninhaber zu prüfen, – dann plötzlich fuhr er sich mit der Hand über Stirn und Augen, blickte um sich, um zu bemerken, daß selbst Herr Uri schon fortgegangen war, und daß außer dem hellgrünen Licht, das auf sein Pult von der Lampe über ihm strahlte, das ganze Kontor im Dunkel lag. Dann konnte er zehn Minuten lang mit verdeckten Augen sitzen und denken. Er dachte an Anna. Die Notwendigkeit trieb ihn wieder zur Arbeit. Wenn er die Menge des noch zu bewältigenden Materials vor sich sah, fühlte er, wie sein Herz sich krampfte, ein Schwindel begann seinen Kopf zu verwirren. Mit einem stöhnenden Laut, gewaltsam, setzte er seine Rechnungen fort.
Grahl hatte einen der lastendsten Posten, er führte die Konten der Firmen, deren Titel mit M, N oder R begannen. Auf diesen Platz, das „Konto MR“, war er, als ein zuverlässiger Buchführer, im Laufe der Jahre – noch unter dem Vater des jetzigen Chefs und unter wechselnden Personalvorgesetzten – gelangt. Aehnlich umfangreichen Arbeitsstoff hatte höchstens der Kontenführer des „Konto ST“ zu bewältigen. Für diese Erscheinung eine Erklärung zu finden, ist leicht, wenn man die Statistik der vorkommenden Namen in unserem Lande betrachtet; eine solche Statistik bietet zum Beispiel das Adreßbuch der Stadt.
Am nächsten Tage mußte Grahl statt fertiger Arbeit die Erklärung abgeben, daß er in einigen Tagen bestimmt alle von ihm geführten Konten zum Abschluß gebracht haben würde. Nicht lange nachdem diese Mitteilung seinerseits geschehen war, befahl ihm der Personalchef Karst, sich unverzüglich in eine andere Abteilung, das Revisionsbureau, zu begeben. Der Dienst dieses Ressorts bestand darin, die Arbeit der Kontenführer zu prüfen, ihre Fehler zu finden und richtigzustellen. Zwar erforderte diese kontrollierende Tätigkeit Ausdauer und ein gewisses Talent, das mit dem Spürsinn zu tun hat – aber dennoch wurden die Posten dort meist mit jungen Angestellten und Kontoristinnen besetzt, deren Monatsgehälter einem der niedersten Sätze des Angestelltentarifs entsprachen. Kaum hatte Grahl seinen Dienst in dieser Abteilung begonnen, als der Lehrling Menzel den Raum betrat, um ein verschlossenes Kuvert auf seinen Platz zu legen. Grahl öffnete und fand nun in deutlichen Worten die Begründung zu seiner Entlassung ausgesprochen – dies war die Antwort auf die gestern erfolgte Eingabe des Ausschusses. Als Grahl jenes Wort, das, alles in einem, den Grund zur Entlassung aussprach, las – suchte er tastend nach einem Halt. Im übrigen wurde ihm dringend geraten, freiwillig aus diesem unerquicklichen Dienstverhältnis auszuscheiden, das, je weiter er es in die Länge zu dehnen versuche, desto mehr an Schaden ihm bringen würde. Das Wort, die Begründung, hieß: Unfähigkeit.
Wäre Grahl seiner ersten Regung gefolgt, hätte er sich um eine Unterredung mit Karst oder gar mit Winter bemüht. Aber gewarnt durch den letzten Bescheid, den er von Winter hatte entgegennehmen müssen, hielt er sich fest vor dem Pult, und es gelang ihm notdürftig, sich zu seiner neuen Arbeit zu sammeln. Als die Kontorzeit vorüber war, begab er sich eilig zur Post, um dort einen Brief, einen schmerzerfüllten Protest, aufzusetzen. Später strich er die innerlichst gefühlten Worte heraus und als er das Schreiben in sauberer Abschrift an einem der Schalter gegen Quittung aufgab, da war es ein sachlich gestraffter Widerspruch. „Man hätte mir eine Frist zur Verfügung stellen sollen,“ schrieb Grahl, „zum Beweisen, daß das Nachlassen meiner Arbeitskraft nur auf äußere Einflüsse ohne Dauer zurückzuführen war. Man hätte mit mir verhandeln sollen“ (das Wort „menschlich handeln“ hatte zuvor an dieser Stelle gestanden), „statt dessen hat man mich schweigend beobachtet und in Unkenntnis meiner Lage mir gekündigt.“
Er merkte es wohl – an dem nächsten wie an allen folgenden Tagen: Von seinen Vorgesetzten als Arbeitskraft völlig verachtet, ward er von seinen Kollegen im Rücken verspottet. Diese seltsamen Kreaturen, die ihn so lange als arbeitsamen, rechtschaffenen Buchhalter kannten, schoben die Oberzähne über die Unterlippe, fast bis aufs Kinn, als wollten sie sagen: Du Verräter der Firma, der gegen die Autorität opponiert, – hebe dich fort, wir haben mit dir nichts zu tun. Der Einzige, der ihn freundlich ansprach, war Uri. Sie waren während einiger Jahre Pultgenossen gewesen.
Der Leiter der Revisionsabteilung war Baaß, derselbe, der im Ausschuß für Grahl gegen seine Entlassung gehandelt hatte. Aber nun erschien dem biederen Manne die Stellung, in die er sich selber begeben hatte, nicht mehr ungefährlich – auch war ihm vielleicht von höherer Stelle die Initiative, die er jetzt ergriff, nahegelegt. Er besah sich öfters am Tage seinen Revisionsangestellten Grahl, indem er sich mit der roten, fleischigen Hand über den goldblonden Borstenschnurrbart strich. Und endlich erklärte er Grahl – er brauchte zu dieser Erklärung sechs Worte: er wisse mit ihm nichts anzufangen.
Ueber diese Erklärung war Grahl so verdutzt, daß er die Augenlider zusammenzog, als blinzelte er gegen Rauch. Er fragte seinen Ausschußkollegen nach dem Anlaß, den er zu solchen Worten gegeben: und er erfuhr, daß er, Jakob Grahl, der Arbeit, die man ihm gab, sich augenscheinlich durchaus nicht gewachsen zeigte.
„Erledige ich nicht, was man mir zu erledigen gibt?“
„Schon recht,“ sagte Baaß und rieb mit dem Zeigefinger über den Borst unter der Nase – „aber man kann Ihnen leider nur wenig geben. Sie arbeiten langsam, Herr Grahl.“
Unfähigkeit! sagte Grahl für sich, obgleich er wußte, daß Baaß all dies sagte, um ihn aus irgendeinem Grunde, den er nicht kannte, zu verderben. Er biß die Zähne gegeneinander und machte jene Bewegung zur Brille, wie um sie besser vors Auge zu setzen – und schwieg.
Was kümmert mich dies, sagte er sich später, mir bleibt mein Mandat, das mich schützt. Er war entschlossen, in diesem Kampfe nicht nachzugeben. Ich sehe keine Veranlassung, dachte er in kaltem Trotz, mich aus freien Stücken auf die Straße zu setzen. Ermordet mich und schafft mich hinaus ... lebendig bringt ihr mich nicht vor die Türe.
Aber während dieser Zeit schweigenden Kampfes wurde er äußerlich und auch innerlich anders. Hatte er früher mit Hermann die Tagesereignisse gern und lebhaft besprochen – so saß er jetzt schweigend, bleich, mit aufgewälztem Stirnbein und verdeckten Augen seinen Kindern gegenüber beim Abendbrot. Sie dachten, es wäre das Unglück der Mutter, das seine Gestalt so mager erscheinen ließ. Und in Wirklichkeit – war es nicht dies? Ja, auch dies. – Mitunter meinte er nachdenklich bei sich selber, daß diese beiden Kümmernisse auf einmal nicht ohne heilsamen Vorteil wären, da dem einen Kummer, sobald er stärker zum Herzen vorstieß, der andere zur Ablösung kam.
Zwei Tage später aber, als Baaß seiner Unzufriedenheit Ausdruck gegeben hatte, wurde Grahl auch von dem neuen Posten im Revisionsbureau enthoben und in die Paketannahme versetzt. Er übernahm dort den Posten eines Herrn, der an diesem Tage aus unbekanntem Grunde nicht wieder zur Arbeit erschienen war. Grahls Tätigkeit war mit einigen Boten zusammen, die sehr verwundert waren, den Herrn Buchhalter Grahl, den sie noch vor kurzem mit tiefgezogener Mütze gegrüßt hatten, nun als ihresgleichen beim Quittieren, Sortieren und bei der Verteilung eingehender Pakete zu sehen. Er selber fand diese Verwunderung seiner neuen Kollegen natürlich, und er behandelte sie mit der gleichen Achtung, die er nicht nur für Menschen, sondern vielmehr für jedes lebende Wesen empfand.
Wenn er abends über die dunklen Straßen den Heimweg ging, wagte er es, seine Mienen abzuspannen, und sein über den Tag aufrecht getragener Körper gab sich nun Erschlaffung hin. Seine Lider lagen schwer über dem trostlosen Blick; seine Mundwinkel, von dem struppigen Schnurrbart wirr überhangen, waren tief bis ins Kinn gefurcht. Es war in solchen Augenblicken ein Ausdruck des Grams schon vermischt mit den Mienen verächtlicher Gleichgültigkeit – Gleichgültigkeit gegen die flackernden Blicke, den hitzigen Atem der Welt.
Einmal traf er am Ausgang mit Uri zusammen. Sie gingen ein Stück des Weges miteinander. Uri erzählte, der erste Nachfolger Grahls auf dem „Konto MR“ sei schon am dritten Tage an ein anderes Pult zu anderer Arbeit versetzt worden. Der nächste aber, ein junger Mann, der sich viel auf seine Gewandtheit zugute tat – hatte während eines einzigen Tages des Amtes gewaltet, um am nächsten und allen folgenden Tagen überhaupt nicht mehr im Hause sichtbar zu werden. Er zog es vor, mit gutem Mut eine Stellung bei einer anderen Firma zu suchen. Das „Konto MR“ hatte seitdem den Namen erhalten: „Konto Ueber die Kraft“.
Grahl schwieg dazu. Uri seufzte einige Male. „Sie wissen doch, Grahl,“ begann er, „daß nun auch gegen den Ausschußwillen beim Arbeitsgericht Einspruch erhoben worden ist?“
„Was ... sagen Sie da?“ sagte Grahl leichenblaß. Seine Stimme war rauh. Er zog die Augenlider zusammen. Plötzlich stolperte er seitwärts einige Schritte und hielt sich schwer atmend an einem Baum.
„Nicht erschrecken, Grahl,“ sagte Uri und nahm seinen Arm. „Meiner Meinung nach erwartet Sie Kampf ... Kampf und Sieg. Das Arbeitsgericht wird, in gerechter Betrachtung, sich für den Ausschußwillen entscheiden müssen.“
„Das Arbeitsgericht, soso ...“ sagte Grahl mit einem Ausdruck von Gleichgültigkeit.
Als er aber in seiner Stube hinter der Zeitung die leidenden Mienen vor den Kindern versteckte, erwachte der Anfangstrotz wieder auf, der dem Gefühl für die Seinen entsprang. Hermann las in dem kleinen Band einer volkstümlichen Bibliothek – es war eine Einführung in die Philosophie –, Gertrud, indem sie an einem Kleide nähte, beachtete jede Bewegung des Vaters, jeden Blick – um ihm das Teeglas aufs neue zu füllen oder die Teller vom Tische zu tragen oder das Gaslicht zu regulieren. Sie war es auch, die ihre Mutter in ihrer jetzigen Wohnung besuchte. Niemanden anders wollte die Frau zu Besuch haben. Mitunter sah Grahl seine Tochter mit einem kurzen dankbaren Ausdruck an, als hätte er all seine Zärtlichkeit, die er in der denkbar verschwiegensten Weise zu äußern imstande war, auf das Kind zu übertragen.