Zur Einführung.
Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt • 第6章
Bemerkungen über Dostojewski als Dichter der Großstadt.
Die Großstadt ist der Kampfplatz des modernen Lebens, sie ist die große Siegesstätte und zugleich die große Schädelstätte der modernen Menschheit. Auch wenn man die Großstadt vor dem allgemeinen Hintergrund des ganzen Volkes sieht und sich durchaus darüber klar ist, daß die nährenden, die schöpferischen Kräfte gerade des Lebens unserer Zeit nach wie vor im Lande liegen, in dem weiten, breiten, fruchtbaren Schooß der vielen Millionen, gegen die auch die größte Großstadt doch immer nur einen Bruchteil aufzuweisen hat – auch dann bleibt die Großstadt doch noch etwas ganz Besonderes. Sie zeigt Seiten des modernen Lebens doppelt charakteristisch ausgeprägt. Sie ist das Musterbeispiel aller neuen Erfindung und Erfahrung. Sie ist gleichsam die zivilisatorische Versuchsstation der Epoche, der Schmelzofen der Werte, das Bassin des Erdenkraters, aus dem die Erde ihre neuen Menschen und Werke dichter, gedrängter herausschleudert. Draußen auf dem Lande geht die schwere, ruhige, gleichmäßige Weiterentwickelung der Nation vor sich, erneut sich ihr unerschöpflicher Menschen- und Kräftereichtum, der das Ganze zusammenhält und immer wieder spendet und spendet. Drinnen in der Großstadt aber werden die Kämpfe der Zeit ausgefochten, spitzen die Probleme sich zu, finden ihre Lösung oder brechen aus im Konflikt. Hier wird jene Nähe aller Ferne am deutlichsten empfunden, die wir den modernen Verkehrsmitteln verdanken. Hier liegt die Kreuzung aller Züge, der Treffpunkt aller Wege, der Austausch von Völkern und Erdteilen. Hier strahlt das elektrische Licht heller als anderswo, hier ist auch in der Nacht unausgesetzt Tag, hier stehen Arbeit und Genuß, Not und Glanz samt allen Lastern der Zeit am gefährlichsten nebeneinander. Die Menschen der Großstadt haben etwas voraus vor anderen Menschen, sie sind Pioniere und Märtyrer zugleich, die die überraschenden Wandlungen mit vermehrter Nervenanspannung aushalten mußten. Generationen auf Generationen wurden in der Großstadt eingesetzt, Lücken wurden gerissen und Opfer gebracht, und doch fanden sich immer wieder Neue, die kühn in das Unbekannte der modernen Kultur vordrangen, die wir alle suchen. Gewiß wird unsere Kultur dereinst von dem ganzen Lande gelten, von jedem Gau, dessen Menschen an ihr mitgearbeitet haben. Vielleicht werden sogar ihre tiefsten und mächtigsten Werke, diejenigen welche dann über die ganze Welt sich erstrecken und das Ewige ausdrücken, ursprünglich aus den stillen Winkeln irgend einer engeren Heimat kommen – aber die eigentlichen Kulturformen, die modernen Kunstformen, die neuen Stilformen werden doch immer und überall in irgend einer Weise diejenigen sein, welche die Großstadt zuerst als Lebensformen ausgebildet hat.
In die moderne Dichtung hat sich der Gegensatz von Land und Großstadt früh schon hineingezogen; nirgendwo schärfer als dort, wo der Gegensatz auch im Leben heftig und unvermittelt einsetzte: als in Rußland und der russischen Dichtung. Beinahe unmittelbar lösten hier patriarchalische Verfassung und moderne, europäische Kultur einander ab. Beinahe übergangslos folgten hier Vergangenheit und Zukunft auf einander, indes keine oder doch nur eine halbe, unausgesprochene, zerrissene Gegenwart da war, die vermitteln konnte. Es wurde der Gegensatz von Tolstoi und Dostojewski. Beide wuchsen durch ihn zu monumentalen Erscheinungen aus. Der eine, indem er die ganze robuste Volks- und Urkraft in sich aufspeicherte, die im flachen Lande, im Leben des russischen Bauern und des russischen Landadels liegt, und die er dann in seinen Romanen in Kapiteln vorführte, die fast die Ruhe und den Fluß homerischer Gesänge hatten. Und der andere, indem er all das Fieber aufnahm, das von der Stadt Peters des Großen aufstieg, und all das Grauen und den Wahnsinn, all den Schmerz und das Elend versammelte, die das Leben ihrer neuen Menschen erfüllen. Monumentalität ist immer in irgend einer Weise Überpersönlichkeit, ist Ausdruck nicht so sehr des einzelnen Dichters, als Ausdruck des massiven Lebens der Vielen, der Menge, des ganzen Volkes, oder doch eines bestimmten und immer eines beträchtlichen Teiles desselben. Die Monumentalität Tolstois wie Dostojewskis ist von dieser Art. Nur das ist der Unterschied, daß die Monumentalität der Natur, vor der wir bei Tolstoi stehen, im Grunde wieder die alte, große, ewige ist, während die Monumentalität der Großstadt, die Dostojewski erreichte, ein Neues, Kühnes, Unerhörtes war. Wir wußten bereits, daß die ewigen Wahrheiten starker und gesunder Liebe monumental gestaltet werden konnten, die großen Verhältnisse von Herr und Knecht, die von allen Zeiten gelten, die schlichten einfachen Daseinsbeziehungen schlichter einfacher Menschen, die so riesig wirken, weil sie das gerade herausgegriffene Beispiel von Millionen sind. Aber wir wußten noch nicht, daß auch aus dem modernen Leben, all seinen ungewohnten Verhältnissen, absonderlichen Menschen, seltsamen Schicksalen, all seinen ungeahnten Tragödien und unheimlichen Problemen diese gewaltigen Wirklichkeitsfresken zu malen waren. Eine Monumentalität der modernen Großstadtdichtung: die gibt es erst von Dostojewski an.
Wohl haben auch die Dichter anderer Länder die Großstadt geschildert. Man könnte vor allem an Amerika denken, wo sich der Übergang von dem patriarchalischen Leben, das dort die Kolonisten führten, zur modernen Zivilisation, wenn auch im Einzelnen natürlich unter ganz anderen Lebenserscheinungen, ähnlich rapid vollzog wie in Rußland. Doch die amerikanischen Großstädte, die in ihrer kalten Klarheit der Anlage und bei dem ungeheuren Raum, der für ihre noch immer weitere Ausdehnung vorhanden ist, immer mehr ins Riesenhafte wachsen, scheinen nicht von einer schildernden, sondern nur von einer peripherischen, fast möchte man sagen einer geographischen Phantasie erfaßt werden zu können. Deshalb näherte sich ihnen Walt Whitman nur von Ferne, wie ein greiser Seher, der die Hand über die Augen hob und die Stätte der Menschen schaute. Weit, weit am Horizont liegen bei ihm Boston und Newyork, dazu unter indianischem Namen, obwohl gerade Walt Whitman sonst das moderne Wort nicht scheut, und nur selten führt er, wenn er die Städte auch liebt und preist, bis hin in ihre Straßen. Poe dagegen, der in diesen Städten leben mußte, ging an ihnen zu Grunde, als der einzelne Schwärmer, der ihrem Leben nicht gewachsen war. Doch hat gerade Poe einmal, im „Mann der Menge“, den Geist der Großstadt symbolisch gefaßt wie ein wandelndes Gespenst und eine Geschichte aus ihr gebildet, die ihr mächtiger Ausdruck sein wird, solange es eine Großstadt gibt. Nur war Poe deshalb noch nicht monumental in dem Sinne, wie es Dostojewski, der Großstadtschilderer, ist. Zwar könnte man schon, im Vergleiche des Menschlichen, in Walt Whitman einen amerikanischen Tolstoi und in Poe einen amerikanischen Dostojewski sehen. Auch Poe ist der Mensch, der unter der Großstadt leidet, obwohl er beinahe nur in ihr leben kann, der Mensch der nervösen, tragischen, kataleptischen Seele. Aber künstlerisch fehlt doch jene Allgemeingültigkeit, die Dostojewski so groß macht, seine Erscheinung bleibt problematisch und statt Schilderung ist alles Bekenntnis. Hinzukommt, daß Poe den Großstadtmenschen fast durchweg romantisch verkleidete. Seine Novellen sind wie Träume eines Mannes, der mitten in grauer und ihn schreckender Wirklichkeit steht und sich hinüberphantasiert in reinere Gefilde. Darin zeigte sich noch der Byronismus in Poe, während Dostojewski in Rußland Byronismus und Romantik mit Puschkin schon erledigt fand. Immerhin verspürt man bei Poe, nicht aus gewaltiger Ferne, wie bei Walt Whitman, sondern aus unheimlicher Nähe, etwas von dem Geist der modernen Großstadt. Nur braucht es nicht unbedingt die amerikanische Großstadt zu sein: nicht das Pionierhafte, nur das Gespenstische des Amerikanertums hat Poe begriffen, und bezeichnend ist, daß gerade sein „Mann der Menge“ von ihm nach London verlegt wurde. England selbst, dem die romantische, die allegorisch-mystische, prärafaelitische Hälfte von Poes Seele noch angehörte, hat überhaupt keine Großstadtkunst hervorgebracht, obwohl es in London früh schon, bereits im siebzehnten Jahrhundert, eine Stadt mit modernem Großstadtcharakter ausbildete und im alten Defoe auch schon einen kräftigen Großstadtschilderer, den ersten modernen überhaupt, bekam. Aber auf Defoe folgte kein ebenbürtiger Gestalter mehr, nur noch platte und rührselige Skribenten. Selbst Dickens ist schließlich nur ein Unterhaltungsschriftsteller, kein Künstler, und Wilde, der eher ein Künstler war, ist gerade als Großstadtschilderer nur eine Wiederholung von Poe. Nicht ganz so versagte Frankreich vor dem Problem der Großstadtschilderung. Zwar ist Paris gar keine eigentliche und einheitliche Großstadt, sondern eine Metropole, die zusammengesetzt ist aus alten und neuen, bald beinahe romantischen, bald bourgoisen, bald mondainen Quartiers und Faubourgs. Aber von den Lyrikern waren doch Verlaine und Rimbaud echte Großstadterscheinungen, und von den Romanciers hat Zola in gar manchem Roman wenigstens die Monumentalität einer Massenwirkung erreicht, wie es denn auch durchaus folgerichtig war, daß er vor dem Thema „Paris“ als Ganzem versagte, und sein Bestes immer nur in Ausschnitten gab, in Romanen, die er aus dem Leben der Künstlerwelt, der Hallen, der großen Magazine zog. An Deutschland dagegen scheint das Problem der Großstadtschilderung überhaupt noch nicht herangekommen zu sein. Man mag das mit dem engen Zusammenhang erklären, den der Deutsche nach wie vor zur Natur haben muß, wenn er schöpferisch sein soll. Jedenfalls haben unsere Persönlichkeiten, Liliencron, Dehmel, Hauptmann, Frenssen, die stärksten Wurzeln ihrer Kraft in der Heimat, im Rahmen der deutschen Landschaft. Nur Schlaf hat einmal den großangelegten Versuch gemacht, Berlin wenigstens als Panorama zu geben. Entziehen können wir uns dem Problem nicht. Wir sind nun einmal in unserem Leben wie kein zweites Leben das Volk der Großstädte. So werden wir es, bei der Wechselbeziehung zwischen beiden, auch in unserer Dichtung sein und irgend eine individuelle Lösung finden müssen. Im übrigen liegt die Schuld nicht so sehr an den Dichtern, als an unseren Großstädten selbst. Denn es hat einen inneren Grund, ob eine Großstadt ihren Dichter findet, und welchen, und wann. Die Städte bekommen ihren Dichter genau in dem Augenblick, in dem sie ihren Charakter bekommen. Es ist fast ein geschichtliches Zeugnis, das sich eine Stadt damit ausstellt, daß sie ihren Dichter hervorbringt. Sie zeigt damit an, daß sie herausgetreten ist aus der Periode der Vorbereitung, und von nun an als ein geschlossenes Ganzes betrachtet werden kann. Unsere deutschen Städte aber sind noch nicht fertig, selbst Berlin ist es noch nicht. Eine große Bestimmung liegt vor ihnen. Einen ganz neuen Städtestil gilt es zu entwickeln, dem europäischen Kontinent die neue Welthauptstadt zu schaffen. Und da ist es denn klar, daß erst zusammen mit der Erfüllung dieser Bestimmung einer Stadt wie Berlin ihr Dichter erscheinen wird. So bleibt, wie seltsam es klingen mag, vorläufig Rußland das einzige Land, in dem Großstadt und Dichter sich bereits zusammengefunden haben – Petersburg und Dostojewski.
Petersburg ist die Tragödie Rußlands, und diese Tragödie hat Dostojewski ausgedrückt. Man kann nicht sagen, daß Petersburg einen bestimmten Charakter habe, und erst recht hat es, ganz ungleich Moskau darin, keinen bestimmten Stil. Petersburg ist verkörperte, Stadt gewordene Idee. Wenn man seinen Charakter suchen wollte, so würde man ihn finden in einer ewigen Unfertigkeit, und seinen Stil in einer rein äußerlich bleibenden Einbeziehung so ziemlich sämtlicher Stile. Petersburg ist etwas anderes: Petersburg ist Geist, Problem, Phantasie. Auf eine Idee hin wurde es von Peter dem Großen aufgebaut, mitten in den Sumpf hinein, eine sozusagen befohlene Stadt, die nur die politische Berechtigung hatte, daß durch sie Rußland an die Ostsee gebracht wurde, und die alsbald mit einem Heer von Hofbediensteten, Staatsarbeitern, Beamten, Offizieren pöpliert wurde. Solange Petersburg im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert kaum mehr als eine große Residenz war, mochte Rußland sich bei dieser Schöpfung beruhigen, obwohl die Rivalität mit Moskau früh schon bedenkliche Formen annahm. Gefährlich, verhängnisvoll wurde die Stellung Petersburgs erst, als im neunzehnten Jahrhundert Rußland immer entschiedener in die Reihe der europäischen Großmächte hineindrängte, als Petersburg jäh aufschoß, in eine für Rußland zunächst unnatürliche moderne Entwicklung hineingezogen wurde und gleichfalls seinen Platz unter den europäischen Großstädten beanspruchte. Von da an war an Petersburg Alles dunkel und ungewiß. Ungewiß war jetzt nicht mehr bloß der schwankende Wassergrund, auf dem es ruht und in den es jeden Augenblick versinken kann. Ungewiß war seine ganze Zukunft, seine kulturelle, seine politische. Jetzt zeigte sich, wie das russische Volk an Petersburg litt. Wohl ist es seine offizielle Hauptstadt, doch das russische Volk drängt nach Moskau, der alten organischen, zurück, und noch über Moskau hinaus. Rußland sucht erst seine wahre Hauptstadt, wie es seine politische Form erst sucht. Möglich, daß Rußland groß erst werden wird, wenn der Nationalitätenkoloß, der es heute ist, dereinst auseinanderfällt und aus ihm ein reines Rußland reiner Russen hervorgeht. So steht ganz Rußland in einem Übergang, und die Stadt dieser Übergangszeit ist Petersburg. Es kann sterben, wie Ravenna und Brügge gestorben sind, es kann auch noch immer weiter wachsen – es wird stets etwas Beängstigendes, Verhängnisvolles, Unseliges über sich haben. Nicht anders als so, in dieser Mystik von Nebel, Tod und Schrecken, hat es Dostojewski aufgefaßt. Sein Petersburg, das ist das Fatum des ganzen Landes und Volkes, das ist das Rußland, das bei sich zu Hause Europa kopiert, das Rußland, das da Weltmacht sein will und doch immer wieder darauf gestoßen wird, daß es nur eine russische, eine slawische Bestimmung hat, das Rußland, das die glänzendste Aristokratie, die ausgebildetste Bürokratie besitzt und zugleich draußen im flachen Lande viele, viele Millionen, die nicht lesen und nicht schreiben können, und die doch zugleich seine treueste, seine fast unsterbliche seelische und auch körperliche Kraft sind. Jedenfalls ist es gerade die ihm geschichtlich aufgezwungene russische Rolle, die so tragisch an Petersburg ist. Die „künstlichste und abstrakteste“ Stadt hat Dostojewski Petersburg genannt, und tragisch hat er es geschildert.
Man kann Großstadt auf zweierlei Weise schildern: als Ort und Stimmung, malerisch gleichsam, und in den Menschen, psychologisch. Dostojewski hat beides getan. Sein Petersburg, das ist wirklich die kalte nordische Stadt mit den Farben schneeweiß und feuchtgrau, deren Winter acht Monate währt und über der dann die Sonne nur selten steht, hängend, wie ein blaßroter Schwamm, ohne Strahlen, und deren helle Frühlingsnächte sehnsüchtig und verträumt wie die Jugend Petersburgs selbst zu sein scheinen. Auf diesem vagen gespensterhaften Hintergrunde hat Dostojewski das Leben der Großstadt geschildert, ihr gewaltiges Hin und Her, ihren ungeheuren Lärm, und doch die furchtbare, die unheimliche Stille wiederum mitten im Geräusch. Aber dann war Dostojewski doch vor allem ein Menschenschilderer. Die Menge der Typen, Silhouetten, Physiognomien, die er in seinem Gesamtwerk vorführt, ist endlos, unzählbar, unübersehbar. Aus jedem Hause Petersburgs scheint eine Gestalt herauszugehen, die wir kennen lernen. Einmal, in der Figur des Raskolnikoff, hat er den Helden ihrer furchtbaren moralischen Kämpfe und Krisen gefunden. Andere Gestalten in anderen Werken ergänzen ihn. Wir sehen von ihnen einen ganzen Zug tragischer Jünglinge, deren Gestalten schließlich in der Ferne Sibiriens verschwinden. Und um die Jünglinge gruppieren sich die Frauen, Studentinnen, Heldinnen, die, wenn es nottut, für ihre Idee zu sterben wissen. Schwer dazwischen schieben sich die dicken Figuren von Spießbürgern. Offiziere und Beamte, hohe und niedere, anmaßende und gedrückte, lernen wir kennen. Dazu die Menge der Verkommenen einer Großstadt, der Gescheiterten und Verlorenen aller Art, der Menschen, Männer und Frauen, mit dem oft tief rührenden zersprungenen Klang auch in Not noch und Schande. Als eine Übergangsstadt hat Dostojewski Petersburg geschildert, von Übergangsmenschen bewohnt, von vielen, vielen Unglücklichen, Suchenden, Irrenden, die mitten in Rußlands Hauptstadt aus Rußland wie verbannt zu sein scheinen und den Sinn ihres Lebens, so sehr sie auch suchen mögen, nicht finden können. Dostojewski hat damit die Großstadt überhaupt geschildert. Denn sind die Großstadtmenschen nicht alle in irgend einer Weise Übergangsmenschen, vielleicht nicht so verzweifelte, aussichtslose, doppelt scharf und unheilvoll ausgeprägte wie in Rußland, aber doch immer solche, heute wenigstens und fürs erste, die noch nicht den Punkt gefunden haben, auf dem sie zu stehen vermögen? und den Platz noch nicht, auf dem sie ruhig leben und arbeiten können?
Woher wird die Erlösung für alle diese Menschen kommen? Irgendwoher muß sie kommen, das hat auch Dostojewski gewußt, und im Grunde handelt sein ganzes mächtiges Werk von nichts als den Erlösungsmöglichkeiten der Menschheit. Er hat verschiedene Antworten gegeben, er hat oft an das flache Land gedacht, an die Rückkehr zur Natur, zur Rasse und dem schlichten starken Gott der Väter. Aber schließlich weiß er doch immer wieder zu sagen, und dadurch unterscheidet er sich von Tolstoi, daß gerade aus der Großstadt, aus all ihrem Leid und Wirrsal, durch das wir nun einmal hindurch müssen, nachdem wir es uns selbst geschaffen, die Erlösung für uns kommen wird, daß gerade aus diesen blassen und eilenden Menschen, die grau in grau durch die feuchten asphaltierten Straßen ziehen, sich eines Tages, wenn die Not zu gewaltig, unerträglich geworden ist, die Gestalt eines neuen Heilandes für uns ablösen wird. Für Tolstoi und seine Bauern genügte Christus, derselbe Christus, den wir nun schon seit zwei Jahrtausenden aus der Überlieferung kennen. Auch Dostojewski denkt an Christus, er hat selbst ein Buch über Christus schreiben wollen, und vielleicht wäre er der einzige Mensch gewesen, der es je gekonnt hätte. Aber wenn Dostojewski von Heil und Erlösung spricht, so ist es doch stets die Gestalt eines neuen, eines russischen, eines modernen Christus, hervorgegangen aus dem Leben der Menschen von Heute. Dostojewski hat nicht zu allegorischen oder symbolischen Mitteln zu greifen brauchen, um diesen Zug zur Erlösung auszudrücken, der durch unsere Zeit geht. Die Wirklichkeit, die ihn umgab, genügte ihm durchaus. Gar mancher unscheinbare Mensch, den er schilderte, trägt bereits Heilandszüge, und aus seinem ganzen Werke steigt es schon auf wie Tod und Verklärung gerade der Großstadt.
Moeller van den Bruck.