Erster Teil. Das Dunkel.[1]

Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第9章

Erster Teil. Das Dunkel.[1]

I.

Ich bin ein kranker Mensch ... ein schlechter Mensch ... Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, ich bin leberleidend. Übrigens habe ich mir von meiner ganzen Krankheit noch nie einen rechten Begriff machen können; ja, genau genommen weiß ich überhaupt nicht, was in mir denn eigentlich krank sein könnte. Für meine Gesundheit tu ich nichts, wenn ich auch sonst vor der Medizin und sogar vor den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch fabelhaft abergläubisch – als Beweis dafür dürfte schon diese meine Hochachtung vor der Medizin genügen. Ich bin genügend gebildet, um nicht abergläubisch zu sein, trotzdem aber bin ich es, wie gesagt. Nein, meine Herren, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht es einfach nur aus Bosheit. Nun, das z. B. werden Sie bestimmt nicht verstehen können. Ich aber, ich verstehe es vorzüglich! Ich kann es Ihnen natürlich nicht so ganz klar machen, wem ich denn eigentlich in diesem Falle mit meiner Bosheit etwas antun will. Ich weiß auch ganz genau, daß die Doktoren nichts verlieren, wenn ich mich nicht von ihnen behandeln lasse, – oh, ich weiß es selbst am allerbesten, daß ich damit nur mir allein schade und sonst niemandem. Trotzdem aber – wenn ich mich nicht kuriere, so geschieht es doch nur aus Bosheit. Also das Leberchen schmerzt? Na, so schmerz nur noch mehr, wenn du kannst!

... Ich lebe schon lange so, – zwanzig Jahre. Jetzt bin ich vierzig. Früher hatte ich eine Anstellung in einer Kanzlei; jetzt aber nicht mehr. Ich war ein boshafter Beamter. Ich war roh – und das freute mich. Da ich keine Sporteln nahm, mußte ich mich eben auf eine andere Weise entschädigen. – Hm, fauler Witz, aber ich streiche ihn nicht aus. Als ich ihn schrieb, glaubte ich, er würde sich geistreich ausnehmen, doch jetzt, da ich selbst einsehe, daß er dumm ist, streiche ich ihn erst recht nicht aus! –

... Saß ich an meinem Pult und trat jemand zu mir – meistens Bittsteller mit Anfragen –, so fuhr ich sie zähneknirschend an und fühlte labende Genugtuung, wenn es mir gelang, jemanden einzuschüchtern – und es gelang mir fast immer: wir wissen ja, – zaghaftes Volk, diese Bittsteller. Doch gab es da unter den dreisteren einen Offizier, den ich ganz besonders haßte. Er wollte sich für keinen Preis einschüchtern lassen und rasselte geradezu unverschämt mit seinem Säbel. Dieses Säbels wegen habe ich anderthalb Jahre lang mit ihm Krieg geführt. Endlich besiegte ich ihn: er ließ das Rasseln. Doch das war noch in meiner Jugend. Aber wissen Sie auch, meine Herren, worin gerade meine Hauptwut bestand? Das war ja der ganze Jammer, darin lag ja gerade die größte Gemeinheit, daß ich in jeder Minute, in jeder Sekunde, im Augenblick meiner stärksten Wut mir schmachvoll selbst eingestehen mußte, daß ich nicht nur kein boshafter, sondern nicht einmal ein böser Mensch bin, daß ich ganz umsonst nur Spatzen schrecke und damit mich selbst zu trösten suche. Schaum steht mir vor dem Munde – doch bringt mir ein Püppchen oder gebt mir ein Zuckerstückchen und ich werde mich höchstwahrscheinlich sofort beruhigen. Werde sogar ganz windelweich werden ..., wenn ich mich auch nachher am liebsten selbst zerfleischen würde und vor Schande Monate lang schlaflose Nächte habe ... Ich bin nun einmal so.

Das habe ich übrigens vorhin gelogen, daß ich ein boshafter Beamter gewesen sei. Aus Bosheit hab ich’s gelogen. Das mit den Bittstellern und dem Offizier war einfach nur Eigensinn, – in Wirklichkeit konnte ich überhaupt nicht böse werden. Wollte ich es aber, so fühlte ich im Augenblick über die Maßen viel entgegengesetzte Elemente in mir. Ich fühlte sie nur so wimmeln in mir, diese entgegengesetzten Elemente. Ich wußte, daß sie mein ganzes Leben lang in mir so wimmelten und mich baten, sie hinauszulassen, aber ich ließ sie nicht, ich ließ sie nicht, absichtlich ließ ich sie nicht hinaus! Sie quälten mich bis zur Scham, bis zu Krämpfen brachten sie mich, und ach Gott! ich wurde ihrer schließlich so überdrüssig, so maßlos überdrüssig! Oder glauben Sie vielleicht gar, meine Herren, daß ich hier irgend etwas bereue – vor Ihnen? daß ich für irgend etwas Ihre Verzeihung erbitte? ... Ich bin überzeugt, daß Sie das glauben ... Doch, übrigens, versichere Ihnen, ’s ist mir ganz egal, was Sie da glauben ...

... Nicht nur, daß ich es nicht verstand, böse zu werden, – ich verstand überhaupt nichts zu werden: weder böse noch gut, weder ehrlich noch schlecht, weder Held noch Insekt. Und jetzt lebe ich in meinem Winkel, verspotte mich selbst, indem ich mich „böse“ nenne und mich mit dem überflüssigen Troste beruhige, daß ein kluger Mensch – im Ernst – überhaupt nicht irgend etwas werden kann, sondern nur ein Pinsel etwas wird. Ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muß, ja, ist sogar moralisch verpflichtet, ein im wahrsten Sinne des Wortes charakterloses Wesen zu sein. Ein Mensch jedoch mit einem Charakter, ein Tatmensch, muß – im vollsten Sinne des Wortes beschränkt sein. Dieses ist meine vierzigjährige Überzeugung. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt; aber vierzig Jahre – das ist doch das ganze Leben, das ist doch das höchste Alter! Über vierzig Jahre zu leben ist unanständig, ist gemein, trivial, ist unsittlich! Wer lebt denn heutzutage noch über vierzig Jahre? – antwortet aufrichtig, ehrlich. Ich werde es Euch sagen, wer noch über vierzig lebt: Dummköpfe und Spitzbuben leben! Das sage ich allen Greisen ins Gesicht, allen diesen ehrwürdigen Greisen, allen diesen silberhaarigen, ehrwürdigen Greisen! Sage es der ganzen Welt ins Gesicht! Ich habe das Recht, das zu sagen, denn ich werde selbst bis sechzig leben. Bis siebzig werde ich leben! Bis achtzig werd ich leben! ... Wartet! Die Luft geht mir aus, ... laßt mich erst wieder zu Atem kommen ...

Sie denken bestimmt, meine Herren, daß ich Sie belustigen will? Dann irren Sie sich aber sehr. Ich bin durchaus kein so lustiger Mensch, wie es Ihnen scheint oder wie es Ihnen vielleicht auch nicht scheint. Übrigens, wenn dieses Geschwätz Sie ärgert – ich fühle es ja, daß Sie schon gereizt sind – so werden Sie mich vielleicht fragen wollen, wer ich denn eigentlich bin? – Gut, ich will Ihnen die Antwort nicht schuldig bleiben: ich bin Kollegienassessor. Ich war Beamter, um nicht zu verhungern – und zwar einzig aus diesem Grunde. Als mir aber im vorigen Jahre einer meiner entfernten Verwandten testamentarisch sechstausend Rubel hinterließ, trat ich sofort aus dem Dienst und siedelte mich hier in meinem Winkel an. Auch früher schon lebte ich hier, jetzt aber habe ich mich endgültig in diesem Winkel angesiedelt. Mein Zimmer ist ein elendes, scheußliches Nest. Meine Aufwartefrau ist ein Weib vom Lande, ein altes, das vor Dummheit wütend geworden ist und zudem noch unausstehlich riecht. Man sagt mir, das Petersburger Klima sei mir schädlich, und Petersburg für meine kümmerlichen Mittel viel zu teuer. Das weiß ich selbst ganz genau, weiß es hundertmal besser als diese erfahrenen und überklugen Ratgeber. Aber ich bleibe in Petersburg: ich fahre nicht fort! Ich fahre darum nicht fort, weil ... Ach! Das ist doch wirklich gleichgültig, ob ich nun fortfahre oder nicht fortfahre.

Übrigens, bei der Gelegenheit noch eine Frage: Worüber kann ein anständiger Mensch zu jeder Zeit mit dem größten Vergnügen reden?

Antwort: Über sich selbst.

Nun, dann werde auch ich über mich selbst reden.

II.

Meine Herren, jetzt will ich Ihnen erzählen – einerlei ob Sie hören wollen oder nicht –, warum ich nicht einmal ein Insekt zu werden verstand. Versichere Ihnen feierlichst: schon mehrere Mal wollte ich ein Insekt werden. Doch selbst dazu langte es nicht. Meine Herren, ich schwöre Ihnen, daß allzuviel erkennen – Krankheit ist, eine richtige, rechte Krankheit. Für den menschlichen Bedarf wäre eine gewöhnliche menschliche Erkenntnis übergenug, d. h. die Hälfte oder dreiviertel von der Dosis, die auf einen entwickelten Menschen kommt, einen Menschen unseres unseligen neunzehnten Jahrhunderts, und der zudem noch das doppelte wenn nicht dreifache Unglück hat, in Petersburg zu leben, der abstraktesten und künstlichsten Stadt der ganzen Welt. – Es gibt künstliche Städte und nichtkünstliche Städte. – Zum Beispiel würde vollkommen genügen, sagen wir, solch eine Erkenntnis, wie die, mit der alle sogenannten unmittelbaren Menschen, d. h. alle Tatmenschen leben. Ich könnte wetten, Sie glauben jetzt, daß ich dieses aus Anmaßung schreibe, um über die Tatmenschen zu witzeln – und noch aus einer Anmaßung, die geschmacklos ist –: lasse den Säbel rasseln, wie mein Offizier. Aber, meine Herren, wer brüstet sich denn mit seinen eigenen Gebrechen?

Übrigens, – was sage ich? Alle tun das: alle prahlen mit ihren Gebrechen und ich, na, ich meinetwegen mehr als sie alle zusammen. Streiten wir nicht darüber: meine Einwendung ist nicht stichhaltig. – Schön; aber trotzdem bin ich doch fest überzeugt, daß nicht nur sehr viel Erkenntnis, sondern sogar jede Erkenntnis – Gebrechen, Krankheit ist. Dabei bleibe ich. Aber lassen wir dieses Thema auf einen Augenblick. Sagen Sie mir lieber etwas anderes: wie kam es, daß ich, zum Beispiel, in denselben, ja, in denselben Minuten, da ich am allerfähigsten war, sämtliche Feinheiten „alles Schönen und Hohen“ zu erkennen, zuweilen so widerliche Sachen nicht nur erkennen, sondern auch begehen konnte, Sachen, sag ich Ihnen, die ... nun ja, mit einem Wort, die meinetwegen alle machen, die aber wie zum Trotz gerade dann von mir begangen wurden, wenn ich am klarsten erkannte, daß man sie eigentlich überhaupt nie tun sollte? Je mehr ich von der Erkenntnis des Guten und „alles Schönen und Hohen“ durchdrungen war, desto tiefer sank ich in meinen Morast und desto fähiger war ich, völlig in ihm unterzugehn. Doch das Auffallendste an dem war, daß all dieses gewissermaßen durchaus nicht zufällig geschah, sondern geradezu als müßte es genau so sein. Als ob das mein allernormalster Zustand gewesen wäre und durchaus nicht Krankheit oder Verderbtheit, sodaß schließlich die Lust in mir verging, gegen ihn noch anzukämpfen. Es endete damit, daß ich fast zu glauben begann – oder vielleicht glaubte ich es schon tatsächlich –, dieses sei sozusagen mein wirklicher normaler Zustand. Aber zuerst, am Anfang, wieviel Qual lag für mich in diesem Kampf! Ich glaubte nicht, daß es anderen ebenso erginge und verbarg dieses Geheimnis mein Leben lang. Ich schämte mich, und – vielleicht schäme ich mich sogar jetzt noch –. Es kam so weit, daß ich, wenn ich zuweilen in einer der ekelhaftesten Petersburger Nächte nach Haus in meinen Winkel zurückkehrte, einen gewissen – wie soll ich sagen? – geheimen, unnormalen, gemeinen Genuß oder einen angenehmen Kitzel empfand, mich krampfhaft zu zwingen, zu erkennen, – zu erkennen, daß ich auch heute wieder eine Gemeinheit begangen hatte, daß ich das Getane wiederum auf keine Weise ungeschehen machen konnte, und mich dann innerlich, heimlich deswegen zu nagen, zu nagen, wie mit Zähnen zu feilen, mir mein eigenes Blut auszusaugen, mich zu foltern, – so lange, bis sich die Bitterkeit allmählich in eine schändliche verfluchte Süßigkeit, in eine Wonne verwandelte und schließlich – in entschiedenen, wirklichen Genuß! Ja: in Genuß, in Genuß! Dabei bleibe ich. Deswegen habe ich doch überhaupt angefangen, davon zu sprechen, weil ich endlich genau wissen wollte, ob andere auch solche Genüsse haben? Warten Sie, ich werde es Ihnen ausführlicher erklären. Der Genuß liegt hier gerade in der allzu grellen Erkenntnis der eigenen Erniedrigung: in der Erkenntnis, daß man schon an der letzten Wand angekommen ist; daß man keine einzige Möglichkeit mehr hat, jemals noch ein anderer Mensch zu werden; daß, selbst wenn noch Zeit und Glaube übrig wären, sich in etwas anderes umzumachen, man sicherlich selbst dieses nicht wollen würde; wollte man es aber, so würde man es doch nicht tun, weil es im Grunde vielleicht nichts gibt, in was man sich ummachen könnte. Aber die Hauptsache und des Endes Ende ist, daß alles nach den normalen und fundamentalen Gesetzen angestrengten Erkennens vor sich geht und nach der Inertie, die sich unmittelbar aus diesen Gesetzen ergibt, folglich aber kann man sich hierbei nicht nur nicht ummachen, sondern kann hierbei überhaupt nichts machen. Es ergibt sich z. B. aus der angestrengten Erkenntnis: „stimmt, Du bist ein gemeiner Mensch“ – als ob das dem gemeinen Menschen eine Beruhigung sein könnte, wenn er schon selbst fühlt, daß er tatsächlich gemein ist. Doch genug ... Viel hab ich zusammengeschwatzt, was aber bewiesen? Wodurch erklärt sich hier dieser Genuß? Aber ich werde mich schon erklären! Ich werde es schon zu Ende führen!! Deswegen hab ich doch die Feder in die Hand genommen!

Meine Eigenliebe z. B. ist ganz furchtbar entwickelt. Argwöhnisch und empfindlich bin ich wie ein Krüppel oder ein Zwerg, aber – Hand aufs Herz – ich habe auch Augenblicke gehabt, in denen ich mich, wenn es geschehen wäre, daß mir jemand eine Ohrfeige gegeben, vielleicht darüber gefreut hätte. Nein, im Ernst: ich hätte bestimmt verstanden, auch darin einen Genuß zu finden, einen Genuß in seiner Art, versteht sich, einen Genuß der Verzweiflung, aber in der Verzweiflung sind ja gerade die tiefsten Genüsse, die heißesten Wonnen, besonders wenn man schon sehr stark die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkennt. Und hier, also bei der Ohrfeige, – hier erdrückt einen ja die Erkenntnis, bis zu welch einer Schmiere man Dich zerdrückt hat. Die Hauptsache jedoch, wie man es sich auch überlegt und wie man es auch überdenkt, es kommt doch immer heraus, daß man als Erster an allem selbst schuld ist und das kränkendste an der Sache – daß man ohne Schuld schuldig ist, sagen wir einfach: nach den Naturgesetzen. Erstens, weil man klüger ist als alle, die einen umgeben. (Ich habe mich immer für klüger gehalten als die, die mich umgaben und gar manches Mal – glauben Sie es mir – mich sogar dessen geschämt. Wenigstens habe ich mein ganzes Leben lang immer zur Seite gesehn, und niemals den Menschen gerade in die Augen blicken können.) Und zweitens, weil ich, selbst wenn ich großmütig gewesen wäre, durch diese Großmut nur noch mehr gelitten hätte, nämlich durch die Erkenntnis ihrer ganzen Nutzlosigkeit. Ich hätte doch bestimmt nichts aus ihr zu machen verstanden: weder zu verzeihen, denn der Beleidiger hat mir vielleicht naturgesetzmäßig die Ohrfeige gegeben, und den Gesetzen der Natur hat man nichts zu verzeihen, noch zu vergessen, denn wenn es auch hundertmal die Gesetze der Natur sind, so bleibt es doch immerhin beleidigend. Und selbst wenn ich mich am Beleidiger hätte rächen wollen, so würde ich mich doch für nichts und an niemandem gerächt haben, denn es wäre mir bestimmt unmöglich gewesen, den Entschluß zu fassen, etwas zu tun, selbst wenn ichs hätte tun können. Warum nicht? Ja, darüber will ich jetzt einige besondere Worte sagen.

III.

Wie geschieht es denn, zum Beispiel, bei Leuten, die es verstehen, sich zu rächen, und überhaupt – ihren Mann zu stehn? Wenn sie vom Rachedurst ergriffen werden, so bleibt ja von ihrem ganzen Wesen überhaupt nichts mehr übrig, außer diesem Gefühl. Solch ein Mensch schießt denn auch sofort wie ein wild gewordener Stier mit tiefgesenkten Hörnern auf das Ziel los, und höchstens eine Wand kann ihn dann noch zum Stehen bringen. (Bei der Gelegenheit sei es noch gesagt: vor der Wand ergeben sich solche Menschen, d. h. die Unmittelbaren- und Tatmenschen, widerspruchslos, vor der Wand „passen“ sie wie im Kartenspiel. Für sie ist die Wand keine Ablenkung wie z. B. für uns denkende und folglich tatlose Menschen, kein Vorwand, auf diesem Wege umzukehren – ein Vorwand, an den unsereiner gewöhnlich im Grunde selbst nicht glaubt, doch über den er sich stets ungemein freut. Nein, sie „passen“ vor ihr wirklich mit aller Aufrichtigkeit. Die Wand hat für sie stets etwas Beruhigendes, moralisch Entscheidendes und Definitives, meinetwegen sogar etwas Mystisches ... Doch von der Wand später.) Also gerade solch einen unmittelbaren Menschen halte ich für den wirklichen, normalen Menschen, wie ihn Mutter Natur selbst haben wollte, als sie ihn liebend aus der Erde gebar. Solch einen Menschen beneide ich bis zur grünsten Galle! Er ist dumm. Nun gut, darüber will ich mit Ihnen nicht streiten, vielleicht aber, wer kann’s denn wissen, muß jeder normale Mensch dumm sein? Vielleicht ist das sogar sehr schön. Und ich bin um so mehr zu diesem, sagen wir, Verdacht geneigt, als z. B. die Antithese des normalen Menschen, also der verstärkt erkennende Mensch, der natürlich nicht aus dem Schoße der Erde hervorgegangen, sondern aus der Retorte, dem Destillationstopf aller Chemikalien, entstanden ist, – das ist fast schon Mystizismus, meine Herren, aber ich nehme auch das als Tatsache an – wenn man also diesen Retortenmenschen nimmt, so „paßt“ er vor seiner Antithese zuweilen dermaßen, daß er sich selbst samt seiner ganzen verstärkten Erkenntnis gewissenhaft für eine Maus hält, nicht aber für einen Menschen. Mag das auch eine verstärkt erkennende Maus sein, so bleibt sie doch trotzdem eine Maus, jener aber ist ein Mensch und folglich auch das Weitere. Und die Hauptsache: er selbst, er selbst hält sich für eine Maus; niemand bittet ihn darum; das aber ist ein wichtiger Umstand. Betrachten wir nun diese Maus in der Tätigkeit. Nehmen wir zum Beispiel an, daß sie auch einmal beleidigt wird – und sie wird fast immer beleidigt – und sich gleichfalls rächen will. Wut kann sich in ihr vielleicht noch mehr ansammeln, als in einem homme de la nature et de la vérité. Das gemeine, niedrige Wünschchen der Maus, dem Beleidiger mit derselben Münze heimzuzahlen, kann vielleicht noch heißer in ihr sieden, als in diesem homme de la nature et de la vérité, denn l’homme de la nature et de la vérité hält bei seiner angeborenen Dummheit seine Rache allereinfachst für Gerechtigkeit. Die Maus jedoch verneint hierbei die Gerechtigkeit – infolge ihrer verstärkten Erkenntnis. Endlich kommt es zur Tat selbst, zum Racheakt. Die unglückliche Maus hat aber inzwischen außer der anfänglichen Gemeinheit schon soviel neue Gemeinheiten in Gestalt von Fragen und Zweifeln um sich herum aufgehäuft, hat an eine Frage so viele andere ungelöste Fragen angereiht, daß sich unwillkürlich um sie herum ein verhängnisvoller Brei bildet, ein stinkender Schmutz, der unbedingt entstehen muß aus diesen ihren eigenen Zweifeln und Peinigungen und schließlich auch aus dem Speichel, der auf sie von den unzähligen unmittelbaren Tatmenschen, die sie als Richter und Diktatoren in feierlichem Kreise umstehn und aus vollem Halse über sie lachen, niederfliegt. Selbstverständlich kann sie ja noch auf sie alle pfeifen, mit ihrem Pfötchen eine geringschätzige Gebärde machen und mit einem Lächeln vorgespielter Verachtung, an die sie selbst nicht glaubt, schimpflich in ihr Ritzchen zurückschlüpfen. Dort, in ihrem scheußlichen, stinkenden Winkel versenkt sich dann unsere beleidigte, zerschlagene und verhöhnte Maus alsbald in kalte, giftige – und vor allen Dingen – ewig andauernde Bosheit. Vierzig runde Jahre lang wird sie sich bis in die letzten, kleinsten, allerschmählichsten Einzelheiten der Beleidigung erinnern und dabei noch jedesmal von sich aus neue Details, noch schimpflichere, hinzufügen, wird sich fortwährend mit der eigenen Phantasie boshaft reizen und aufstacheln. Sie wird sich dieser Erinnerung schämen, trotzdem aber sich alles ins Gedächtnis zurückrufen, wieder alles von neuem erleben, sich Unerhörtes noch hinzudenken, unter dem Vorwand, daß dieses ja ebensogut hätte geschehen können – warum auch nicht? – und wird sich nichts, aber auch nichts verzeihen! Am Ende wird sie dann vielleicht auch anfangen, sich zu rächen, doch wird sie es immer irgendwie kleinlich tun, hinter dem Ofen hervor, inkognito; wird selbst nicht einmal weder an ihr Recht, sich zu rächen, noch an den Erfolg ihrer Rache glauben und im voraus wissen, daß unter allen ihren Racheversuchen sie selbst hundertmal mehr leiden wird, als der, an dem sie sich rächen will, ja, daß der sie vielleicht nicht einmal beachten wird. Auf dem Sterbebett wird sie sich wiederum des Ganzen erinnern und das noch mit allen in der Zwischenzeit angesammelten Prozenten ... Und gerade in dieser kalten, quälenden Halbverzweiflung, in diesem Halbglauben, in diesem bewußten Sich-vor-Leid-lebendig-begraben im dunkelsten Winkel des Kellers auf vierzig Jahr, in dieser verstärkt erkannten und immerhin doch teilweise zweifelhaften Aussichtslosigkeit der Lage, in diesem Gift unbefriedigter Wünsche, in diesem Fieber des Schwankens zwischen auf ewig gefaßten und nach einer Minute wieder aufgegebenen Entschlüssen – darin, gerade darin liegt ja der Saft dieses sonderbaren Genusses, von dem ich sprach. Dieser Genuß ist dermaßen fein und der Erkenntnis zuweilen so wenig zugänglich, daß nur etwas beschränktere Menschen oder sogar einfach Menschen mit starken Nerven überhaupt nichts davon verstehen können.

„Vielleicht können auch die nichts davon verstehen,“ denken Sie wohl soeben mit spöttischem Lächeln bei sich, „die niemals Ohrfeigen bekommen haben,“ und wollen mir auf diese Weise höflich zu verstehen geben, daß vielleicht auch ich in meinem Leben schon eine Ohrfeige ertragen habe und darum jetzt aus Erfahrung spreche. Ich könnte wetten, daß Sie das denken. Aber beruhigen Sie sich, meine Herren, ich habe niemals Ohrfeigen bekommen, obgleich es mir vollkommen einerlei ist, ob Sie das denken oder nicht. Ja, vielleicht bedauere ich es selbst noch, in meinem Leben wenig Ohrfeigen ausgeteilt zu haben. Doch genug, kein Wort mehr über dieses für Sie so ungemein interessante Thema.

Ich setze ruhig meine Erklärung fort – von den Menschen mit den starken Nerven, die besagte Feinheit des Genusses nicht verstehen. Diese Menschen beruhigen sich, wenn sie auch in manchen Fällen wie die Ochsen aus vollem Halse brüllen, und dieses ihnen meinetwegen auch die größte Ehre einlegt, so beruhigen sie sich doch sofort, wie ich schon bemerkt habe, vor der Unmöglichkeit. Die Unmöglichkeit – das ist die Wand! Was für eine Wand? Nun, versteht sich, die Naturgesetze, die Ergebnisse der Wissenschaft, der Mathematik. Und wenn man Dir gar beweist, z. B., daß Du vom Affen abstammst, so hast Du nichts mehr zu meinen, nimm es hin, so wie es ist. Oder wenn man Dir beweist, daß ein einziges Tröpfchen Deines eigenen Fettes Dir hunderttausendmal teurer sein muß, als die ganze Menschheit, und daß in diesem Resultat schließlich alle sogenannten Wohltaten und Pflichten und sonstigen Faseleien und Vorurteile gelöst werden, so nimm das nur ruhig an, ist ja nichts zu machen, denn, wie gesagt, zweimalzwei – Mathematik! Versuchen Sie zu widerlegen.

„Na, hören Sie mal!“ wird man Ihnen zuschreien, „das ist doch wie zweimalzwei = vier! Die Natur wird Sie nicht fragen; was gehen die Natur Ihre Wünsche an, und ob die Naturgesetze Ihnen gefallen oder nicht! Sie müssen die Natur so nehmen, wie sie ist, und folglich auch alle ihre Gesetze nebst allen Resultaten. Die Wand also bleibt Wand“ ... usw., usw.

Herrgott, was gehen aber mich die Gesetze der Natur und die Mathematik an, wenn mir aus irgend einem Grunde diese Gesetze und das zweimalzwei-ist-vier nicht gefallen? Versteht sich, ich werde solch eine Wand nicht mit dem Kopf einrennen, da ich ja auch tatsächlich nicht die Kraft dazu habe, aber ich werde mich ihnen doch nicht ergeben, bloß weil hier eine Wand ist und ich nicht genügend Kraft besitze!

Als ob solch eine Wand tatsächlich eine Beruhigung wäre, als ob sie irgend einen Trost enthielte, – einzig weil sie zweimalzwei = vier ist. Oh, Absurdität aller Absurditäten! Eine ganz andere Sache ist doch – alles verstehen, alles erkennen, alle Unmöglichkeiten und Steinwände; sich mit keiner einzigen dieser Unmöglichkeiten oder Wände aussöhnen, wenn es einem vor dem Aussöhnen ekelt; auf dem Wege der unumgänglichen logischen Kombinationen bis zu den allerwiderlichsten Schlüssen kommen – über das ewige Thema, daß man an der Steinwand irgendwie geradezu selbst schuldig ist, obgleich es wiederum bis zur Durchsichtigkeit augenscheinlich bleibt, daß man durchaus nicht schuldig ist – und infolgedessen schweigend und kraftlos zähneknirschend, wollüstig in der Inertie ersterben, mit dem Gedanken, daß man, wie es sich ergibt, nicht einmal einen Grund hat, sich über jemanden zu ärgern; daß überhaupt keine Ursache vorhanden ist und sich vielleicht auch niemals finden lassen wird, daß hier heimlicher Betrug ist, ein künstliches Aneinanderreihen von Tatsachen, Falschspielerei, einfach Brei, – unbekannt was, unbekannt wer, aber trotz all dieser Ungewißheiten und Täuschungen schmerzt es einen doch und je mehr einem unbekannt ist, desto mehr schmerzt es!

IV.

„Hahaha! Dann werden Sie ja auch an Zahnschmerzen Genuß finden!“ wenden Sie lachend ein.

„Warum nicht? Auch im Zahnschmerz ist Genuß,“ antworte ich. Einmal habe ich einen ganzen Monat Zahnschmerzen gehabt – ich weiß, wie das ist! Natürlich, hierbei erbost man sich nicht schweigend – man stöhnt. Doch ist es dann kein aufrichtiges, sondern ein schadenfrohes Gestöhn, aber in dieser Schadenfreude ist ja alles enthalten! Gerade in diesem Gestöhn drückt sich ja die ganze Wonne, der ganze Genuß des Leidenden aus: empfände er keinen Genuß, so würde er auch nicht stöhnen. Das ist ein gutes Beispiel, meine Herren, bleiben wir bei ihm. In diesem Stöhnen liegt erstens die ganze für Ihre Erkenntnis erniedrigende Zwecklosigkeit Ihres Schmerzes, die ganze Gesetzlichkeit der Natur, auf die Sie natürlich spucken können, doch durch die Sie trotzdem leiden, die Natur aber nicht. Zweitens, die Erkenntnis, daß kein Feind vorhanden, wohl aber der Schmerz vorhanden ist; die Erkenntnis, daß Sie zusammen mit allen möglichen Doktoren vollkommen Sklave Ihrer Zähne sind; daß, falls es irgend jemand will, Ihre Zähne nicht mehr schmerzen werden, wenn er es aber nicht will, sie noch weitere drei Monate schmerzen werden; und daß drittens, wenn Sie sich immer noch nicht ergeben und immer noch protestieren wollen, Ihnen zur eigenen Beruhigung nur noch übrig bleibt, sich selbst durchzuprügeln oder mit der Faust etwas schmerzhafter an Ihre Wand zu schlagen – sonst aber entschieden nichts. Nun, sehen Sie, – gerade von diesen Beleidigungen bis aufs Blut, von diesem Verspottetwerden, ohne zu wissen von wem, entsteht dann allmählich dieser Genuß, der oft bis zur höchsten Wollust steigen kann. Bitte, meine Herren, hören Sie doch einmal aufmerksam dem Gestöhn eines gebildeten Menschen des neunzehnten Jahrhunderts zu, wenn er Zahnschmerzen hat, doch schon so am zweiten oder dritten Tage, wenn er nicht mehr so stöhnt, wie am ersten Tage, d. h., nicht nur einfach, weil seine Zähne schmerzen, nicht wie irgend ein gewöhnlicher Bauer stöhnt, sondern wie ein Mensch, der von der Bildung und der europäischen Kultur durchdrungen ist – wie ein Mensch, „der sich vom Boden und dem Volke getrennt hat,“ wie man sich jetzt auszudrücken pflegt. Sein Gestöhn wird gewissermaßen gemein, boshaft und hält ganze Tage und Nächte lang an. Und er weiß es ja selbst, daß ihm dieses Stöhnen nicht den geringsten Nutzen bringt; weiß es selbst am allerbesten, daß er damit ganz umsonst sich wie auch die anderen nur ärgert und reizt; er weiß sogar, daß das Publikum, vor dem er sich solche Mühe gibt, seine Familie, ihm schon bis zum Widerwillen zugehört hat, ihm nicht für einen Pfennig glaubt und bei sich denkt, daß er doch anders, einfacher stöhnen könnte, ohne Läufer, Triller und Sprünge, daß er es nur aus Bosheit, aus Schadenfreude tut. Nun, gerade in diesen Erkenntnissen und Qualen liegt ja die Wollust! „Ich beunruhige Euch, zerreiße Euch das Herz, gönne keinem im Hause Schlaf! So wacht denn, bitte, fühlt mal mit, daß meine Zähne schmerzen! Jetzt bin ich für Euch nicht mehr der Held, der ich früher scheinen wollte, sondern einfach ein gemeines Menschlein, ein Chenapan. Nun gut! Freut mich sehr, daß Ihr mich durchschaut! Mein häßliches Gestöhn widert Euch wohl an? Nur zu! werde Euch gleich einen noch häßlicheren Läufer vorstöhnen ...“ Verstehen Sie mich auch jetzt noch nicht, meine Herren? Nein, es scheint doch, daß man sich lange bis zu dem entwickeln und tief in sich selbst versenken muß, um alle Windungen dieser Wollust verstehen zu können. Sie lachen? Freut mich! Meine Späßchen sind vielleicht etwas abgeschmackt, sind uneben, verwirrt und voll von Mißtrauen zu mir selbst. Aber das kommt doch daher, daß ich mich selbst nicht achte! Aber kann denn ein erkennender Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten?

V.

Nun, wie ist es denn möglich, wie kann sich denn ein Mensch auch nur ein wenig achten, wenn er sich verschworen hat, sogar im Gefühl der eigenen Erniedrigung Genuß zu suchen? Nicht aus irgend einer faden Reue sage ich das jetzt. Hab’s überhaupt nie leiden können, zu sagen: „Verzeihen Sie, Papa, ich werde nicht mehr ...“ – nicht etwa, weil ich das nicht sagen konnte, sondern im Gegenteil, vielleicht gerade, weil ich schon allzu schnell bereit war, das zu sagen, und wie noch! Wie absichtlich habe ich mich zuweilen beschuldigt, in Fällen, in denen ich selbst nicht einmal wußte, woran ich eigentlich hätte schuld sein können. Das war ja das Allergemeinste. Und dabei verging ich fast vor Mitleid mit mir selbst; ich bereute und vergoß viele Tränen, und – versteht sich – betrog mich an allen Ecken und Kanten, wenn ich mich auch nicht im geringsten verstellte: das Herz verpfuschte es einfach ... Dabei konnte ich nicht einmal mehr die „Gesetze“ der Natur beschuldigen, obgleich mich doch diese Gesetze der Natur fortwährend und am meisten beleidigten. Widerlich, sich dessen von neuem zu erinnern; es war auch damals widerlich. Denn schon nach einer Minute sagte ich mir, daß alles Lüge ist, ekelhafte, trügerische Lüge – ich meine dieses ewige Bereuen und diese ewigen Vorsätze, sich zu bessern. Fragen Sie mich aber, warum ich mich so wand und quälte? Antwort: weil es schon etwas zu langweilig war, mit gefalteten Händen still zu sitzen, und so ließ ich mich denn auf die Windungen ein. Wahrhaftig, so war’s. Beobachten Sie sich selbst etwas besser, meine Herren, dann werden Sie sehn, daß es so ist. Hab mir Abenteuer ausgedacht und das Leben zurecht gedichtet, um doch wenigstens auf diese Weise zu leben. Wie viel mal ist es nicht vorgekommen, daß ich mich – nun, sagen wir zum Beispiel, gequält habe, ganz einfach ohne jede Ursache, absichtlich. Und ich wußte doch selbst ganz genau, daß ich überhaupt keinen Grund hatte, gekränkt zu sein, hetzte mich auf mich selbst auf. Aber schließlich bringt man es tatsächlich so weit, daß man sich allen Ernstes gekränkt fühlt. Mein ganzes Leben lang habe ich mich auf diese Weise gereizt, so daß ich mich schließlich nicht mehr beherrschen konnte. Einmal wollte ich mich krampfhaft verlieben, sogar zweimal. Hab doch gelitten, meine Herren, versichere Ihnen. Im tiefsten Seelengrund glaubt man’s zwar nicht, daß man leidet, Spott kichert dort versteckt, aber man leidet doch und noch in einer wirklichen, ganz gehörigen Weise; bin eifersüchtig, fahre aus der Haut ... Und alles aus Langeweile, meine Herren, alles aus Langeweile! Die Inertie erdrückte mich. Denn die direkte, gesetzmäßige, unmittelbare Frucht der Erkenntnis, – das ist die Inertie, d. h., das bewußte Hände-im-Schoß-Stillsitzen. Das habe ich auch schon früher erwähnt. Wiederhole es, wiederhole es nachdrücklichst: alle Tatmenschen sind ja nur tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind. Wie das erklären? Ganz einfach: infolge ihrer Beschränktheit nehmen sie die nächsten und zweitrangigen Ursachen für die Urgründe, und so überzeugen sie sich schneller und leichter als die anderen, daß sie eine unwandelbare Basis für ihre Tätigkeit gefunden haben, nun, und geben sich damit zufrieden, – und das ist doch die Hauptsache. Denn um eine Tätigkeit zu beginnen, muß man vorläufig vollständig beruhigt sein, auf daß nicht die geringsten Zweifel mehr übrig bleiben. Nun, wie aber soll z. B. ich mich beruhigen? Wo sind bei mir die Urgründe, auf die ich mich stützen kann, wo die Basis? Woher soll ich sie nehmen? Ich übe mich im Denken und folglich zieht bei mir jeder Urgrund sofort einen anderen, noch älteren, hinter sich her und so geht es weiter bis in die Endlosigkeit. Derart ist eben das Wesen aller Erkenntnis und alles Denkens. Somit sind das also schon wieder die Gesetze der Natur. Und was ergibt sich denn schließlich im Resultat? Ja, ganz dasselbe. Erinnern Sie sich: vorhin sprach ich doch von der Rache. (Sie haben es bestimmt nicht begriffen.) Es heißt: der Mensch rächt sich, weil er darin Gerechtigkeit sieht. Also hat er doch die Basis gefunden, und zwar: die Gerechtigkeit. Also ist er allseitig beruhigt und folglich rächt er sich, da er überzeugt ist, eine ehrliche und gerechte Tat zu vollbringen, ruhig und mit gutem Erfolg. Ich jedoch sehe hierin keine Gerechtigkeit, und eine Wohltat kann ich hierin erst recht nicht entdecken; wollte ich mich aber dann trotzdem noch rächen, so könnte es allenfalls nur aus Bosheit geschehn. Allerdings könnte Bosheit vielleicht alles besiegen, alle meine Zweifel, und somit erfolgreich die Basis ersetzen, gerade weil sie kein Standpunkt ist. Was soll ich aber tun, wenn ich nicht einmal Bosheit habe! – damit begann ich ja vorhin. Infolge dieser verfluchten Gesetze der Erkenntnis unterwirft sich nämlich meine Bosheit der chemischen Zerlegung. Man sieht –: das Ding hebt sich auf, die Vernunftgründe verdunsten, der Schuldige ist nicht zu finden, die Beleidigung bleibt nicht Beleidigung, sondern wird Fatum, etwas in der Art wie Zahnschmerz, an dem niemand schuld ist, und so bleibt wiederum nur der eine Ausweg – etwas fester mit der Faust an die Wand zu schlagen. Nun, da winkt man denn wieder mit der Hand ab, denn man hat doch nicht die Basis gefunden. Versucht man es, läßt man sich von seinem Gefühl blindlings hinreißen, ohne Erwägungen, ohne Begründungen, verjagt man die Erkenntnis wenigstens für diese Zeit; ergibt man sich dem Haß oder ergibt man sich der Liebe, nur um nicht mit gefalteten Händen stillzusitzen: – Übermorgen, das ist die letzte Frist, wirst Du anfangen, Dich selbst zu verachten, dafür, daß Du Dich selbst wissentlich betrogen hast! Im Resultat: eine Seifenblase und Inertie. Oh, meine Herren, ich, vielleicht halte ich mich nur deswegen für einen klugen Menschen, weil ich in meinem ganzen Leben nichts habe weder beginnen noch beenden können. Schön, gut, möge ich ein Schwätzer sein, ein unschädlicher, langweiliger Schwätzer, wie wir alle. Aber was soll man denn machen, wenn die einzige und direkte Bestimmung jedes klugen Menschen – schwatzen ist, d. h. mit vollem Bewußtsein leeres Stroh dreschen?

VI.

Oh, wenn ich doch aus Faulheit nichts getan hätte! Herrgott, wie würde ich mich dann achten! Würde mich gerade deswegen achten, weil ich dann doch fähig wäre, wenigstens faul zu sein! Dann hätte ich doch wenigstens eine Eigenschaft, eine positive Eigenschaft, von der ich dann auch selbst überzeugt sein könnte. Man fragt: was ist das für einer? Antwort: ein Faulpelz. Aber ich bitt’ Sie, meine Herren, das wäre doch über alle Maßen angenehm von sich zu hören. Also bin ich dann doch positiv bezeichnet, klassifiziert, es gibt also etwas, was man von mir sagen kann. „Ein Faulpelz!“ – aber das ist doch eine Benennung, eine Bestimmung, das ist ja eine Karriere, ich bitt’ Sie! Scherz bei Seite, das ist so. Dann bin ich rechtmäßiges Mitglied des ersten Klubs der Welt und beschäftige mich ausschließlich mit der Hochachtung meiner selbst. Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang nichts anderes tat, als darauf stolz sein, daß er sich auf Weinsorten verstand. Er hielt das für eine positive Würde und zweifelte nie an sich. Er starb nicht nur mit einem ruhigen, sondern mit einem wahrhaft triumphierenden Gewissen und war auch vollkommen im Recht. Ich aber hätte mir dann eine Karriere gewählt – oh! – ich wäre Faulpelz und Vielfraß geworden! – doch kein gewöhnlicher etwa, sondern einer, der, sagen wir, mit allem Schönen und Hohen sympathisiert. Hm! Wie gefällt Ihnen das? Ich habe mir das schon lange ausgemalt. Dieses „Schöne und Hohe“ hat mir in den vierzig Jahren doch arg auf dem Puckel gelegen; jetzt aber bin ich schon vierzig; doch wenn ich damals – oh, dann wäre jetzt alles ganz anders! Ich hätte mir sofort eine entsprechende Lebensaufgabe gewählt, nämlich: auf die Gesundheit alles Schönen und Hohen zu trinken. Ich würde jede gebotene Gelegenheit ergriffen haben, um zuerst in meinen Pokal eine Träne zu träufeln und ihn dann auf’s Wohl alles Schönen und Hohen hinabzustürzen. Alles auf der Welt würde ich dann in Schönes und Hohes verwandelt, und selbst im gemeinsten Schmutz würde ich Schönes und Hohes gefunden haben. Tränenreich wäre ich geworden wie ein nasser Schwamm. Zum Beispiel –: ein Künstler hat ein Bild gemalt: sofort trinke ich auf die Gesundheit dieses Künstlers, denn ich liebe alles Schöne und Hohe. Ein Schriftsteller hat „Einerlei was“ verfaßt, und sofort trinke ich auf das Wohl „Einerlei wessen“, denn ich liebe „alles Schöne und Hohe“. – Achtung würde ich deswegen für mich heischen, würde jeden verfolgen, der mir dafür keine Achtung zollt! Lebe ruhig, sterbe triumphierend, – ja, aber das ist doch herrlich, einfach herrlich! Und was für einen Schmeerbauch ich mir dann anlegen würde, und welch ein dreifaches Doppelkinn, von der Leuchtkraft der Nase schon gar nicht zu reden! Jeder, der mir begegnet, würde bei meinem Anblick sagen: „Donnerwetter, das ist aber ein Plus! Das ist mal was Positives!“ Sagen Sie was Sie wollen, meine Herren, aber solche Bemerkungen sind doch in unserem negativen Jahrhundert ungemein schmeichelhaft zu hören, ungemein schmeichelhaft!

VII.

Doch das sind ja alles bloß goldene Träume.

Wissen Sie vielleicht, wer es zum ersten Mal gesagt hat, daß der Mensch nur deswegen Gemeinheiten begehe, weil er seine wahren Interessen nicht kenne, und daß, wenn man ihm seine wirklichen normalen Interessen erklären könnte, er sofort aufhören würde, Gemeinheiten zu begehen, denn einmal aufgeklärt über seinen Vorteil, würde er natürlich nur im Guten seinen Vorteil finden – bekanntlich aber könne kein einziger Mensch wissentlich gegen seinen eigenen Vorteil handeln, – folglich würde er sozusagen gezwungener Weise immer nur Gutes tun? Oh Säugling, der du das gesagt! Oh reines, unschuldiges Kindlein! Wann ist es denn jemals in den vergangenen Jahrhunderten geschehen, daß der Mensch einzig und allein nur um des eigenen Vorteils willen seine Taten vollbracht hat? Was mit all diesen Millionen von Fakten anfangen, die da bezeugen, daß die Menschen wissentlich, d. h. bei vollem Verständnis für ihre wirklichen Vorteile, letztere doch zurücksetzten und sich auf einen anderen Weg begaben, aufs geratewohl, in die Gefahr, von niemandem und durch nichts dazu gezwungen, sondern als ob sie gerade die Vorteile verschmähten, und eigensinnig und verstockt womöglich das Gegenteil suchten? Das zeigt doch, daß ihnen dieser Eigensinn und Eigenwille lieber waren, als der eigene Vorteil ... Vorteil! Was ist Vorteil? Wollen Sie es vielleicht übernehmen, ganz genau zu erklären, zu bestimmen, worin der Vorteil des Menschen besteht? Wie aber, wenn es einmal vorkommen sollte, daß sich das Schlechtere wünschen und nicht das Vorteilhaftere, nicht nur der Vorteil des Menschen sein kann, sondern wirklich und wahrhaft ist? Wird aber einmal die Möglichkeit dieses Falles zugegeben, so ist sofort diese ganze Regel aufgehoben. Was meinen Sie, meine Herren, kann es solch einen Fall geben oder nicht? Sie lachen! Nun, lachen Sie meinetwegen, aber antworten Sie nur: sind denn die Vorteile des Menschen auch wirklich richtig festgesetzt und sind sie denn auch alle aufgezählt? Gibt es nicht auch solche, die nicht nur noch nicht klassifiziert sind, sondern sich überhaupt nicht klassifizieren lassen? Sie haben doch, meine Herren, soviel ich weiß, Ihr ganzes Register der menschlichen Vorteile als Durchschnittssumme aus den statistischen Zahlen und wissenschaftlich-praktischen Formeln genommen. Ihre Vorteile sind doch: Glück, Reichtum, Freiheit, Ruhe, nun, u. s. w., u. s. w., so daß, zum Beispiel, der Mensch, der offenbar und wissentlich gegen dieses ganze Register handelt, nach Ihrer Meinung, nun ja, und selbstverständlich auch nach meiner, ein Obskurant oder ein vollkommen Verrückter ist, nicht wahr? Aber bei alledem ist doch eines wunderlich: woher kommt es, daß diese sämtlichen Statistiker, Weisen, Menschenfreunde beim Aufzählen der menschlichen Vorteile beständig einen Vorteil übergehen? Sie nehmen ihn nicht einmal in ihre Liste auf, wenigstens nicht in der Weise, wie er aufgenommen werden müßte, von ihm aber hängt doch die ganze Rechnung ab! Nun, das wäre ja weiter nicht schlimm, man könnte diesen Vorteil nehmen und ihn einfach auf der Liste hinzufügen. Doch darin besteht ja das ganze Malheur, daß dieser eigentümliche Vorteil sich überhaupt nicht klassifizieren läßt und man ihn auch auf keiner einzigen Liste unterbringen kann! Ich habe z. B. einen Freund ... Ach, meine Herren, er ist ja bestimmt auch Ihr Freund, und überhaupt – wessen Freund ist er denn nicht!? Wenn sich nun dieser Freund an eine Sache macht, wird er Ihnen sofort redselig klar und deutlich auseinandersetzen, wie er nach den Gesetzen der Vernunft und Wahrheit handeln muß. Ja, er wird Ihnen sogar aufgeregt und leidenschaftlich viel von den wahren und normalen Interessen der Menschen erzählen; wird spöttelnd die kurzsichtigen Dummköpfe tadeln, die weder ihre Vorteile noch die wahre Bedeutung der Wohltat erkennen und – genau nach einer Viertelstunde ohne jede plötzliche äußere Veranlassung, sondern gerade aus irgend etwas Innerlichem, das stärker ist, als alle seine Interessen, wird er plötzlich ein ganz anderes Lied pfeifen, d. h. wird offen gegen alles vorgehen, was er selbst gesagt hat: gegen die Gesetze der Vernunft, gegen den eigenen Vorteil, mit einem Wort, gegen alles ... Doch – Sie wissen es ja selbst – mein Freund ist eine Kollektivperson und darum – ihn allein beschuldigen, hm, geht nicht gut an. Das ist es ja, meine Herren: gibt es denn wirklich nicht etwas, das fast jedem Menschen teurer ist, als seine besten Vorteile? Oder sagen wir – um die Logik nicht zu zerstören –: es gibt solch einen allervorteilhaftesten Vorteil, der aber in allen Vorteilsverzeichnissen beständig ausgelassen wird, einen Vorteil, der wichtiger und größer ist, als alle anderen Vorteile, und für den der Mensch bereit ist, wenn’s darauf ankommt, allen anerkannten Vorteilen, allen Gesetzen zuwider zu handeln, also gegen Vernunft, Ehre, Ruhe, Glück u. s. w. zu handeln, kurz, gegen alle diese guten und schönen Dinge, – nur um diesen größten, vorteilhaftesten Vorteil, der ihm am teuersten ist, zu haben.

„Aber es ist doch immerhin ein Vorteil!“ unterbrechen Sie mich.

Warten Sie, ich werde es noch erklären! Mir ist es nicht um einen Kalauer zu tun, sondern um den Beweis, daß dieser Vorteil gerade deswegen bemerkenswert ist, weil er alle Ihre Klassifikationen der Vorteile zerstört, und alle Systeme, die von den Menschenfreunden zur Erreichung des vollen Erdenglücks aufgestellt werden, einfach unmöglich macht. Bevor ich jedoch diesen Vorteil nenne, will ich mich noch persönlich kompromittieren, und darum erkläre ich jetzt dreist, daß alle diese schönen Systeme, alle diese Theorien – die den Menschen ihre wahren und normalen Interessen erklären wollen, auf daß sie dann gezwungen nach der Erfüllung derselben streben und somit gut und edel werden – meiner Meinung nach nichts als Logistik sind! Ja, – Logistik! Denn diese Theorie der Erneuerung der ganzen Menschheit mittels des Systems ihrer Vorteile bejahen, das ist doch fast dasselbe, wie ... nun, wie z. B. nach Buckle behaupten, der Mensch würde durch die Kultur weicher, folglich weniger blutdürstig und immer unfähiger zum Kriege. Nach der Logik, glaube ich, kommt er zu diesem Folgeschluß. Der Mensch aber hat solch eine Vorliebe für das System und den abstrakten Folgeschluß, daß er bereit ist, die Wahrheit absichtlich zu entstellen, bereit, mit den Augen nicht zu sehen, mit den Ohren nicht zu hören, nur damit seine Logik recht behält. Aber so öffnen Sie doch Ihre Augen, meine Herren, und blicken Sie um sich! Das Blut fließt in Strömen und dazu noch in einer so kreuzfidelen Weise, als ob’s Champagner wäre. Nehmen Sie doch unser ganzes neunzehntes Jahrhundert, in dem auch Herr Buckle gelebt hat: da haben Sie Napoleon – den Großen und den Dritten; da haben Sie Nord-Amerika – die ewige Union; da haben Sie endlich das karikaturhafte Schleswig-Holstein ... Und jetzt sagen Sie mir bitte, worin uns denn die Kultur weicher macht? Die Kultur arbeitet im Menschen nur die Vielseitigkeit der Empfindung aus und ... das ist alles, was sie tut. Und gerade durch die Entwicklung dieser Vielseitigkeit wird der Mensch schließlich auch im Blutvergießen Genuß finden. Er tut es ja schon jetzt. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die raffiniertesten Blutvergießer fast ausnahmslos die zivilisiertesten Menschen gewesen sind, Menschen, mit denen sich solche wie Attila oder Stenjka Rasin[2] überhaupt nicht vergleichen können, und wenn sie nicht so bekannt sind wie Attila oder Stenjka Rasin, so kommt das nur daher, weil sie viel zu häufig vorkommen, viel zu gewöhnlich sind, so daß man ihrer schon überdrüssig geworden ist. Jedenfalls ist der Mensch durch die Zivilisation, wenn nicht blutdürstiger, so doch gewiß schlechter, gemeiner blutdürstig geworden, als er es früher war. Früher sah er im Blutvergießen Gerechtigkeit und vernichtete mit ruhigem Gewissen einen jeden, den er seiner Meinung nach vernichten mußte; jetzt jedoch vergießen wir weit mehr Menschenblut, obgleich wir es schon längst für eine Gemeinheit halten. Welch ein Blutvergießen ist nun schlechter? Urteilen Sie selbst. Man sagt, Kleopatra – Verzeihung für das Beispiel aus der Alten Geschichte – habe es geliebt, goldene Stecknadeln in die Brüste ihrer Sklavinnen zu stecken, und habe an deren Gestöhn und Geschrei Genuß gefunden. Sie werden sagen, daß das in, relativ gesprochen, barbarischen Zeiten geschehen ist, daß wir auch jetzt noch in barbarischen Zeiten leben, denn – wiederum relativ gesprochen – auch jetzt stecke man Stecknadeln, und daß der Mensch auch jetzt noch, wenn er auch schon gelernt habe, in manchen Dingen klarer zu sehen als in barbarischen Zeiten, sich doch noch lange nicht gewöhnt hätte, so zu handeln, wie es ihn die Vernunft und die Wissenschaften lehrten. Doch immerhin sind Sie, meine Herren, vollkommen überzeugt, daß er sich bestimmt daran gewöhnen wird, in Zukunft, wenn auch die letzten alten, dummen Angewohnheiten ganz vergessen sein werden, und wenn die gesunde Vernunft nebst der Wissenschaft die menschliche Natur vollständig umerzogen und auf den einzig richtigen Weg gelenkt haben werden. Sie sind überzeugt, daß der Mensch dann von selbst aufhören wird, freiwillig Fehler zu begehen, und seinen Willen seinen normalen Interessen sozusagen unwillkürlich nicht mehr entgegensetzen wird. Ja, Sie sagen sogar noch: dann wird die Wissenschaft selbst den Menschen belehren – wenn das meiner Meinung nach auch schon Luxus ist – und ihm sagen, daß er weder Wille noch Eigensinn in Wirklichkeit besitzt noch je besessen hat, und daß er selbst nichts mehr ist, als etwas in der Art einer Klaviertaste oder eines Drehorgelstiftes, und daß auf der Welt außerdem noch Naturgesetze vorhanden sind: so daß alles, was er auch tun mag, nicht durch seinen Wunsch oder Willen getan wird, sondern ganz von selbst geschieht, einfach nach den Gesetzen der Natur. Folglich braucht man dann nur diese Gesetze der Natur zu entdecken und sofort wird der Mensch für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich sein, und ein ungemein leichtes Leben beginnen können. Versteht sich – alle menschlichen Handlungen werden dann nach diesen Gesetzen mathematisch in der Art der Logarithmentafeln bis 108 000 berechnet und in einen Kalender eingetragen werden. Oder, noch besser, es werden einige wohlgemeinte Bücher erscheinen, etwa wie die jetzigen encyclopädischen Lexica, in denen dann alles so genau ausgerechnet und bezeichnet ist, daß auf der Welt hinfort weder Taten noch Abenteuer mehr vorkommen werden.

Dann also – das sind immer noch Ihre Meinungen, meine Herren – werden die neuen ökonomischen Verhältnisse beginnen, vollkommen ausgearbeitete und gleichfalls mit mathematischer Genauigkeit berechnete, so daß im Handumdrehen alle Fragen verschwinden werden, – eigentlich nur aus dem Grunde, weil man sonst die verschiedensten Antworten auf dieselben erhielte. Dann wird ein Kristall-Palast gebaut werden, dann ... Nun, mit einem Wort, dann wird der Märchenvogel angeflogen kommen. Natürlich kann man nicht garantieren, – jetzt rede ich wiederum von mir aus –, daß es dann z. B. nicht furchtbar langweilig sein wird – denn was soll man noch machen, wenn alles schon berechnet ist? – dafür wird es aber ungemein vernünftig sein. Aber was denkt man sich nicht alles aus Langeweile aus! Die goldenen Nadeln wurden doch auch aus Langeweile gesteckt, und davon noch gar nicht zu reden! Gemein ist nämlich nur, daß man sich dann der Stecknadeln womöglich noch freuen wird. Denn der Mensch ist doch dumm, phänomenal dumm! Das heißt, wenn er auch durchaus nicht dumm ist, so ist er doch so undankbar, daß man etwas Undankbareres mit der Laterne suchen kann und doch nicht finden wird. Z. B. würde es mich nicht im geringsten wundern, wenn sich dann mir nichts, dir nichts inmitten der allgemeinen zukünftigen Vernünftigkeit plötzlich irgend ein Gentleman vor uns aufstellt, die Hände in die Seiten stemmt und mit spöttischer Physiognomie uns allen sagt: „Nun wie, meine geehrten Anwesenden, sollten wir nicht diese ganze Vernünftigkeit mit einem Fußtritt zertrümmern, auf daß alle diese verfluchten Logarithmen zum Teufel gehen und wir wieder nach unserem törichten Willen leben können!?“ Das wäre ja schließlich noch nicht so schlimm, aber kränkend ist nur, daß er doch zweifellos – was sage ich! – unbedingt Gesinnungsgenossen finden wird. Der Mensch ist nun einmal so geschaffen. Und er würde es aus dem nichtigsten Grunde, den zu erwähnen es sich überhaupt nicht lohnen sollte, tun: weil der Mensch, wer er auch sei, immer und überall so zu handeln liebt, wie er will, und durchaus nicht so, wie es ihm Vernunft und Vorteil befehlen. Wollen aber kann man auch gegen seinen eigenen Vorteil und zuweilen muß man es sogar unbedingt – das ist schon so meine Idee. Sein eigenes, freies Wollen, seine eigenen, meinetwegen dümmsten Launen, seine Phantasie, die zuweilen selbst bis zur Verrücktheit aufgeschraubt sein mag – das, gerade das ist ja dieser auf keiner einzigen Liste vermerkte vorteilhafteste Vorteil, der sich unmöglich klassifizieren läßt und durch den alle Systeme und Theorien sofort zum Teufel gehen. Woher wissen es denn diese Weisen, daß der Mensch irgend ein normales, irgend ein edles Wollen braucht? Wie kommen Sie darauf, sich skrupellos einzubilden, daß der Mensch unbedingt ein vernünftig-vorteilhaftes Wollen nötig hätte? Der Mensch braucht einzig und allein selbständiges Wollen, was diese Selbständigkeit auch kosten und wohin sie auch führen mag. Aber das Wollen – weiß der Teufel ...

VIII.

„Hahaha! Aber das Wollen, das gibt es ja in Wirklichkeit überhaupt nicht!“ unterbrechen Sie mich lachend. „Die Wissenschaft hat den Menschen heute schon so anatomiert, daß, wie wir wissen, das Wollen und der sogenannte freie Wille nichts anderes sind, als ...“

Warten Sie, meine Herren, ich wollte ja selbst damit anfangen! Ich muß gestehen, ich erschrak sogar, als mir das einfiel. Ich wollte gerade ausrufen, daß das Wollen weiß der Teufel wovon abhängt, und daß wir dafür meinetwegen Gott danken können, aber da fiel mir plötzlich die Wissenschaft ein und ... da unterbrachen Sie mich auch schon. Nun, sagen wir, daß man einmal wirklich die Formel aller unserer Wünsche und Launen findet, ich meine, wovon sie abhängig sind, nach welchen Gesetzen sie eigentlich entstehen, wie sie sich verbreiten, wohin sie in diesem oder jenem Falle streben u. s. w., kurz, die richtige mathematische Formel, – so wird doch der Mensch dann sofort womöglich aufhören, zu wollen, ja, er wird sogar bestimmt aufhören, noch weiter zu wollen. Was ist denn das für ein Vergnügen, nach dem Kalender zu wollen? Und das wäre ja noch nicht alles: er verwandelt sich doch sofort aus einem Menschen in einen Drehorgelstift, oder etwas derartiges; denn was ist der Mensch ohne Wünsche, ohne Willen anderes, als ein Stiftchen an der Drehorgelwalze? Was meinen Sie dazu? Untersuchen wir die Wahrscheinlichkeiten, – kann das geschehen oder nicht?

„Hm! ...“ entscheiden Sie, – „unser Wollen ist infolge der fehlerhaften Auffassung unserer Vorteile größtenteils fehlerhaft. Darum wollen wir auch zuweilen reinen Blödsinn, weil wir infolge unserer Dummheit in diesem Blödsinn den leichtesten Weg zur Erreichung irgend welches vermeintlichen Vorteils sehen. Wenn aber alles erklärt, schwarz auf weiß ausgerechnet sein wird, – was keineswegs unmöglich ist, denn es wäre doch sinnlos und gemein, schon im voraus zu glauben, daß der Mensch gewisse Naturgesetze niemals erfahren könnte –, so wird es dann selbstverständlich diese sogenannten Wünsche nicht mehr geben. Denn wenn sich das Wollen einmal mit der Vernunft vereint haben wird, so werden wir dann eben vernunftgemäß denken, nicht aber wollen, und zwar einfach aus dem Grunde nicht, weil man doch z. B. bei voller Vernunft nicht Blödsinn wollen und somit bewußt gegen seine Vernunft handeln und sich Nachteiliges wünschen kann ... Da man aber alle Wünsche und Gedanken tatsächlich einmal berechnet haben wird, denn irgend einmal wird man doch die Gesetze unseres sogenannten freien Willens entdecken, so wird es folglich doch zu so etwas in der Art einer Tabelle kommen, so daß wir dann auch in facto nach dieser Tabelle wollen werden. Denn wenn man mir vorrechnet und beweist, daß ich, wenn ich irgend jemandem eine lange Nase gezeigt, dieses ausschließlich getan habe, weil ich sie unbedingt gerade so, mit genau solch einer Grimasse habe zeigen müssen, so möchte ich bloß wissen, was nach dem noch Freies in mir übrig bleibt, besonders wenn ich Gelehrter bin und irgendwo den Kursus der Wissenschaften beendet habe? Dann kann ich ja mein Leben auf ganze dreißig Jahre vorausberechnen. Mit einem Wort, wenn es einmal dazu kommt, so wird doch nichts mehr daran zu ändern sein; man wird es einfach annehmen müssen. Ja, und überhaupt müssen wir uns unermüdlich immer wieder sagen, daß die Natur uns dann und dann, sagen wir im Augenblick, da wir die lange Nase unter diesen oder jenen Umständen zeigen, nicht erst nach unserem Willen fragt; wir müssen sie so nehmen, wie sie ist, nicht aber so, wie wir sie uns vorstellen, und wenn wir wirklich nach der Tabelle und dem Kalender streben, nun und ... wenn auch meinetwegen zur Retorte, so – was ist denn dabei zu machen, – so müssen Sie auch die Retorte annehmen! Andernfalls wird sie eben ohne Sie angenommen ...“

Wunderbar, aber gerade hier liegt meiner Meinung nach der Haken! Meine Herren, Sie werden mir verzeihen, daß ich mich von der Philosophie habe fortreißen lassen; in ihr liegen vierzig Jahre Dunkel! Da können Sie mir doch erlauben, zu phantasieren. Sehen Sie mal: die Vernunft, meine Herren, ist eine gute Sache, das wird niemand bestreiten, aber die Vernunft ist und bleibt nur Vernunft, und befriedigt nur den Geist des Menschen; das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, d. h. des ganzen menschlichen Lebens mit allem, was drum und dran ist. Und wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung oftmals als ein lumpiges Ding erweist, so ist es doch immerhin Leben und nicht nur ein Ausziehen von Quadratwurzeln. Denn ich z. B. will doch ganz natürlicher Weise leben, um meine ganze Lebensfähigkeit zu befriedigen, nicht aber, um bloß meiner Vernunft Genüge zu tun, also irgend einem zwanzigsten Teil meiner ganzen Lebensfähigkeit. Was weiß denn die Vernunft? Die Vernunft weiß nur das, was sie bereits erfahren hat – anderes wird sie überhaupt nie wissen: das ist zwar kein Trost, doch warum soll man es denn nicht aussprechen? –, die menschliche Natur jedoch handelt stets als Ganzes, mit allem, was in ihr ist, bewußt und unbewußt, und wenn sie auch lügt, so lebt sie doch. Ich argwöhne, meine Herren, daß Sie mich jetzt gewissermaßen bemitleiden; Sie wiederholen mir, daß es für einen gebildeten und entwickelten Menschen, kurz, für einen Menschen, wie wir ihn im zukünftigen Typ haben werden, unmöglich sein wird, wissentlich sich etwas für sich unvorteilhaftes zu wünschen, – daß dieses mathematisch klar sei. Bin vollkommen einverstanden mit Ihnen, meine Herren, gebe zu, daß es tatsächlich mathematisch klar ist. Doch trotzdem sage ich Ihnen zum hundertsten Mal: es gibt solch einen Fall, nur einen einzigen, in dem sich der Mensch wissentlich, absichtlich sogar Schädliches, Dummes, ja sogar Allerdümmstes wünschen kann, und zwar: um das Recht zu haben, sich sogar das Dümmste wünschen zu können, und nicht durch die Pflicht, sich einzig und allein nur Kluges wünschen zu müssen, gebunden zu sein. Gerade dieses „Allerdümmste“, diese seine Laune kann ja doch, meine Herren, für unsereinen in der Tat das Vorteilhafteste von allem sein, was es auf der Welt gibt, und das besonders noch in gewissen Fällen. Und mitunter kann es sogar vorteilhafter als alle Vorteile selbst in solch einem Falle sein, wenn es uns augenscheinlich Schaden bringt und unseren allergesündesten Vernunftschlüssen über die Vorteile widerspricht, – denn es erhält uns doch jedenfalls das Hauptsächlichste und Teuerste: unsere Persönlichkeit, unsere Individualität. Behaupten doch schon einige Philosophen, daß dieses für den Menschen wirklich das Teuerste sei; das Wollen kann sich natürlich, wenn es will, auch mit der Vernunft vereinigen, besonders wenn man sie nicht mißbraucht, sondern sich ihrer gemäßigt bedient; das ist dann auch ganz nützlich und zuweilen sogar lobenswert. Nun ist aber das Wollen sehr häufig, ja, sogar größenteils vollkommen und eigensinnig anderer Meinung, wie die gesunde Vernunft, und ... und ... und wissen Sie auch, daß auch das nützlich und zuweilen sogar lobenswert ist? Meine Herren, nehmen wir an, daß der Mensch nicht dumm ist ... Das kann man ja auch wirklich nicht von ihm sagen, denn sonst erhebt sich sofort die Frage, wer denn eigentlich klug sein soll? ... Doch wenn er auch nicht dumm ist, so ist er doch – ungeheuer undankbar! Ganz phänomenal undankbar! Ich glaube sogar, daß die beste Bezeichnung des Menschen sein würde: ein Wesen, das auf zwei Beinen steht und undankbar ist. Doch das ist noch nicht so schlimm; das ist noch nicht sein Hauptfehler; sein Hauptfehler ist – seine fortwährende, beständige Unsittsamkeit, angefangen von der Sintflut bis zur Schleswig-Holsteinschen Periode der Menschenschicksale. Ja, Unsittsamkeit, folglich aber auch Unvernunft; denn es ist doch schon längst bekannt, daß Unvernunft nicht anders entsteht, als durch Unsittsamkeit. Versuchen Sie es, werfen Sie einen Blick auf die Geschichte der Menschheit: nun, was? Großartig – wie? Meinetwegen auch großartig; allein schon der Koloß von Rhodos, was der wert ist! Nicht umsonst sagen die einen von ihm, er sei ein Werk von Menschenhand, die anderen aber, er wäre von der Natur selbst geschaffen worden. – Oder finden Sie sie bunt? Nun, meinetwegen auch bunt: wollte man bloß die Paradeuniformen der Militärs und Staatsleute nach den Jahrhunderten und den Nationen klassifizieren, – welch eine Heidenarbeit wäre schon das allein, und dabei wären die Mäntel noch nicht einmal mitgerechnet, – kein Historiker würde das fertig stellen. – Oder einförmig? Nun, meinetwegen auch einförmig: sie raufen sich, und raufen sich, und raufen sich jetzt und haben sich früher gerauft und haben sich später gerauft und werden sich auch noch hinfort raufen – Sie müssen mir doch zugeben, nicht wahr, daß das denn doch schon verboten einförmig ist! Kurz, man kann alles über die Weltgeschichte sagen, alles, was der hirnverbranntesten Einbildungskraft einfällt. Nur eines kann man nicht sagen, nämlich: daß sie vernünftig wäre. Sie würden bei der ersten Silbe stecken bleiben und das Hüsteln kriegen. Und dabei stößt man noch bei jeder Gelegenheit auf folgendes Naturspiel: fortwährend erscheinen im Leben solche sittsame und vernünftige und weise Leute, und Freunde des Menschengeschlechts, die es sich zum Ziel setzen, ihr ganzes Leben lang sich möglichst sittsam und vernünftig zu benehmen, gleichsam um mit ihrer Person den lieben Nächsten eine Leuchte zu sein, und das eigentlich nur, um ihnen zu beweisen, daß man in der Welt tatsächlich sowohl sittsam als vernünftig leben kann. Und? Bekanntlich aber sind viele dieser Menschheitsfreunde früher oder später oder vielleicht auch erst am späten Lebensabend sich nicht treu geblieben und haben irgend so ein Geschichtchen gemacht, zuweilen sogar eines, das zu den allerunsittsamsten gehört. Jetzt frage ich Sie: was kann man nun von einem Menschen, als von einem Wesen, das mit solchen sonderbaren Eigenschaften bedacht ist, erwarten? Überschütten Sie ihn mit allen Erdengütern, versenken Sie ihn in Glück bis über die Ohren, bis über den Kopf, so daß auf der Oberfläche des Glücks wie auf dem Wasserspiegel nur noch Blasen aufsteigen, geben Sie ihm solch ein pekuniäres Auskommen, daß ihm nichts anderes zu tun übrig bleibt, als zu schlafen, Pfefferkuchen zu vertilgen und für das Nichtaussterben der Menschheit zu sorgen, – so wird er, dieser selbe Mensch, Ihnen doch auf der Stelle aus bloßer Undankbarkeit, einzig zu Ihrer Schmach und Schande einen Streich spielen. Er wird sogar die Pfefferkuchen aufs Spiel setzen und sich vielleicht den verderblichsten Blödsinn wünschen, den allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um in diese ganze positive Vernünftigkeit sein verderbliches, phantastisches Element hineinzumischen. Gerade seine phantastischen Gedanken, seine gemeinste Dummheit wird er behalten wollen, und zwar ausschließlich zu dem Zweck, um sich selbst zu beweisen – ganz als ob das weiß Gott wie nötig wäre –, daß die Menschen immer noch Menschen sind, und nicht Klaviertasten, auf denen meinetwegen die Naturgesetze eigenhändig spielen mögen, dafür aber doch drohen, sich dermaßen einzuspielen, daß man allseits vom Kalender überhaupt nichts mehr wird wünschen oder wollen dürfen. Und nicht genug damit: selbst wenn er sich wirklich nur als Klaviertaste erweisen sollte, und wenn man ihm das sogar wissenschaftlich und mathematisch beweisen würde, selbst dann würde er nicht Vernunft annehmen, und noch zum Trotz absichtlich etwas Unheilvolles machen, natürlich nur aus purer Undankbarkeit, und eigentlich nur, um auf dem Seinen zu bestehn. Falls sich aber bei ihm keine Mittel, keine Möglichkeiten dazu erweisen sollten, so würde er sich Zerstörung und Chaos ausdenken, würde sich womöglich selbst Qualen ausdenken, aber doch auf dem Seinen eigensinnig bestehn! Flüche würde er über die Welt ausschütten! Da aber nur der Mensch allein fluchen kann – das ist nun schon einmal sein Privilegium, eines, das ihn vorzugsweise von den anderen Tieren unterscheidet –, so wird er doch mit diesem Fluch allein erreichen, was er will, d. h. wird sich tatsächlich überzeugen, daß er ein Mensch und keine Klaviertaste ist. Wenn Sie sagen, man könne auch dieses nach der Tabelle ausrechnen, Chaos, Finsternis und Fluch, so daß schon die bloße Möglichkeit der vorherigen Berechnung alles stocken macht und die Vernunft dann das Ihre nimmt, – so wird der Mensch sich ja womöglich verrückt machen, um keine Vernunft mehr zu haben und somit doch auf dem Seinen bestehn zu können. Daran glaube ich fest, dafür stehe ich ein, denn genau genommen besteht doch das ganze menschliche Tun, wie’s scheint, bloß darin, daß der Mensch sich immerwährend beweist, daß er ein Mensch ist und kein Stiftchen! Und wenn er es auch selbst ausbaden muß, aber beweisen will er’s, einerlei womit, aber beweisen, beweisen! Wenn das aber wahr ist, wie soll man dann nicht sündigen, nicht Gott danken, daß dieses noch nicht eingeführt ist und das Wollen vorläufig noch weiß der Teufel wovon abhängt!?

Sie schreien mir zu – wenn Sie mich überhaupt noch Ihres Schreiens würdigen –, daß mir doch niemand den Willen entziehe, daß man ja hierbei nur eines im Auge hätte, nämlich: es irgendwie so zu machen, daß mein Wille ganz von selbst, freiwillig mit meinen normalen Interessen zusammenfiele, mit den Gesetzen der Natur und Arithmetik.

Ach, meine Herren, was kann es denn da noch für einen eigenen Willen geben, wenn die Sache schon bis zur Tabelle und bis zur Arithmetik kommt, wenn nur noch Zweimalzwei = vier im Gange ist? Zweimalzwei wird auch ohne meinen Willen vier sein. Sieht denn freier Wille etwa so aus?

IX.

Meine Herren, ich scherze natürlich nur, und ich weiß es ja selbst, daß ich erfolglos scherze, aber man kann doch wirklich nicht alles für Scherz nehmen. Ich scherze, während ich vielleicht mit den Zähnen knirsche. Meine Herren, mich quälen viele Fragen; beantworten Sie sie mir. Sie wollen z. B. den Menschen von seinen alten Angewohnheiten abbringen und seinen Willen den Erkenntnissen der Wissenschaft und der gesunden Vernunft gemäß verbessern. Woher aber wissen Sie, ob es nicht nur möglich, sondern überhaupt nötig ist, den Menschen so zu verbessern? Woraus schließen Sie, daß das menschliche Wollen der Verbesserung so notwendig bedarf? Mit einem Wort, woraus schließen Sie, daß solch eine Verbesserung dem Menschen wirklich vorteilhaft sein wird? Und – da ich Sie schon einmal frage – warum sind Sie so vollkommen überzeugt, daß den wahren, normalen Vorteilen, die durch die Schlüsse der gesunden Vernunft und Arithmetik garantiert werden, nicht zuwiderhandeln, für den Menschen immer wirklich vorteilhaft, und der ganzen Menschheit durchaus Gesetz sei? Das ist doch vorläufig nur Ihre bloße Annahme. Nun schön, nehmen wir an, daß es die Gesetze der Logik sind, so sind es doch allein deswegen vielleicht noch längst nicht Gesetze der Menschheit. Sie glauben vielleicht, meine Herren, daß ich verrückt bin? Erlauben Sie, daß ich mich rechtfertige. Also gut: der Mensch ist ein vornehmlich schöpferisches Tier, das verurteilt ist, bewußt nach einem Ziel zu streben, und sich ewig und ununterbrochen einen Weg zu bahnen, wenn auch einerlei wohin. Nun aber will er sich vielleicht gerade deswegen zuweilen aus dem Staube machen, sich abseits in die Büsche schlagen, weil er dazu verurteilt ist, sich diesen Weg zu bahnen, und meinetwegen auch noch aus dem anderen Grunde, weil ihm, wie dumm der unmittelbare Tatmensch im allgemeinen auch sein mag, zuweilen doch der Gedanke kommt, daß dieser Weg, wie es sich erweist, fast immer einerlei wohin führt, und daß die Hauptsache durchaus nicht ist, wohin er führt, sondern, daß er überhaupt nur führt, auf daß sich das sittsame Menschlein nicht dem verderblichen Müßiggang ergebe, der, wie allgemein bekannt, aller Laster Anfang ist. Der Mensch liebt, zu schaffen und Wege zu bahnen, das steht fest. Warum aber liebt er bis zur Leidenschaft gleichfalls die Zerstörung und das Chaos? Bitte, meine Herren, beantworten Sie mir doch diese Frage! Aber darüber will ich ganz gern selbst ein paar Worte sagen. Liebt er Zerstörung und Chaos vielleicht deswegen so sehr – denn es ist doch klar, daß er sie zuweilen ganz ungewöhnlich liebt, das ist schon so –, weil er sich instinktiv fürchtet, das Ziel zu erreichen, das zu schaffende Gebäude zu vollenden? Was können Sie wissen, meine Herren, vielleicht liebt er dieses Gebäude nur aus der Entfernung, nicht aber in der Nähe? Vielleicht liebt er nur, es zu schaffen, in ihm zu leben aber überläßt er aux animaux domestiques, als da sind: Ameisen, Schafe, Ochsen usw. usw. Sehen Sie, die Ameisen z. B. sind ganz andere Geisteskinder. Sie haben schon ein bewunderungswürdiges, unzerstörbares Gebäude – den Ameisenhaufen.

Mit dem Ameisenhaufen haben die ehrenwerten Ameisen angefangen, mit dem Ameisenhaufen werden sie bestimmt auch enden, was ihrer Beständigkeit und Positivität fraglos große Ehre macht. Der Mensch aber ist ein leichtsinniges Wesen, und liebt vielleicht gleich dem Schachspieler nur den Prozeß des Strebens zum Ziel, nicht aber das Ziel an und für sich. Und wer weiß – man kann es doch nicht verreden –, es wäre vielleicht sogar möglich, daß auch das ganze Erdenziel, zu dem die Menschheit strebt, nur in diesem einen ununterbrochenen Prozeß des Strebens liegt, nicht aber eigentlich im Ziel, das natürlich nichts anderes sein kann, als Zweimalzwei-ist-vier, d. h. die Formel. Zweimalzwei-ist-vier ist aber nicht mehr Leben, meine Herren, sondern der Anfang des Todes. Wenigstens hat der Mensch dieses Zweimalzwei-ist-vier immer gewissermaßen gefürchtet, ich aber fürchte es auch jetzt noch. Nehmen wir an, daß der Mensch nichts anderes tut, als dieses Zweimalzwei-ist-vier suchen, in diesem Suchen Ozeane überschwimmt, das Leben opfert, jedoch es zu finden, sich, bei Gott, fürchtet. Er fühlt doch, daß ihm, wenn er es gefunden hat, nichts mehr zu suchen übrig bleibt. Wenn Arbeiter eine Arbeit beendet haben, so erhalten sie doch wenigstens Geld, für das sie in die Schenke gehn und sich betrinken, um darauf von der Polizei abgeführt zu werden, – und damit wäre eine Woche ausgefüllt. Wohin aber soll der Mensch gehn? Wenigstens kann man an ihm jedesmal, wenn er ein ähnliches Ziel erreicht hat, gewissermaßen eine Enttäuschung, etwas Unbeholfenes wahrnehmen. Das Streben nach der Erreichung des Zieles liebt er, das Erreichen aber selbst – nicht mehr so ganz; und das ist natürlich äußerst lächerlich. Kurz: der Mensch ist schon lächerlich von Natur; in allem zusammengenommen ist augenscheinlich ein Kalauer enthalten. Doch Zweimalzwei-ist-vier – bleibt immerhin eine verteufelt unerträgliche Sache. Zweimalzwei-ist-vier, das ist meiner Meinung nach nur eine unverschämte Frechheit! Zweimalzwei-ist-vier steht wie ein frecher Bengel mit den Händen in den Hosentaschen mitten auf unserer Straße und spuckt bloß nach rechts und links. Ich gebe ja widerspruchslos zu, daß zweimalzwei-ist-vier eine ganz vortreffliche Sache ist, doch, wenn man schon einmal lobt, so ist auch zweimal-zwei-ist-fünf zuweilen ein allerliebstes Sächelchen.

Und warum sind Sie so fest, so feierlich überzeugt, daß ausschließlich das Normale und Positive – mit einem Wort, daß nur die Wohlfahrt dem Menschen vorteilhaft sei? Sollte sich diese Ihre Vernunft nicht vielleicht täuschen in dem, was sie Vorteile nennt? Denn es kann doch sein, daß der Mensch nicht nur die Wohlfahrt allein liebt? Vielleicht liebt er ganz ebenso sehr das Leiden? Vielleicht bringt ihm das Leid ebenso viel Gewinn, wie die Wohlfahrt? Und der Mensch liebt zuweilen wirklich das Leiden, bis zur Leidenschaft kann er es lieben, – bitte, das ist Tatsache. Da braucht man sich nicht mehr an die Weltgeschichte zu halten; man frage sich selbst, wenn man nur ein Mensch ist und zum mindesten ein wenig gelebt hat. Was meine persönliche Meinung anbetrifft, so ist nichts als Wohlfahrt lieben geradezu unanständig. Ob’s gut oder schlecht ist, – aber irgend etwas zerbrechen ist mitunter gleichfalls äußerst angenehm. Ich bin ja eigentlich nicht gerade für das Leiden, doch natürlich auch nicht für die Wohlfahrt. Ich bin für ... den Eigenwillen und dafür, daß ich mich zu jeder Zeit auf ihn verlassen kann. Das Leiden wird z. B. in Vaudevilles nicht zugelassen, das weiß ich. Im Kristallpalast ist es ja auch undenkbar: Leiden ist Zweifel, ist Verneinung, was aber gibt es im Kristallpalast, worüber man in Zweifel geraten könnte? Währenddessen aber bin ich überzeugt, daß der Mensch auf das wirkliche Leiden, d. h. auf Zerstörung und Chaos niemals verzichten wird. Das Leiden – ja, das ist doch die einzige Ursache der Erkenntnis! Wenn ich auch zu Anfang behauptet habe, daß die Erkenntnis meiner Meinung nach für den Menschen das größte Unglück ist, so weiß ich doch, daß der Mensch es liebt und gegen keine Befriedigungen eintauschen würde. Die Erkenntnis steht z. B. unendlich höher als Zweimalzwei. Nach den Zweimalzweien, versteht sich, bleibt ja nicht nur nichts mehr zu tun, sondern auch nichts mehr zu erkennen übrig. Alles, was dann noch möglich sein wird, ist – seine fünf Sinne zu verstopfen und sich in Selbstanschauung zu versenken. Nun, und wenn es bei der Selbstanschauung auch zum selben Resultat kommen sollte, daß es nichts zu tun geben wird, so wird man wenigstens sich selbst mitunter zerfleischen können, das aber ermuntert doch immerhin. Wenn’s auch rückständig ist, so ist es doch, was man dagegen auch sagen mag, immer besser als nichts tun.

X.

Sie, meine Herren, glauben an einen ewig unzerstörbaren Kristallpalast, d. h. also an etwas, dem man heimlich weder die Zunge zeigen noch eine lange Nase machen kann. Ich aber fürchte diesen Palast, gerade weil er aus Kristall und ewig unzerstörbar ist, und weil man ihm nicht einmal heimlich wird die Zunge zeigen können.

Denn sehen Sie mal: wenn an Stelle des Palastes ein Hühnerstall wäre und es regnete, so würde ich vielleicht auch in den Hühnerstall kriechen, um nicht naß zu werden, doch würde ich trotzdem nicht aus bloßer Dankbarkeit den Hühnerstall für einen Palast halten, einzig weil er mich vor dem Regen beschützt hat. Sie lachen, Sie sagen, daß in diesem Fall der Hühnerstall und ein großes Wohnhaus – ein und dasselbe wären. Gewiß, antworte ich, wenn man nur zu dem Zweck leben müßte, um nicht naß zu werden.

Was soll ich aber tun, wenn ich es mir nun einmal in den Kopf gesetzt habe, daß man nicht nur zu dem Zweck lebt, und daß, wenn man schon einmal lebt, dann auch in Wohnhäusern leben sollte. Das ist meine Überzeugung, das sind meine Wünsche, und die werden Sie nur dann aus mir herausreißen können, wenn es Ihnen zuerst gelingt, sie zu verändern. Nun gut, verändern Sie mich, verführen Sie mich zu etwas Anderem, geben Sie mir ein anderes Ideal. Vorher aber werde ich einen Hühnerstall doch nicht für einen Palast halten. Mag es sogar so sein, daß der Kristallpalast nur Aufschneiderei ist, daß man ihn nach den Naturgesetzen überhaupt nicht als möglich annehmen kann, und daß ich ihn mir nur infolge meiner eigenen Dummheit ausgedacht habe, infolge einiger alter irrationaler Angewohnheiten unserer Generation. Was geht es aber mich an, ob man ihn annehmen kann oder nicht. Bleibt sich das denn nicht ganz gleich, wenn er nur in meinen Wünschen vorhanden ist, oder, besser gesagt, so lange vorhanden ist, wie meine Wünsche vorhanden sind? Vielleicht belieben Sie wieder, über mich zu lachen? Nur zu! Ich nehme Ihren ganzen Spott gerne hin, doch werde ich nicht sagen, daß ich satt bin, wenn ich essen will; ich weiß, daß ich mich mit einem Kompromiß nicht zufrieden geben werde, mit einer unendlichen periodischen Null, bloß weil sie nach den Naturgesetzen wirklich vorhanden ist. Ich werde niemals sagen, die Krone meiner Wünsche sei – eine Mietskaserne mit Wohnungen für die Armen und auf alle Fälle mit dem Aushängeschild irgend eines jüdisch-deutschen Zahnarztes. Vernichten Sie meine Wünsche, verwischen Sie die Bilder meiner Ideale, zeigen Sie mir irgend etwas Besseres, und ich werde Ihnen glauben. Meine Herren, Sie wollen mir vielleicht sagen, es lohne sich nicht, unsere Bekanntschaft weiter fortzusetzen? In dem Falle aber könnte ich Ihnen von mir aus dasselbe sagen. Wir diskutieren ja im Ernst. Wollen Sie mich jedoch Ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr würdigen, so werde ich Sie nicht weiter belästigen. Meinetwegen. Ich werde Sie ja sowieso nicht grüßen.

Ich habe meinen dunklen Winkel, habe meinen Untergrund.

Vorläufig aber lebe und wünsche ich noch, – und daß mir meine Hand verdorre, wenn ich auch nur einen einzigen Ziegelstein zum Bau solch einer Mietskaserne bringe! Beachten Sie bitte weiter nicht, daß ich vorhin den Kristallpalast, wie ich vorgab, aus dem einen Grunde ablehnte, weil man ihm nicht die Zunge zeigen könne. Ich habe das keineswegs gesagt, weil ich es etwa so liebe, meine Zunge herauszustecken. Ich ... vielleicht hat es mich nur geärgert, daß es unter all Ihren Gebäuden bis jetzt noch kein einziges gibt, dem man auch nicht die Zunge zeigen wollte. Im Gegenteil, ich wäre sogar gern bereit, mir aus lauter Dankbarkeit die Zunge ganz und gar abschneiden zu lassen, wenn man mir dafür garantiert, daß mich dann niemals mehr der Wunsch anwandeln wird, sie noch herauszustecken. Was kann ich dafür, daß mir dieses niemand garantiert, und daß man sich mit Mietswohnungen begnügen muß! Warum bin ich denn mit solchen Wünschen geschaffen? Sollte ich denn wirklich nur geschaffen sein, um zur Überzeugung zu kommen, daß mein ganzer innerer Mensch nichts als Betrug ist? Sollte wirklich der ganze Zweck meines Daseins nur darin liegen? Glaub’s nicht.

Doch, übrigens, wissen Sie was: ich bin überzeugt, daß man unsereinen, ich meine, solch einen Untergrundmenschen, im Zaum halten muß. Er ist wohl fähig, vierzig Jahre lang stumm im dunkelsten Winkel zu sitzen, dafür aber geht er denn auch sofort durch, wenn er einmal ans Tageslicht kommt, dann redet er, redet er, redet er ...

XI.

Das Resultat, meine Herren: am besten ist – überhaupt nichts tun! Lieber kontemplative Inertie! Und darum – es lebe der dunkle Untergrund! Ich habe zwar gesagt, daß ich den normalen Menschen bis zur grünsten Galle beneide, doch in jenen Verhältnissen, in denen ich ihn sehe, will ich nicht er sein – obgleich ich trotzdem nicht aufhören werde, ihn zu beneiden. Nein, nein, der Untergrund ist in jedem Fall vorteilhafter! In ihm kann man wenigstens ... Ach! Ich lüge ja schon wieder, sogar hier lüge ich! Ich lüge, weil ich ja selbst weiß, wie zweimal-zwei-ist-vier weiß, daß der Untergrund keineswegs besser ist, sondern etwas Anderes, ganz Anderes, nachdem ich mich sehne, über die Maßen sehne, und das ich doch nicht finden kann! Der Teufel hole den Untergrund!

Ja, wissen Sie, was dieses „Besser“ wäre: das wäre – wenn ich selbst nur an irgend etwas von dem glauben könnte, was ich soeben geschrieben habe. Ich schwöre Ihnen doch, meine Herren, daß ich keinem einzigen, aber auch wirklich keinem einzigen Wort von all dem, was ich geschrieben habe, glaube! Das heißt, schließlich glaube ich ja auch, doch im selben Augenblick fühle und argwöhne ich, weiß wirklich nicht warum, daß ich wie ein Schuster lüge.

„Ja, wozu haben Sie denn das alles geschrieben?“ fragen Sie mich.

Warten Sie mal, ich werde Sie auf vierzig Jahre ohne jede Beschäftigung in einen Keller einsperren, und dann nach vierzig Jahren zu Ihnen kommen, um mich zu erkundigen, wie weit Sie es gebracht haben. Kann man denn einen Menschen vierzig Jahre lang ohne Arbeit allein lassen?

„Und Sie schämen sich nicht einmal!?“ werden Sie mir vielleicht mit verächtlichem Kopfschütteln zurufen. „Sie lechzen nach dem Leben und wollen dabei doch die Lebensfragen mit logischem Unsinn lösen? Und wie zudringlich, wie frech Ihre Ausfälle sind, und, zu gleicher Zeit, wie fürchten Sie sich doch! Sie reden Unsinn und finden Gefallen an ihm; Sie sagen Frechheiten, wegen deren Sie sich fürchten, und für die Sie ununterbrochen um Entschuldigung bitten. Sie versichern, Sie fürchteten nichts, und währenddessen bemühen Sie sich doch, unsere gute Meinung zu erschmeicheln. Sie versichern, Sie knirschten mit den Zähnen, und zu gleicher Zeit reißen Sie Witzchen, um uns zu erheitern. Sie wissen, daß Ihre Witze nicht geistreich sind, doch sind Sie mit ihrem literarischen Wert augenscheinlich zufrieden. Es ist möglich, daß Sie vielleicht wirklich gelitten haben, doch achten Sie ihre Leiden nicht im Geringsten. In Ihnen steckt allerdings auch Wahrheit, doch was Ihnen gänzlich fehlt, ist Keuschheit; aus kleinlicher Ruhmsucht tragen Sie Ihre Wahrheit zur Schau, zu Schimpf und Schande auf den Markt ... Sie wollen, wie’s scheint, tatsächlich etwas sagen, doch aus Furcht verstecken Sie Ihr letztes Wort, denn Sie haben keinen Mut, es auszusprechen. Sie haben ja nur feige Gemeinheit. Sie rühmen sich mit Ihrer Erkenntnis, doch wirklich überzeugt sind Sie von keiner einzigen: Sie schwanken zwischen allen Erkenntnissen hin und her, denn wenn Ihr Verstand auch arbeitet, so ist doch Ihr Herz von Verderbnis beschmutzt, ohne ein reines Herz jedoch – wird man niemals zu voller, rechter Erkenntnis gelangen. Und wie zudringlich Sie sind, wie Sie sich verstellen! Alles ist bei Ihnen Lüge, Lüge, Lüge!“

Selbstverständlich habe ich diese Ihre Worte mir selbst ausgedacht. Die kommen gleichfalls aus dem Untergrund. Dort habe ich vierzig Jahre lang auf diese Ihre Worte durch eine kleine Spalte gelauscht. Ich habe sie mir selbst ausgedacht ... das ist ja doch alles, was bei meinem Denken herausgekommen ist. Was Wunder, wenn ich sie schon auswendig hersagen kann, und wenn sie literarische Form angenommen haben ...

Sollte es möglich sein, wäre es wirklich möglich, daß Sie tatsächlich so leichtgläubig sind und faktisch glauben, ich würde alles, was ich geschrieben habe, drucken lassen und es dann noch Ihnen zu lesen geben? Und dann ist mir noch eines rätselhaft: warum nenne ich Sie „meine Herren“, warum wende ich mich an Sie, ganz als ob ich mich wirklich an Leser wendete? Geständnisse, wie ich sie zu machen beabsichtige, läßt man nicht drucken, und gibt man nicht anderen zu lesen. Wenigstens habe ich nicht so viel Festigkeit in mir, um so etwas zu tun, und ich halte es auch für überflüssig, sie zu haben. Aber, sehen Sie, mir ist ein phantastischer Gedanke in den Kopf gekommen, und nun will ich ihn unbedingt aussprechen. Es handelt sich um folgendes:

In den Erinnerungen eines jeden Menschen gibt es Dinge, die er nicht allen mitteilt, sondern höchstens seinen Freunden. Aber es gibt auch Dinge, die er nicht einmal den Freunden aufdeckt, sondern nur sich selbst, ja und auch das nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Endlich gibt es aber auch noch Dinge, die der Mensch sogar sich selbst zu sagen sich fürchtet, und solcher Dinge sammelt sich bei jedem anständigen Menschen eine ganz beträchtliche Menge an. Und zwar läßt sich sogar folgendes sagen: je mehr er ein „anständiger Mensch“ ist, desto mehr wird er solcher Dinge haben. Wenigstens habe ich mich erst vor ganz kurzer Zeit entschlossen, mich einiger meiner früheren Erlebnisse zu erinnern, bis dahin aber umging ich sie immer mit einer gewissen Unruhe. Jetzt jedoch, da ich nicht nur an sie denke, sondern mich sogar entschlossen habe, sie niederzuschreiben, jetzt will ich gerade erproben: kann man denn wenigstens sich selbst gegenüber ganz und gar aufrichtig sein, ohne die Wahrheit zu fürchten? Bei der Gelegenheit: Heine behauptet, wahrheitsgetreue Autobiographien gäbe es überhaupt nicht, der Mensch könne niemals die ganze Wahrheit über sich schreiben. Seiner Meinung nach hat z. B. Rousseau in seinen Bekenntnissen bestimmt über sich selbst gelogen, und sogar bewußt gelogen, aus Ruhmsucht. Ich bin überzeugt, daß Heine recht hat; ich verstehe sehr gut, wie man sich zuweilen einzig aus Ruhmsucht ganze Verbrechen aufschwätzen kann, und ich begreife auch vollkommen, welcher Art diese Ruhmsucht ist. Doch Heine urteilte über einen Menschen, der vor dem Publikum beichtete. Ich jedoch schreibe nur für mich und erkläre hiermit ein für alle Mal, daß ich, wenn ich auch so schreibe, als ob ich mich an meine Leser wende, es nur zum Schein tue, weil es mir so leichter ist, zu schreiben. Es ist also nur eine gewisse Form bei mir, eine ganz bedeutungslose Redewendung; Leser werde ich niemals haben. Übrigens habe ich das ja schon einmal gesagt ...

Ich will mich in der Redaktion meiner Aufzeichnungen durch nichts beeinflussen lassen. Ein besonderes System werde ich nicht anwenden. Werde schreiben, was mir gerade einfällt.

Nun, sehen Sie, da könnten Sie mich jetzt mit vollem Recht fragen: „Warum treffen Sie denn, wenn Sie wirklich nicht auf Leser rechnen, mit sich selbst und dazu noch schriftlich solche Verabredungen, wie z. B., daß Sie kein System einführen würden, daß Sie alles so niederschreiben wollten, wie es Ihnen einfällt u. s. w.? Wozu erklären Sie so viel? Warum entschuldigen Sie sich?“

„Ja, seht doch mal!“

Hierin liegt übrigens die ganze Psychologie. Es kann aber auch sein, daß ich einfach nur ein Feigling bin. Aber es kann auch sein, daß ich mir absichtlich ein Publikum ausdenke, um mich in der Zeit, in der ich schreibe, anständiger zu benehmen. Gründe kann es doch wirklich zu Tausenden geben.

Aber noch eines: warum eigentlich, zu welch einem Zweck will ich denn schreiben? Wenn es nicht für ein Publikum geschieht, so könnte man sich alles dessen doch auch so, einfach in Gedanken, erinnern, ohne es zu Papier zu bringen?

Stimmt. Aber auf dem Papier nimmt es sich doch gewissermaßen feierlicher aus, geschrieben liegt etwas eindringlicheres darin, es wird mehr wie Gericht über sich selbst sein, der Stil wird sich entwickeln. Außerdem: vielleicht wird mir das Aufschreiben wirklich Erleichterung bringen. Augenblicklich bedrückt mich ganz besonders eine dumme Erinnerung. Vor einigen Tagen fiel mir diese Geschichte plötzlich ein, und seit der Zeit kann ich sie nicht mehr los werden, ganz wie ein lästiges musikalisches Motiv, das einem zuweilen nicht aus den Ohren will. Und doch muß ich mich endlich von ihr befreien. Solcher Erinnerungen habe ich zu Hunderten; zuweilen aber löst sich aus den Hunderten eine einzige, irgend eine, die dann anfängt, mich zu quälen. Aus einem unbestimmten Grunde glaube ich, daß ich mich von ihr befreien werde, wenn ich sie niederschreibe. Warum soll ich’s nicht versuchen?

Und dann: ich habe es langweilig, habe nie etwas zu tun. Schreiben aber ist doch immerhin so etwas wie eine Arbeit. Man sagt, daß der Mensch durch Arbeit gut und ehrlich werde. Nun, da hätten wir wenigstens eine Chance.

Es schneit. Nasser, gelber, schwerer Schnee. Gestern schneite es gleichfalls, und auch vor einigen Tagen hat es geschneit. Ich glaube, dieser nasse Schnee war die Ursache, warum mir jene Geschichte, die ich jetzt nicht mehr los werden kann, wieder einfiel. So mag denn auch meine kleine Erzählung so heißen: Bei nassem Schnee.