II.
Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt • 第22章
Sehen Sie: wenn mir auch alles einerlei war, so fühlte ich doch, zum Beispiel, den Schmerz, den fühlte ich doch. Hätte mich jemand geschlagen, so würde ich bestimmt den Schmerz gefühlt haben. Und ebenso auch in moralischer Hinsicht: wäre etwas sehr Trauriges geschehn, so würde ich Mitleid empfunden haben, ganz wie früher, als mir noch nicht alles im Leben einerlei war. Und so hatte ich denn auch jetzt Mitleid gefühlt: einem Kinde würde ich doch unter allen Umständen geholfen haben. Warum hatte ich dann dem kleinen Mädchen nicht geholfen? Weil mir gerade in dem Augenblick ein Gedanke gekommen war: als sie mich rief und zupfte, hatte sich vor mir gerade eine Frage erhoben, die ich nicht lösen konnte. Sie war müßig, aber sie ärgerte mich doch. Ärgerte mich wegen der logischen Folgerung, daß mir, wenn ich beschlossen hatte, mich noch in derselben Nacht zu erschießen, folglich alles auf der Welt mehr denn je gleichgültig sein mußte. Warum aber fühlte ich dann plötzlich, daß mir nicht alles gleichgültig war und daß ich das Mädchen bemitleidete? Ich weiß noch, daß sie mir wirklich leid tat; sogar bis zu einem ganz sonderbaren Schmerz tat sie mir leid, der doch in meiner Lage ganz unwahrscheinlich und unangebracht schien. Nein, ich kann mein damaliges vorübergehendes Empfinden nicht gut wiedergeben, aber es dauerte noch an, als ich schon in meinem Zimmer war, als ich mich schon an den Tisch gesetzt hatte; und ich war so aufgebracht, wie ich es seit langer Zeit nicht mehr gewesen war. Erwägung zog nach Erwägung vorüber. Es ist doch klar, daß ich, wenn ich ein Mensch und noch keine Null bin, d. h. mich noch nicht in eine Null verwandelt habe, daß ich dann lebe – und folglich kann ich mich dann noch ärgern, kann ich noch leiden, und wegen meiner Handlungen Scham empfinden. Schön. Meinetwegen. Aber wenn ich mich, zum Beispiel, nach zwei Stunden töte, was ist mir dann dieses kleine Mädchen und was geht mich dann die Scham an und überhaupt die ganze Welt? Ich verwandle mich in eine Null, in eine absolute Null. Und konnte denn wirklich die Erkenntnis, daß ich alsbald überhaupt nicht mehr sein würde, folglich aber auch sonst überhaupt nichts mehr sein würde, weder auf das Gefühl des Mitleids mit dem kleinen Mädchen, noch auf das Gefühl der Scham nach der begangenen Rohheit nicht den geringsten Einfluß haben? Nur deswegen stampfte ich doch mit dem Fuß und schrie ich das arme Kindchen so wütend an, weil ich zeigen wollte, daß ich – nicht nur kein Mitleid empfinde, sondern auch die unmenschlichste Rohheit begehen kann, da nach zwei Stunden alles erlöschen und es dann nichts mehr geben wird. Werden Sie es mir glauben, daß ich sie deswegen anschrie? Ich bin jetzt fest überzeugt davon. Es war mir in jenem Augenblick vollkommen klar, daß das Leben und die Welt gleichsam nur von mir abhängen. Ja, ich kann es sogar so sagen: daß die Welt jetzt gleichsam nur für mich allein geschaffen ist – erschieße ich mich, so hört die Welt auf zu sein, wenigstens für mich. Ganz abgesehen davon, daß es vielleicht auch wirklich für niemanden mehr etwas nach mir geben wird, und die ganze Welt, sobald nur meine Erkenntnis erlischt, gleichfalls wie eine Vision vergeht, wie ein Attribut bloß dieser meiner Erkenntnis, und sich aufhebt: denn vielleicht ist diese ganze Welt und sind alle diese Menschen – nur ich selbst ganz allein. Ich weiß noch, daß ich diese neuen Fragen, die sich eine nach der anderen herandrängten, in das Entgegengesetzte umkehrte und mir etwas ganz Neues ausdachte. Das war, als ich in meinem Lehnstuhl saß und grübelte. So kam mir u. a. plötzlich auch ein sonderbarer Gedanke: wenn ich, zum Beispiel, früher auf dem Monde oder auf dem Mars gelebt und daselbst irgend eine unglaublich ehrlose, schändliche Tat begangen hätte, die schändlichste, die man sich nur denken kann, und wenn ich dort für diese Tat so beschimpft und entehrt worden wäre, wie man es sich höchstens im Traum zuweilen vorstellen, unter einem Alpdruck fühlen kann, und wenn mich dann auf der Erde die Erinnerung an das, was ich auf dem anderen Planeten getan, nicht verlassen und ich außerdem noch wissen würde, daß ich niemals mehr, unter keinen Umständen auf jenen anderen Planeten zurückkehren werde, so, frage ich mich, würde mir dann, wenn ich von der Erde aus auf den Mond blickte, – alles einerlei sein oder nicht? Würde ich mich dann dieser meiner Tat schämen oder nicht? Die Fragen waren müßig und überflüssig, da der Revolver schon vor mir auf dem Tisch lag, und ich mit meinem ganzen Wesen wußte, daß es bestimmt geschehn würde – aber sie regten mich auf und ich ärgerte mich. Es war mir, als könnte ich nicht mehr sterben, bevor ich nicht etwas – Unbestimmtes gelöst hatte. Kurz, dieses kleine Mädchen rettete mich, denn durch die Fragen schob ich den Tod auf. Beim Hauptmann im Nebenzimmer wurde es mittlerweile still: sie hatten ihr Kartenspiel beendet und richteten sich zum Schlafen ein, inzwischen aber brummten sie noch oder schimpften schlaftrunken zu Ende. Und da geschah es denn, daß ich plötzlich einschlief, was mit mir sonst noch nie vorgekommen war: am Tisch im Lehnstuhl. Ich schlief, mir vollkommen unbewußt, ein.
Träume sind bekanntlich eine äußerst sonderbare Sache: das Eine sieht man mit erschreckender Deutlichkeit, mit schmuckstückhafter Ausarbeitung der Einzelheiten, anderes dagegen übergeht man fast ganz, als ob es überhaupt nicht vorhanden wäre, so z. B. Raum und Zeit. Ich glaube, Träume träumt nicht die Vernunft, sondern der Wunsch, nicht der Kopf, sondern das Herz, und doch: welch komplizierte Dinge überwand meine Vernunft zuweilen im Traum! Ganz unbegreifliche Dinge! Zum Beispiel: mein Bruder ist vor fünf Jahren gestorben, ich sehe ihn aber sehr oft im Traum: er nimmt Anteil an meinen Interessen, wir sprechen sehr sachlich über alle möglichen Dinge, währenddessen aber weiß ich doch die ganze Zeit über genau und vergesse es keinen Augenblick, daß mein Bruder schon tot und längst begraben ist. Wie kommt es aber, daß ich mich nicht im geringsten über sein Erscheinen wundere? Daß der Tote neben mir sitzt und mit mir spricht? Warum läßt meine Vernunft so etwas ruhig zu? Doch genug. Ich komme jetzt zu meinem Traum. Ja, damals hatte ich jenen Traum, meinen Traum vom dritten November! Jetzt necken Sie mich damit, daß es ja doch nur ein Traum gewesen ist. Aber ist es denn wirklich nicht ganz gleichgültig, ob es ein Traum gewesen ist oder nicht, wenn nur dieser Traum mir die Wahrheit offenbart hat? Denn wenn man einmal die Wahrheit erkannt, sie nur einmal gesehn hat, so weiß man doch, daß sie die einzige Wahrheit ist und es außer ihr eine andere überhaupt nicht mehr geben kann, einerlei ob man schläft oder lebt. Nun gut, mags ein Traum sein, meinetwegen, aber dieses Leben, das Ihr so preist, wollte ich mit einem Selbstmord von mir werfen, mein Traum aber, mein Traum – oh, mein Traum offenbarte mir ein neues, großes, wundervolles Leben!
Hört.