Herr Prochartschin.

Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第12章

Herr Prochartschin.

Eine Erzählung.

In der Wohnung Ustinja Fedorownas hatte sich im allerdunkelsten und bescheidensten Winkel Semjon Iwanowitsch Prochartschin eingemietet, ein älterer, nüchterner und vernünftig denkender Mensch. Da Herr Prochartschin bei seinem kleinen Posten ein nur seinen dienstlichen Fähigkeiten entsprechendes Gehalt bezog, so konnte Ustinja Fedorowna auf keine Weise mehr als fünf Rubel monatlich für diesen Winkel von ihm verlangen. Einige behaupteten, sie hätte dabei eine besondere Berechnung gehabt; aber wie dem auch war, jedenfalls wurde Herr Prochartschin all diesen bösen Zungen zum Trotz ihr Günstling – eine Auszeichnung, die nur in anständigem und ehrenhaftem Sinne zu verstehn ist. Ich muß hier bemerken, daß Ustinja Fedorowna eine sehr achtenswerte und wohlbeleibte Dame war, die einerseits eine besondere Vorliebe fürs Essen und Kaffeetrinken hatte, und andrerseits dann wieder übermäßiges Fasten liebte, eine Dame, die bei sich etliche solcher Winkelmieter hatte, und zwar sogar mehrere, die das Doppelte von dem zahlten, was sie von Semjon Iwanowitsch erhielt, und die, wenn sie nicht friedlich waren – denn sie waren alle bis auf den Letzten „böse Spötter“ – sehr in ihrer Achtung fielen, so daß sie diese Herren, wenn sie nicht ihr Logis bezahlt hätten, nicht nur nicht bei sich aufgenommen, sondern auch nicht einmal in ihrer Wohnung empfangen haben würde. Zum Günstling wurde Semjon Iwanowitsch erst, nachdem man den „Einen“ auf den Friedhof gebracht hatte. Dieser „Eine“ außer Diensten hatte es aber, obgleich er nur ein Auge und ein einziges Bein besaß, die er nach seinen Worten alle beide aus Tapferkeit verloren, nichtsdestoweniger verstanden, die Geneigtheit Ustinja Fedorownas zu erringen. Und wahrscheinlich wäre er noch lange ihr allertreuester Gehilfe und Pensionär geblieben, wenn er sich nicht bedauerlicher Weise zu Tode getrunken hätte. Aber das war schon früher gewesen, als Ustinja Fedorowna noch auf den Peski[4] wohnte und nur drei Mieter hatte, von denen ihr dann später beim Umzug in die neue Wohnung, in der sie sich auf weit größerem Fuße einrichtete und wo sie zehn Pensionäre hielt, nur Herr Prochartschin gefolgt war.

Ob nun Herr Prochartschin unverbesserliche Mängel hatte, oder ob nun an seinen Kameraden die Schuld lag, jedenfalls konnte man sich, wie es schien, beiderseits von Anfang an nicht gut verstehn. Hierbei sei erwähnt, daß alle neuen Mieter Ustinja Fedorownas unter einander wie die leiblichen Brüder lebten; einige von ihnen dienten sogar zusammen und alle verspielten sie ihr Monatsgehalt schon am ersten, wenn sie sich zum Kartenspiel zusammentaten; sie freuten sich auch zusammen ihres Lebens „in den schäumenden Augenblicken des Erdendaseins“, wie sie sich ausdrückten, und sie liebten es, vom Hohen und Erhabenen zu sprechen, obgleich sich bei diesem Thema nie ein Streit vermeiden ließ; da aber Vorurteile in ihrer Gesellschaft verpönt waren, so wurde die allgemeine Harmonie doch nie dabei ganz aufgehoben. Von diesen Winkelmietern waren besonders bemerkenswert: Mark Iwanowitsch, ein kluger und belesener Mensch; darauf Oplewanjeff, Prepolowenko – gleichfalls ein bescheidener und guter Mensch –, dann Sinowij Prokoffjewitsch, dessen Ideal es war, in die höhere Gesellschaft zu kommen; zuletzt seien noch erwähnt der Schreiber Okeanoff – der seiner Zeit Semjon Iwanowitsch Prochartschin beinahe die Siegespalme des Bevorzugten und Günstlings streitig gemacht hätte –, Ssudjbin, Kantareff und noch andere. Allen diesen Leuten war Semjon Iwanowitsch scheinbar kein Kamerad. Böses wünschte ihm zwar keiner von ihnen, umsoweniger, als sie gleich von Anfang an Prochartschin Gerechtigkeit widerfahren ließen und mit den Worten Mark Iwanowitschs vollkommen übereinstimmten, nämlich daß Prochartschin ein friedlicher und guter Mensch sei – allerdings kein Weltmann, dafür aber auch kein Schmeichler –, daß er natürlich seine Fehler habe, im Übrigen aber, falls er einmal leiden sollte, dieses doch nur wegen gänzlichen Mangels eines persönlichen Vorstellungsvermögens geschehen könnte. Doch nichtsdestoweniger konnte Herr Prochartschin, obgleich man ihn auf diese Weise ungefragt eines eigenen Vorstellungsvermögens beraubt hatte, weder mit seiner Figur, noch mit seinen Manieren jemanden von einem für ihn günstigen Standpunkte aus in Erstaunen setzen, worüber die Spötter sich dann andrerseits natürlich gleich zu belustigen hatten. Aber, wie gesagt, Mark Iwanowitsch, die Autorität in höheren Fragen, hatte ja öffentlich und formell Semjon Iwanowitsch in den Schutz genommen, und ziemlich geschickt in einem schönen, blütenreichen Stil erklärt, daß Prochartschin ein erfahrener und solider Mensch sei, der schon längst alles Elegische und Romantische im Leben abgestreift hätte. Also trug denn doch Semjon Iwanowitsch, wenn er sich mit den anderen nicht einzuleben verstand, ganz allein die Schuld daran.

Was allen zuerst auffiel, war zweifellos Semjon Iwanowitsch’s sparsame Haushaltung und sein schmutziger Geiz. Das bemerkte man gar bald und setzte es ihm dann auch sofort auf die Rechnung. Semjon Iwanowitsch konnte z. B. niemals und niemandem seine Teekanne leihen, wenn auch nur auf einen Augenblick; und das war um so mehr unrecht von ihm, als er selbst fast nie Tee trank, sondern nur zuweilen, wenn er dessen sehr bedurfte, einen angenehmen Aufguß von Kamillentee und anderen heilsamen Kräutern, von denen er große Vorräte bei sich aufbewahrte, in dieser Teekanne zu kochen pflegte. Übrigens speiste er auch nicht so, wie die anderen Mieter. Niemals z. B. erlaubte er sich das ganze Mittagessen, das Ustinja Fedorowna täglich ihren Pensionären verabfolgte, zu verspeisen. Das Mittagessen kostete fünfzig Kopeken; Semjon Iwanowitsch aß aber nur für fünfundzwanzig Kopeken und überstieg diese Summe kein einziges Mal. Er aß entweder die Kohlsuppe mit Piroggen oder den Braten, – und sehr oft aß er weder das Eine noch das Andere, sondern irgend einen Mehlbrei mit Zwiebeln oder saure Milch mit gesalzener Gurke, was weit billiger war. Wenn er aber seine natürlichen Instinkte nicht mehr überwinden konnte, so kehrte er wieder zu seiner halben Portion Mittagessen zurück ...

Ich muß gestehen, daß ich mich niemals entschlossen hätte, von solchen niedrigen und sogar peinlichen Einzelheiten zu sprechen, wenn nicht diese kleinen Einzelheiten gerade ein vorherrschender Charakterzug des Helden meiner Erzählung gewesen wären; denn Herr Prochartschin war längst nicht so geizig – wie er es selbst manchmal behauptete –, um sich eine regelmäßige und gute Kost zu versagen, sondern er tat es, ohne dabei die Kritik der anderen zu fürchten, bloß zur Befriedigung seiner sonderbaren Launen; das waren: Sparsamkeit und übertriebene Vorsicht. Auch kann ich nicht unterlassen zu bemerken – ich berufe mich hier nur auf die Aussagen Ustinja Fedorownas –, daß er sich in seinem ganzen Leben nicht entschließen konnte, seine Wäsche waschen zu lassen oder wenigstens sich so selten dazu entschloß, daß man sich mitunter zweifelnd fragen mußte, ob Semjon Iwanowitsch überhaupt Wäsche trug. Wie sie sagte, hat Semjon Iwanowitsch ihr „Täubchen“ zweimal zehn Jahre lang bei ihr einen Winkel gewärmt, Scham kannte er nicht, denn es fehlte ihm nicht nur sein ganzes Erdenleben hindurch immerwährend an Socken, Taschentüchern und anderen unentbehrlichen Gegenständen der Leibesnotdurft, sondern „ich selbst, Ustinja Fedorowna, habe mit eigenen Augen gesehn, dank der Altersrisse des großen Bettschirms, daß er, mein Täubchen, nicht einmal etwas hatte, um sein weißes Körperchen zu bedecken“. Solche Gerüchte verbreiteten sich aber erst nach dem Tode Semjon Iwanowitschs, denn zu seinen Lebzeiten – und das war eine der Hauptursachen aller Zwistigkeiten – konnte er es unter keinen Umständen vertragen, ungeachtet der kameradschaftlichsten Beziehungen, daß irgend jemand seine neugierige Nase in seinen Winkel steckte und wenn auch nur infolge der Risse des alten Bettschirms. Er war ein schweigsamer, unzugänglicher Mensch, der sich auf keine unnütze Unterhaltung einließ. Ratgeber liebte er in keinerlei Gestalt, Vorwitzige aber noch weniger, und konnte er einmal einen von ihnen auf der Stelle packen, so ließ er ihn nicht früher wieder los, als bis er ihm ordentlich die Wahrheit gesagt hatte. „Du dummer Junge Du, behalte Deine Ratschläge für Dich, sieh mal erst in Deine Tasche, mein Herr, und zähle lieber nach, was Du hast!“ Semjon Iwanowitsch war ein einfacher Mensch und sagte zu allen ausnahmslos Du. Auch konnte er es nicht leiden, wenn irgend jemand, der seine Gewohnheiten kannte, nur zum Scherz oder aus Unart ihn fragte, was er denn eigentlich in seinem Koffer aufbewahrte ... Semjon Iwanowitsch besaß nämlich einen sonderbaren Koffer: er stand bei ihm unter dem Bett und wurde von ihm wie ein Augapfel behütet. Obgleich es alle wußten, daß in ihm außer alten Lappen, außer zwei oder drei Paar alter, vertragener Stiefel und überhaupt allem möglichstem Kram so gut wie gar nichts enthalten war, schätzte Herr Prochartschin dieses sein bewegliches Mobiliar doch sehr hoch; ja, einmal ließ er sogar etwas von seiner Absicht verlauten, das alte, aber sehr starke Schloß des Koffers durch ein neues Schloß deutscher Arbeit, das verschiedene kniffliche Sicherheitsvorrichtungen und heimliche Federn haben sollte, zu ersetzen. Als einmal Sinowij Prokoffjewitsch infolge seiner jugendlichen Unbedachtsamkeit einen sehr taktlosen, ja groben Verdacht äußerte, nämlich, daß Semjon Iwanowitsch wahrscheinlich in seinen Koffer hineinsparte, um seinen „Nachkommen“ etwas zu hinterlassen, da waren alle anwesenden Winkelmieter angesichts der außergewöhnlichen Folgen dieser Unbedachtsamkeit Sinowij Prokoffjewitschs einfach sprachlos. Erstens konnte Herr Prochartschin auf solch eine grobe Bemerkung nicht sofort eine anständige Erwiderung finden. Dann aber stürzten über seine Lippen nur Worte ohne jeglichen Zusammenhang, und erst nach langer Zeit konnte man endlich erraten, daß Semjon Iwanowitsch den Sinowij Prokoffjewitsch wegen einer altvergangenen schmutzigen Angelegenheit beschimpfte; darauf prophezeite Semjon Iwanowitsch, daß Sinowij Prokoffjewitsch nie in die höhere Gesellschaft gelangen und ihn der Schneider, dem er noch einen Anzug schuldete, einfach durchprügeln würde, unbedingt gerade durchprügeln, da der „dumme Junge“ doch nicht bezahlen könnte; und „Du dummer Junge“ fügte Semjon Iwanowitsch hinzu, „Du willst zu den Husaren übergehn, aber sieh, ich sage Dir, das wird Dir nicht gelingen, da hast Du es, Du dummer Junge, und so wie die Obrigkeit von Dir alles erfahren wird, wird sie Dich zum Schreiber degradieren; siehst Du jetzt, wie’s ist! Du dummer Junge!“ Darüber schien sich Semjon Iwanowitsch zu beruhigen. Aber siehe da, nachdem er fünf Stunden lang wie in tiefes Nachdenken versunken ruhig dagelegen hatte, fing er plötzlich, zum größten Erstaunen aller, zuerst nur vor sich hin, dann aber wieder an Sinowij Prokoffjewitsch gewandt zu schimpfen an. Damit aber war die Sache auch noch nicht abgetan, denn als am Abend Mark Iwanowitsch und Prepolowenko einen Tee spendierten, da kroch auch Semjon Iwanowitsch aus seinem Bett, setzte sich zu ihnen und steuerte sogar seine fünfzehn oder zwanzig Kopeken dazu bei, und unter dem Vorwand, daß er Tee trinken wollte, fing er an, sich sehr weitschweifig über die Sache auszubreiten: daß er ein armer Mensch wäre und sonst nichts mehr, und daß ein armer Mensch nichts einzuscharren hätte. Bei der Gelegenheit gestand also Herr Prochartschin – und zwar nur darum, weil es einmal zur Sprache gekommen –, daß er ein armer Mensch war; noch vor drei Tagen hätte er den frechen Menschen um einen Rubel anpumpen wollen, jetzt aber würde er es nicht mehr tun, weil der dumme Junge sonst triumphieren könnte ... und sein Gehalt sei gerade so groß, daß es kaum für ihn selbst ausreichte, er aber müßte noch, so arm wie er war und wie es doch alle sahen und wußten, fünf Rubel monatlich seiner Schwägerin nach Twerj schicken, und wenn er sie nicht schicken würde, so würde die Schwägerin sterben, und wenn sie sterben würde, so würde er sich sofort neue Kleider kaufen können ... Und lange noch und ausführlich sprach Semjon Iwanowitsch vom armen Menschen, von den fünf Rubeln und der Schwägerin, und wiederholte dasselbe des stärkeren Nachdrucks halber den Zuhörern so lange, bis er sich endlich selbst ganz verwirrte und verstummte. Aber nach drei Tagen, als schon niemand mehr ihn anzugreifen beabsichtigte und alle ihn vergessen hatten, fügte er plötzlich noch zum Schluß hinzu: „Wenn Sinowij Prokoffjewitsch zu den Husaren geht, so wird man diesem frechen Menschen im Kriege die Beine abschießen und wenn er dann in Holzbeinen betteln gehn wird, und ihn bitten wird: ‚gib mir, guter Mensch, Semjon Iwanowitsch, ein Stückchen Brot!‘, so wird er, Semjon Iwanowitsch, ihm nichts geben und wird diesen übermütigen Menschen Sinowij Prokoffjewitsch nicht einmal ansehn und nur sagen: ‚geh Du nur jetzt mit Deinen Bohnenstangen! Siehst Du jetzt, wie’s ist‘!“

Alles das, wie es ja auch nicht anders möglich war, wirkte sehr sonderbar und zu gleicher Zeit sehr lächerlich. Ohne sich lange zu bedenken, versammelten sich alle Winkelmänner zur weiteren Untersuchung der Verhältnisse Semjon Iwanowitschs und sie entschlossen sich, ihn alle zusammen endgültig anzugreifen. Da es Herr Prochartschin in der letzten Zeit, in der er sich ihrer Kompagnie anschloß, sehr liebte, sich in alles einzumischen und über alles auszufragen, was er wahrscheinlich aus besonderen geheimnisvollen Gründen tat, so verschlechterten sich die beiderseitigen Beziehungen, ohne jegliche vorhergefaßte Absicht, einfach durch diese seine neue Eigenschaft ganz von selbst.

Semjon Iwanowitsch hatte sich nämlich eine sehr schlaue Taktik ausgedacht, mittels der er sich auf anständige Weise des Abends zu den Anderen gesellen konnte, ein Manöver, das dem Leser zum Teil bereits bekannt ist: wenn er sah, daß die Anderen sich zusammentaten, um einen Tee mit Likör oder sonstigen Zutaten zu trinken, so kroch er ganz einfach aus seinem Bett, ging als bescheidener, kluger und liebenswürdiger Mensch zu ihnen und legte seine obligatorischen zwanzig Kopeken auf den Tisch, was bedeuten sollte, daß er sich zu beteiligen wünschte. Die Gesellschaft tauschte darauf verständnisinnge Blicke aus und – Semjon Iwanowitsch wurde einwandlos angenommen. Man bemühte sich zuerst ein anständiges und vernünftiges Gespräch zu führen, darauf wurde aber irgend ein freieres Thema gewählt und allmählich, als ob nichts dabei gewesen wäre, ging man auf die Neuigkeiten über. Nun aber war die Sache die, daß diese Neuigkeiten von dem Erzähler ganz willkürlich erdacht und wiedergegeben wurden. Zum Beispiel erzählte man, wie seine Excellenz Demid Wassiljewitsch gesagt, daß seiner Meinung nach die verheirateten Beamten weit solider wären als die unverheirateten und daher bei der Beförderung den Anderen stets vorzuziehen seien; denn erstens wären sie ruhiger, und zweitens entwickle die Ehe in ihnen viel mehr Fähigkeiten, und darum, fügte der betreffende Erzähler der Nachricht von sich aus hinzu, werde auch er hinfort, um sich auszuzeichnen und etwas erreichen zu können, bemüht sein, sich baldmöglichst mit irgendeiner Fewronja Prokoffjewna zu verehelichen. Oder, zum Beispiel, wie alle bemerkt hätten, daß die Unverheirateten jeglicher angenehmen und guten Manieren eines Weltmannes entbehrten, und deshalb in der Gesellschaft und besonders den Damen nicht gefallen könnten. Um nun ähnlichen Unfug auszurotten, solle von dem Monatsgehalt ein Teil abgezogen werden, und zwar zur Errichtung eines Saales, in dem man das Tanzen erlernen, und bei der Gelegenheit Anstand, gute Manieren, Höflichkeit, Ehrfurcht vor dem Alter, einen festen Charakter, ein gutes Herz und weiß Gott was sonst noch alles erwerben könnte. Ja, es hieße sogar, sagte der Erzähler, daß die Beamten, besonders die älteren und allerältesten, ein Examen in allen Fächern würden ablegen müssen, um schneller einen vorschriftsmäßigen Bildungsgrad zu erreichen und daß infolgedessen viele von ihnen ihre Karten aus der Hand legen müßten ... mit einem Wort, es wurden tausend solcher sinnloser Sachen besprochen, und man tat, als ob man im Ernst an sie glaubte, als ob man selbst davon betroffen wäre: einige machten eine traurige Miene, andere wiegten bedenklich das Haupt und fragten um Rat, was sie tun sollten, um diesem Schicksal zu entgehn? Es versteht sich von selbst, daß ein anderer Mensch, der nicht so gutmütig und ruhig gewesen wäre, wie Herr Prochartschin, sich in das allgemeine Gespräch eingemischt und erklärt haben würde, mit ihren Ansichten nicht übereinstimmen zu können. Aber augenscheinlich war Semjon Iwanowitsch viel zu stumpfsinnig und beschränkt, um einen neuen Gedanken, an den sich sein Verstand noch nicht gewöhnt hatte, sofort zu erfassen, und so war er denn, wenn er einmal irgendwo einen neuen Gedanken hörte, genötigt, ihn erst wochenlang zu bedenken und zu verdauen, um seinen Sinn zu begreifen; gewöhnlich aber verwickelte er sich bei dieser Prozedur dermaßen, daß er ihn dann schließlich nur auf eine ganz besondere, nur ihm eigene Weise überwinden konnte. Infolge dieser Gespräche entpuppten sich bei Semjon Iwanowitsch plötzlich ganz eigenartige und ganz unvorhergesehene Eigenschaften ... Diese Gespräche mit Variationen und Zulagen wurden später sogar in seiner Kanzlei bekannt. Besonderes Aufsehn erregte aber die eine Tatsache, daß Herr Prochartschin, der seit undenklichen Zeiten immer ein und dasselbe Gesicht gehabt hatte, plötzlich um nichts und wieder nichts seine Physiognomie ganz und gar veränderte: sein Gesicht wurde unruhig und er blickte scheu und mißtrauisch um sich; wenn er ging, trat er leise auf, schrak oft zusammen, und mit einem Male liebte er es über alles, sozusagen zur Vollendung seiner neuen Eigenschaften, die Wahrheit zu erforschen. In der Liebe zur Wahrheit brachte er es schließlich so weit, daß er es wagte, sich bei Demid Wassiljewitsch, seinem Chef, selbst nach der Glaubwürdigkeit dieser Gerüchte zu erkundigen, und wenn ich die Folgen dieses Wagnisses verschweige, so geschieht das nur, um Semjon Iwanowitschs Reputation zu schonen. So fanden denn alsbald seine sämtlichen Kollegen, daß er ein Misantrop wäre und den gesellschaftlichen Anstand verachtete. Auch fanden sie, daß viel Phantastisches an ihm war, und auch darin hatten sie Recht; es fiel allgemein auf, daß Semjon Iwanowitsch sich manchmal ganz vergessen konnte, mit offenem Munde unbeweglich und versteinert dasaß und die Feder in der Luft hielt, so daß er mehr dem Schatten eines denkenden Menschen, als einem denkenden Menschen selbst glich. Auch kam es nicht selten vor, daß irgend einer der stumpfenden Schreiber, wenn er plötzlich seinem unruhigen und suchenden Blick begegnete, zusammenfuhr, erzitterte und auf das zu beschreibende Papier ein ganz unnötiges Wort niederschrieb. Die Unzulässigkeit seines Benehmens beunruhigte und beleidigte aufrichtig viele anständige Leute ... Als sich aber an einem schönen Morgen in der Kanzlei das Gerücht verbreitete, daß Herr Prochartschin sogar seinen Bureauchef Demid Wassiljewitsch erschreckt, sich nämlich bei einer Begegnung im Korridor dermaßen eigenartig und sonderbar benommen hatte, daß dieser genötigt gewesen war, ihm auszuweichen, da war man allgemein überzeugt, daß die Entwicklung seines Geistes eine gefährliche Richtung eingeschlagen hatte. Dieses Gerücht kam auch schließlich ihm zu Ohren. Als er es hörte, stand er auf, ging vorsichtig an allen Tischen und Stühlen vorüber, erreichte das Vorzimmer, nahm eigenhändig seinen Mantel vom Kleiderständer, zog ihn an, ging hinaus und – verschwand. Warum er verschwand? Wer kann das wissen! Ob er den Mut vollständig verlor oder ihn etwas anderes fortzog, das mag dahingestellt sein. Jedenfalls war er weder zu Hause noch in der Kanzlei zu finden.

Ich werde nicht das Schicksal Semjon Iwanowitschs durch seine phantastischen Neigungen zu erklären versuchen, doch muß ich bemerken, daß unser Held – nichts weniger als ein Weltmann war, denn früher, als er noch auf den „Peski“ wohnte, d. h. als er noch nicht in diese Kompagnie der Winkelbewohner geraten war, hatte er in einer dumpfen, undurchdringlichen Einsamkeit gelebt. Fast geheimnisvoll kam er einem vor, denn er hatte die ganze Zeit über nur auf seinem Bett hinter dem Schirm gelegen und geschwiegen und zu Niemandem in Beziehung gestanden. Seine beiden alten Miteinwohner, Ustinja Fedorowna sowie der Verstorbene, lebten ebenso zurückgezogen wie er; beide schienen sie nicht weniger geheimnisvoll zu sein, beide lagen sie gleichfalls fünfzehn Jahre lang hinter den Schirmen. In patriarchalischer Ruhe zogen sich die glücklichen dämmerigen Tage und Stunden hin und da alles um sie herum in derselben Ordnung seinen Gang nahm, so erinnerten sich später weder Semjon Iwanowitsch noch Ustinja Fedorowna genau, wann das Schicksal sie eigentlich zusammengeführt hatte. „Ob es zehn Jahre her sind oder schon fünfzehn Jahre, oder vielleicht sogar schon fünfundzwanzig,“ sagte sie ihren neuen Mietern, „daß er, mein Täubchen, bei mir nistet und ich ihm die Seele wärme – wer kann’s wissen?“ – Und darum war es nur natürlich, daß sie äußerst unangenehm erstaunt war, als sich der Held unserer Erzählung, ihr solider, bescheidener Liebling, vor einem Jahr in die Gesellschaft der neuen Winkelbewohner, dieser lärmenden und unruhigen zehn „jungen Kinder“, einmischte.

Das Verschwinden Semjon Iwanowitschs verursachte nicht wenig Aufsehen in den Winkeln. Allein schon, weil er der Günstling Ustinja Fedorownas war und sodann, weil es sich erwies, daß sein Paß, den bis jetzt sie als Wirtin aufbewahrt hatte, plötzlich verschwunden war. Ustinja Fedorowna schluchzte natürlich – was sie in allen kritischen Augenblicken zu tun pflegte; den Einwohnern machte sie zwei ganze Tage lang Vorwürfe, daß sie ihn wie ein armes Küken verjagt hätten, daß sie ihn umgebracht hätten „alle diese bösen Spötter“ und – am dritten Tage jagte sie alle hinaus, ihn zu suchen, mit dem Befehl, den Flüchtling tot oder lebendig einzufangen. Gegen Abend kam als erster der Schreiber Ssudjbin zurück und erklärte, daß er auf seiner Spur wäre, daß er den Flüchtling auf dem Trödelmarkt und noch an anderen Stellen gesehen hätte, daß er ganz in seiner Nähe gestanden beim Feuerschaden in der „schiefen Gasse“, es aber nicht gewagt hätte, ihn anzureden. Eine Stunde darauf erschienen Okeanoff und Kantareff und bestätigten Ssudjbins Aussagen Wort für Wort: auch sie hätten nicht weit von ihm gestanden, ihn anzureden hätten aber auch sie nicht gewagt, und beide hätten sie bemerkt, daß Semjon Iwanowitsch mit dem bekannten Trunkenbold Simoweikin gegangen wäre. Dieser Vagabund war ein schlechter, schmeichlerischer Mensch, der auf Semjon Iwanowitsch ersichtlich einen schlechten Einfluß hatte. Er tauchte gerade eine Woche vor dem Verschwinden Semjon Iwanowitschs mit seinem Freunde Remneff auf, lebte einige Zeit in den Winkeln und erzählte allen, daß er um der Wahrheit willen litt, daß er früher in der Provinz gedient hätte, dann aber, als der Revisor gekommen war, samt seinen Genossen um der Wahrheit willen verjagt worden wäre, daß er dann nach Petersburg gekommen und Porfirij Grigorjewitsch fußfällig gebeten hätte, ihn durch seine Fürsprache in einer Kanzlei unterzubringen, aber daß man ihn, dank seines grausamen Schicksals, auch von dort wieder entfernt hätte, woran nur die Kanzlei die Schuld trüge; in die neugebildete Gesellschaft der Beamten nehme man ihn aber nicht auf, einesteils wegen seiner Unfähigkeit zum Dienst überhaupt, und andrerseits wegen seiner Neigung zu einer anderen, ganz nebensächlichen Sache, – alles zusammen genommen aber doch nur wegen seiner Liebe zur Wahrheit und zu guter Letzt auch noch infolge der Ränke seiner Feinde. Nachdem Herr Simoweikin die Erzählung seiner Lebensgeschichte beendet hatte, während welcher er die ganze Zeit über seinem unrasierten Freunde zugeblinzelt hatte, verabschiedete er sich der Reihe nach von allen, die im Zimmer anwesend waren, auch Awdotja, die Magd, nicht ausgenommen, nannte sie alle seine Wohltäter und sagte noch zum Schluß, daß er allein ein unwürdiger, gemeiner, unsolider und dummer Mensch wäre, und daß gute Menschen sein trauriges Schicksal nicht bemitleiden sollten. Nachdem er dann alle um Schutz angefleht hatte, wurde Herr Simoweikin froh und lustig, küßte Ustinja Fedorowna sogar die Hand, ungeachtet ihrer bescheidenen Versicherungen, daß ihre Hand eine einfache, keine adlige Hand wäre, und versprach am Abend der ganzen Gesellschaft sein Talent in einem besonderen charakteristischen Tanze zu zeigen. Aber am darauffolgenden Tage wurde er vor die Tür gesetzt, – vielleicht weil sein Charaktertanz zu viel Charakter gehabt oder weil er Ustinja Fedorowna nach ihren Worten „beleidigt und erniedrigt“ hatte, sie aber, die selbst mit Jaroslaff Iljitsch bekannt war, folglich, wenn sie nur gewollt, schon längst die Frau eines Oberleutnants hätte sein können. Er ging, kehrte aber wieder zurück, wurde jedoch wieder als ehrlos vertrieben. Da bat er denn Semjon Iwanowitsch, sich seiner anzunehmen, nahm ihm so nebenbei seine neuen Hosen ab und erschien dann in der Eigenschaft als Verführer Semjon Iwanowitschs wieder auf der Bildfläche.

Als nun die Wirtin hörte, daß Semjon Iwanowitsch noch lebte und gesund war, und daß man somit seinen Paß nicht mehr zu suchen brauchte, ließ sie das Trauern und beruhigte sich allmählich. Da fiel es aber einem von der Kompagnie ein, dem Entlaufenen einen feierlichen Empfang zu bereiten, und sofort waren alle dabei: sie öffneten den Riegel des Bettschirmes, hoben ihn etwas weiter ins Zimmer, durchwühlten ein wenig das Bett, nahmen den bekannten Koffer und legten ihn quer auf die Fußstelle des Bettes; darauf machten sie aus den alten Kleidern der Wirtin, aus einem Tuch, einer Haube und einem Schlafrock die „Schwägerin aus Twerj“ und legten diese Puppe „zur Erholung von der Reise“ auf das Lager des Entlaufenen. Bei seiner Ankunft wollten sie ihm dann mitteilen, daß seine Schwägerin angekommen wäre und sich in seiner Ecke eingerichtet hätte. Sie warteten und warteten aber vergeblich! Bis Mitternacht hatte in der Erwartung Mark Iwanowitsch schon seine halbe Monatsgage an Kantareff und Prepolowenko verspielt. Awdotja, die Magd, hatte sich schon vollkommen ausgeschlafen und war bereits zweimal von ihrem Bett aufgestanden, um den Ofen zu heizen. Sinowij Prokoffjewitsch war bis auf die Haut durchnäßt, da er immer wieder auf den Hof hinausgelaufen war, um nachzusehn, ob nicht Semjon Iwanowitsch endlich kam; aber es erschien Niemand: weder Semjon Iwanowitsch, noch der Simoweikin. Endlich legten sich alle schlafen und ließen für alle Fälle die Schwägerin auf seinem Bett. Erst um vier Uhr nachts wurde an die Pforte geklopft, und zwar so heftig, daß alle Erwartenden für ihre Mühen reichlich belohnt waren. Das war er, er selbst, Semjon Iwanowitsch, Herr Prochartschin, nur befand er sich in solch einem Zustande, daß alle entsetzt die Mäuler aufsperrten und keiner von ihnen mehr an die Schwägerin dachte. Der Verlorengegangene war ganz durchnäßt und besinnungslos. Ihn brachte, oder richtiger gesagt, trug auf den Schultern ein zerlumpter Droschkenkutscher. Auf die Frage der Wirtin, wo sich denn der Arme so betrunken hatte, antwortete jener: „Betrunken ist er nicht und ist es auch gar nicht gewesen; das kann ich Dir schon versichern, wahrscheinlich hat ihn eine Ohnmacht überfallen oder ein Krampf, oder der Schlag hat ihn gerührt.“ Man untersuchte ihn, brachte den Schuldigen an den Ofen, und überzeugte sich, daß er weder betrunken, noch vom Schlag gerührt war, sondern daß ihn irgend eine andere Sünde überfallen haben mußte. Auch konnte Semjon Iwanowitsch seine Zunge nicht bewegen, ihn schüttelte nur ein Fieberfrost und er blinkerte mit den Augenlidern und stierte erstaunt den einen oder anderen Zuschauer in ihren Nachtkostümen an. Man fragte darauf den Kutscher, woher er ihn gebracht? „Von irgend woher“ antwortete dieser, „der Henker weiß woher, Herren sind nicht Herren, wenn sie spazieren gegangen und lustige Herren sind; haben sie sich geprügelt oder sonst was, Gott weiß es, was für welche es waren, lustige Herren sind gute Herren!“ Man trug Semjon Iwanowitsch auf sein Bett. Als Semjon Iwanowitsch aber seine „Schwägerin“ berührte und seinen geliebten Koffer wiedersah, da schrie er auf, bedeckte ihn mit seinem Körper, mit seinen Händen und starrte die Anwesenden mit verzweifeltem, aber sonderbar entschlossenem Blick an; dieser Blick schien auszudrücken, daß er eher zu sterben bereit war, als auch nur den hundertsten Teil seiner armseligen Habe irgend jemandem abzutreten ...

Semjon Iwanowitsch lag so zwei oder drei Tage lang in Fieber, durch seinen Bettschirm von jeglicher Gotteswelt und all ihren Lebensstürmen abgeschieden. Schon am nächsten Morgen hatten ihn alle vergessen, was ja schließlich ganz in der Ordnung war; die Zeit flog dahin, Stunden folgten auf Stunden, Tage auf Tage. Halbschlaf und Träume umlagerten den heißen Kopf des Kranken; er lag ganz ruhig und still, stöhnte nicht und klagte nicht; im Gegenteil, er schwieg und drückte sich an sein Bett wie ein Hase, der sich vor Angst an die Erde preßt, wenn er die Jagd hört. Zu einer gewissen Tageszeit trat in der Wohnung eine langandauernde melancholische Stille ein – das Zeichen, daß alle Einwohner sich entfernt hatten, in den Dienst gegangen waren, und der vor sich hinträumende Semjon Iwanowitsch konnte so viel er wollte damit seinen Kummer zerstreuen, daß er dem Geräusch in der nahen Küche zuhörte, wo die Wirtin herumhantierte, oder den gleichmäßigen schlurrenden Schritten Awdotja’s, der Magd, die von Zimmer zu Zimmer ging und krächzend und stöhnend alle Winkel aufräumte, Staub wischte und die Ordnung wieder herstellte. Ganze Stunden vergingen so in dieser schläfrigen, faulen, eintönigen Weise, wie das Wasser, das man regelmäßig in der Küche vom Krahn ins Becken tröpfeln hörte. Dann kehrten die Einwohner wieder zurück, einzeln oder zusammen, und Semjon Iwanowitsch hörte, wie sie über das Wetter schimpften, essen wollten, lärmten, sich herumzankten, sich wieder versöhnten, Karten spielten, und wie die Tassen klirrten, wenn sie sich anschickten, den Tee zu trinken. Semjon Iwanowitsch machte ganz mechanisch den Versuch aufzustehn, um wie gewöhnlich an dem Tee Teil zu nehmen, schlief aber mittlerweile wieder ein, und so schien es ihm denn, daß er schon lange am Teetisch saß und sich mit ihnen unterhielt, und daß Sinowij Prokoffjewitsch den Zufall benutzte, um in das Gespräch ein Projekt über die Schwägerinnen im allgemeinen einzuflechten und im besonderen über die moralischen Verpflichtungen gewisser guter Leute ihnen gegenüber. Da beeilte sich Semjon Iwanowitsch, sich zu verteidigen, aber siehe da, ihm wurde von allen Gegnern auf einmal eine so mächtig ausgedrückte Antwort zu Teil, daß Semjon Iwanowitsch sich weiter nichts Schöneres ausdenken konnte, als schnell davon zu träumen, daß es der erste des Monats ist und er in seiner Kanzlei viele Silberstücke erhält, und wie es ihm auf der Treppe so ganz ohne Schwierigkeiten gelingt, die Hälfte der Summe in seinem Stiefel verschwinden zu lassen, immer noch dort auf der Treppe. Und ohne sich auch nur im geringsten darüber aufzuhalten, daß er sich in seinem Bett befand, beschloß er, nach Hause zu gehn und das Nötige für Kost und Logis der Wirtin zu bezahlen, darauf noch irgend etwas durchaus Nötiges zu kaufen, und unbeabsichtigt, wie zufällig, Jedem zu zeigen, daß ihm nach der Abrechnung nichts mehr verblieben, daß er jetzt nichts mehr habe, um der Schwägerin zu schicken, bei der Gelegenheit seine Schwägerin zu beklagen, viel von ihr morgen und übermorgen zu sprechen und in zehn Tagen noch so nebenbei ihrer Armut zu erwähnen, damit die Kameraden es nicht vergäßen. Wie er das aber noch gerade so beschließt, sieht er plötzlich, daß Andrei Jefimowitsch, dieser selbe kleine ewig schweigsame und kahlköpfige Beamte, der in der Kanzlei im dritten Zimmer von Semjon Iwanowitsch seinen Platz hatte, und der ihm in fünfundzwanzig Jahren kein einziges Wort gesagt, dort auf der Treppe neben ihm steht und gleichfalls seine Silberrubel zählt, mit dem Kopf schüttelt und ihm sagt: „Ja ja, das Geld! Wenn kein Geld ist, ist auch kein Brei,“ und wie er die Treppe hinuntergeht, fügt er noch hinzu: „und ich habe sieben Kinder.“ Dabei gab der rothaarige Mensch, augenscheinlich gleichfalls ohne sich darum zu bekümmern, daß er nur ein Gespenst war, mit der Hand die Größe seiner Sprößlinge an, indem er sie eine Elle hoch über dem Fußboden hielt und sie dann ruckweis niedriger senkte; darauf murmelte er noch, daß der Älteste das Gymnasium besuche, blickte dann Semjon Iwanowitsch unwillig an, ganz als ob dieser daran Schuld wäre, daß er ihrer sieben hatte – zog seine Mütze auf die Augen, schlug den Mantel zu, kehrte nach links um und verschwand. Semjon Iwanowitsch erschrak, obgleich er von seiner Unschuld an der Zahl der Sieben unter einem Dach vollständig überzeugt war, aber es kam ihm doch so vor, daß Niemand anders als gerade er die Ursache des Elends sein mußte. Er erschrak, wie gesagt, und fing an zu laufen, denn es schien ihm, daß der rothaarige Schreiber zurückkehrte, ihn verfolgte und ihm durchaus das empfangene Monatsgehalt nehmen wollte, sich auf die unumstößliche Zahl Sieben berief und jegliche Verpflichtung Semjon Iwanowitschs, seine Schwägerin zu unterstützen, einfach ableugnete. Prochartschin lief und lief, der Atem ging ihm aus ... neben ihm liefen eine Menge Menschen und bei allen klapperte Geld in den Taschen: zuletzt liefen alle Menschen, die Feuerwehr stieß in die Trompeten und ganze Volkswellen trugen ihn auf den Schultern zu der Brandstätte, wo er das letzte Mal mit dem Vagabunden gewesen war. Der Vagabund, sonst Herr Simoweikin genannt, befand sich schon dort, empfing ihn feierlich, sorgte sich sehr um ihn, nahm ihn an der Hand und führte ihn mitten in das Gedränge. So wie damals wogte und dröhnte um sie herum die unübersehbare Volksmenge, die sich längs dem Quai der Fontanka auf den zwei Brücken und in allen Straßen und Nebenstraßen der Umgegend anstaute. Ganz wie damals wurden er und der Vagabund auf dem großen Holzplatz wie mit Klammern an einen Zaun gepreßt. Die Zuschauer strömten vom Trödelmarkt und von allen umliegenden Häusern, Scheunen und Baracken herbei. Semjon Iwanowitsch sah und hörte alles wie damals; in seinem Fiebertraum tauchten viele sonderbare Gesichter auf. Er erinnerte sich einiger derselben. Eines von ihnen gehörte dem außerordentlich aufdringlichen Herrn von hohem Wuchs und mit einem meterlangen Schnurrbart, der während des Brandes hinter seinem Rücken gestanden und der ihn aufgemuntert hatte, wenn er seinerseits so etwas wie Begeisterung fühlte, der kühnen Arbeit der Feuerwehr zu applaudieren. Ein anderes Gesicht gehörte dem Burschen, von dem unser Held einen Rippenstoß erhalten hatte, als er im Begriff war, über ihn hinwegzuklettern, um vielleicht irgend jemanden zu retten. Desgleichen tauchte vor ihm die Figur eines Alten auf, der sich noch vor dem Ausbruch des Brandes in die Bude begeben hatte, um Zwieback und Tabak für seinen Mieter einzukaufen, und darauf mit den Sachen in den Händen wie erstarrt dastand und zusehn mußte, wie seine Frau und seine Tochter in Gefahr schwebten, zu verbrennen mitsamt seinen Ersparnissen – fünfunddreißig Rubel, die in der Matratze eingenäht waren. Aber noch deutlicher sah er ein altes Weib – das ihn die ganze Zeit schon in seinen Fantasien verfolgte – in Lumpen, mit einem Krückstock und mit einem Quersack auf dem Rücken. Sie überschrie die Feuerwehr und das Volksgetöse, sie fuchtelte wie wahnsinnig mit dem Krückstock und mit den Armen in der Luft herum, weil man sie von ihren Kindern getrennt und sie dabei zehn Kopeken verloren hatte. Sie schrie und weinte, doch Niemand begriff, was sie haben wollte, auch kümmerte sie sich nicht um den Feuerschaden, nicht um die Menschen, nicht um die Funken und die Asche, die auf sie niederfielen. Plötzlich aber empfand Herr Prochartschin einen furchtbaren Schreck: er sah mit einem Mal, daß auch er nicht dem Unglück entgehn konnte, daß sich dort nicht weit von ihm ein Mann mit feurigem Haar und feurigem Bart erhob und anfing, das ganze Volk auf ihn, Semjon Iwanowitsch, aufzuhetzen. Die Menge wuchs und wuchs, der Mann schrie immer lauter und mit Schrecken erkannte Herr Prochartschin, daß der Mann derselbe Droschkenkutscher war, den er gerade vor fünf Jahren auf eine so unmenschliche Weise betrogen hatte, indem er ohne ihn zu bezahlen durch eine Pforte verschwunden war und sich so schnell als möglich aus dem Staube gemacht hatte. Der verzweifelte Herr Prochartschin wollte sprechen, schreien, aber die Stimme versagte ihm. Er fühlte, wie die ganze Volksmenge ihn wie eine bunte Schlange umwand und zu ersticken drohte. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und – erwachte. Da sah er plötzlich, daß alles brannte, seine ganze Ecke, sein Schirm, die ganze Wohnung mit Ustinja Fedorowna und all ihren Winkelmietern, daß sein Bett, sein Kissen, seine Decke, sein Koffer und zuletzt noch seine teure Matratze brannten! Semjon Iwanowitsch sprang entsetzt aus dem Bett, ergriff die Matratze und lief, sie nach sich ziehend, hinaus. Aber im Zimmer der Wirtin, wohin unser Held ohne jegliche Gêne, barfüßig und im Hemd, gelaufen war, ergriff man den Flüchtling und brachte ihn wieder zurück hinter den Bettschirm, dem es natürlich gar nicht einfiel zu brennen, da es ja nur im Kopfe Semjon Iwanowitschs brannte. So packte man ihn denn in sein Bett ein, wie der herumziehende Komödiant sein Kasperle in den Kasten steckt, nachdem es gelärmt, getobt, alle verprügelt, die Seele dem Teufel verkauft hat und nun zusammen mit dem Teufel und all seinen Feinden bis zur nächsten Vorstellung sein Dasein ruhig in der schmutzigen Schachtel verbringen muß.

In feierlichem Kreise umstanden alle sein Lager und sämtliche Gesichter drückten peinliche Erwartung aus. Endlich kam er zu sich: zuerst zerrte er an seiner Decke und plötzlich zog er aus allen Kräften an ihr, wahrscheinlich um sich vor den Blicken seiner mitfühlenden Kameraden zu verbergen; die Decke aber gab nicht nach. Endlich unterbrach Mark Iwanowitsch als Erster das Schweigen, und als kluger Mensch fing er an, vernünftig auf Semjon Iwanowitsch einzusprechen: erstens, daß er sich beruhigen müsse, zweitens, daß es schlecht sei, so zu erkranken, drittens, daß das nur kleine Kinder täten und viertens, daß er gesund werden müsse, um wieder in die Kanzlei gehn zu können. Und Mark Iwanowitsch schloß sogar mit dem Scherz, daß Kranken noch kein festgesetztes Gehalt ausgesetzt worden sei, somit hätte denn seiner Meinung nach solch ein Beruf oder solch ein Zustand nicht einmal einen materiellen Vorteil. Kurz, es war ersichtlich, daß alle sich für das Schicksal Semjon Iwanowitschs interessierten und sich seiner annahmen. Er aber lag, schwieg – was doch eine unverzeihliche Grobheit war – und zog heftig an seiner Decke, um sich endlich ganz zu bedecken. Mark Iwanowitsch hielt sich aber noch längst nicht für besiegt: er faßte sich ein Herz und sagte Semjon Iwanowitsch noch etwas Angenehmes, wie man es ja mit einem kranken Menschen zu tun pflegt. Aber Semjon Iwanowitsch wollte nichts davon bemerken, im Gegenteil, er brummte nur was durch die Zähne und plötzlich schielte er auf eine ganz mißtrauische Weise mit den Augen unter der Stirn hervor nach links und rechts, als wollte er mit seinen Blicken alle, die um ihn herumstanden, vernichten. Da war nichts mehr zu wollen: Mark Iwanowitsch konnte denn auch nicht an sich halten, als er einsah, daß der Mensch sich verschworen hatte, bei diesem Benehmen zu verharren; geärgert und gekränkt erklärte er daher einfach und geradeaus ohne jegliche höflicheren Redewendungen, daß es Zeit wäre, aufzustehn, daß es nicht anginge, immer auf beiden Seiten zu liegen, Tag und Nacht von Feuer, Schwägerinnen, Schlössern, Koffern und weiß der Teufel noch wovon zu schreien, daß das dumm, unanständig und eines Menschen unwürdig wäre, und wenn er, Semjon Iwanowitsch, jetzt nicht ruhig schlafen wollte, so sollte er wenigstens die Anderen nicht daran verhindern. Die Rede tat ihre Wirkung, denn Semjon Iwanowitsch wandte sich plötzlich an den Redner und erklärte mit erstaunlicher Festigkeit, wenn auch mit schwacher und heiserer Stimme:

„Du dummer Junge, Du, halt Deinen Mund! Du schwatzhafter Mensch, Du Schandmaul! Hörst Du, Stiefel! Bist Du etwa ein Fürst? Was verstehst Du denn eigentlich?“ Als Mark Iwanowitsch so etwas hörte, brauste er zuerst auf, aber er sah bald ein, daß er es doch mit einem kranken Menschen zu tun hatte, und war so großmütig, nicht gekränkt zu sein, und so versuchte er denn auch nur, ihn zu beschämen – aber auch das gelang ihm nicht, denn Semjon Iwanowitsch bemerkte sofort, daß er mit sich nicht zu spaßen erlaube und Mark Iwanowitsch doch lieber seine Worte sparen solle. Es folgte ein zwei Minuten langes Schweigen; endlich erholte sich Mark Iwanowitsch von seinem Erstaunen und drückte sich klar, schön und deutlich aus, übrigens mit großer Überlegenheit, daß Semjon Iwanowitsch doch nicht vergessen dürfte, daß er sich unter fremden Menschen befand, und daß „der allergnädigste Herr sich doch besinnen möge, wie man sich unter anständigen Menschen zu betragen habe“. Mark Iwanowitsch verstand es bei Gelegenheit sich schön auszudrücken und das auch seine Zuhörer fühlen zu lassen. Seinerseits sprach Semjon Iwanowitsch, da er ja stets zu schweigen gewohnt war, in einer etwas abgebrochenen Art und Weise, und daher gebar denn, wenn er genötigt war, einmal eine längere Phrase zu sagen, jedes Wort schon beim Entstehen ein anderes Wort und dieses wieder ein drittes und das dritte wieder ein viertes usw., usw., so daß er schließlich den ganzen Mund voll Worte hatte, die dann in der allermalerischsten Unordnung zu Tage kamen. Das war der Grund, warum Semjon Iwanowitsch, der doch sonst ein solider Mensch war, manchmal solch einen Unsinn sprechen konnte.

„Du lügst,“ antwortete er jetzt Mark Iwanowitsch. „Du Lebemann! Wenn Du Geld hast, putzt Du Dich auf, Du Freigeist, Du liederlicher Herumtreiber, Du! Das laß Dir gesagt sein, Du Verseschmied!“

„Sie phantasieren wohl noch, Semjon Iwanowitsch?“

„Ach Du, der Dummkopf phantasiert, der Trunkenbold phantasiert, der Hund phantasiert, aber der Weise dient dem Vernünftigen. Von Geschäften verstehst Du nichts, Du liederlicher Mensch, Du Gelehrter, Du geschriebenes Buch Du! Wenn Du aber brennst, so wirst Du sehn, wie Dir der Kopf abbrennt. Siehst Du jetzt, wie’s ist!?“

„Ja ... das heißt, wie denn ... das heißt, wie meinen Sie, Semjon Iwanowitsch, daß der Kopf ...“

Mark Iwanowitsch beendete seinen Satz nicht, denn es war ja klar, daß Semjon Iwanowitsch noch nicht nüchtern war, sondern phantasierte; die Wirtin konnte denn auch nicht mehr an sich halten und bemerkte, daß das Haus in der Schiefen Gasse von einem rothaarigen Mädchen angezündet worden sei, das mit dem Licht die Dachkammer in Brand gesetzt hätte, sie selbst aber habe nicht gebrannt, und auch ihr Winkel wäre unversehrt geblieben.

„Ja, Semjon Iwanowitsch!“ überschrie Sinowij Prokoffjewitsch außer sich die Wirtin, „Semjon Iwanowitsch, sind Sie solch ein verlorener, naiver Mensch, daß Sie diesen Scherz mit Ihrer Schwägerin oder mit den Examen und den Tänzen ernst genommen haben? Haben Sie das wirklich geglaubt?“

„Nun höre Du jetzt,“ antwortete ihm unser Held und richtete sich, seine letzten Kräfte zusammennehmend, wütend im Bett auf. „Wer ist hier der Narr? Du Hund, Du närrischer Mensch, ich aber werde nicht auf Deinen Befehl Dummheiten machen; hörst Du, dummer Junge, ich bin nicht Dein Diener!“

Semjon Iwanowitsch wollte noch etwas sagen, fiel aber kraftlos auf das Kissen zurück. Alle verloren den Kopf, alle rissen sie den Mund auf und wußten nicht, was sie jetzt anfangen sollten; plötzlich knarrte die Küchentür und gleich darauf steckte auch schon Herr Simoweikin den Kopf durch die Tür und beroch, wie es so seine Art war, vorsichtig den Ort und die Situation.

Alle schienen ihn erwartet zu haben; alle winkten sie ihm zu, schnell zum Bett zu kommen, worüber Simoweikin äußerst erfreut war und sich sofort bereitwilligst, ohne den Mantel abzunehmen, zum Kranken begab.

Man sah es ihm an, daß er die Nächte mehr im wachen Zustande verbrachte. Die rechte Seite seines Gesichtes war irgendwomit verklebt; die angeschwollenen Augenlider waren feucht von seinen eiternden Augen; der Frack und die Kleider waren zerrissen, wobei die ganze linke Seite seiner Kleidung irgendwomit bespritzt war, vielleicht mit Schmutz aus irgendeiner Pfütze. Unter dem Arm trug er eine Geige, die er irgendwohin zum Verkauf brachte. Augenscheinlich hatte man gut getan, daß man ihn zu Hülfe gerufen, denn sofort wußte er, worum es sich handelte und so sagte er denn auch mit der Miene und dem Tone eines Menschen, der weiß, worum es sich handelt:

„Hörst Du Senjka, steh auf! Was tust Du Senjka, weiser Prochartschin, nimm Vernunft an! Werde Dich fortschleppen, wenn Du hier noch so herumrumorst; mach Dich hier nicht so wichtig!“

Solch eine kurze und strenge Rede setzte alle Anwesenden in Erstaunen; aber sie erstaunten noch mehr, als sie bemerkten, daß Semjon Iwanowitsch bei diesen Worten und beim Anblick dieses Gesichts so erschrak und so bescheiden wurde, daß er kaum hörbar und nur durch die Zähne die nötige Erwiderung murmelte.

„Geh fort, Du Unglücklicher,“ sagte er, „Du unglücklicher Dieb Du! Hörst Du, verstehst Du? Ein Protz bist Du, ein protziger Mensch bist Du!“

„Nein, Bruder,“ antwortete in schleppendem Tone Simoweikin, ganz Herr der Situation, „das ist nicht gut, Du weiser Bruder Prochartschin, Prochartschinscher Mensch Du!“ parodierte Simoweikin und schaute sich zufrieden im Kreise um. „Mache keine Stückchen! Beruhige Dich, Senja, beruhige Dich oder sonst werde ich alles erzählen, Brüderchen, verstehst Du?“

Es schien, daß Semjon Iwanowitsch alles verstand, denn er zuckte zusammen, als er den Schluß der Rede hörte und sah plötzlich schnell und mit ganz verlorenem Ausdruck um sich herum. Zufrieden mit dem Effekt seiner Rede, wollte Simoweikin noch fortfahren, aber Mark Iwanowitsch verbot ihm das Geschwätz und man wartete einige Zeit, bis Semjon Iwanowitsch sich beruhigt hatte und wieder still da lag; dann erst sprach er vernünftig auf ihn ein, wie z. B. daß ähnliche Gedanken, wie die, die er soeben in seinem Kopfe hätte, erstens ganz unnütz und zweitens nicht nur unnütz, sondern auch schädlich wären und zu guter Letzt nicht so schädlich, als vielmehr unmoralisch, und die Folge von alledem wäre nur die, daß Semjon Iwanowitsch alle irreführte und seinen Nächsten ein schlechtes Beispiel gab. Von solch einer Rede erwarteten alle nur eine vernünftige Wirkung. Zudem war Semjon Iwanowitsch ganz still und antwortete gemäßigt. Es begann ein kleiner Streit. Man wandte sich brüderlich an ihn und fragte ihn, was ihn denn eigentlich so bedrückte? Semjon Iwanowitsch antwortete nur allegorisch. Man antwortete ihm darauf und Semjon Iwanowitsch antwortete wieder. Man antwortete beiderseits noch einmal, und dann mischten sich alle in das Gespräch, alt und jung, denn man sprach von einem wunderbaren und sonderbaren Gegenstand, so daß man wirklich nicht wußte, wie das alles ausdrücken. Man verlor die Geduld, es kam zu Geschrei und zu Tränen, und Mark Iwanowitsch ging schließlich, mit Schaum vor dem Munde, fort und erklärte, daß er bis jetzt solch einen vernagelten Menschen noch nicht gesehen hätte. Oplewanjeff spuckte, Okeanoff erschrak, Sinowij Prokoffjewitsch weinte Tränen und Ustinja Fedorowna heulte wieder einmal und jammerte, daß sie einen Mieter verliere, weil jener wiederum den Verstand verloren hätte, daß ihr Täubchen, ohne ihr den Paß überlassen zu haben, sterbe, daß sie eine Waise sei und daß die Polizei ihr zu schaffen machen würde. Mit einem Wort, alle sahen es endlich klar ein, daß ihre Aussaat gut gewesen war, daß das, was sie gesät hatten, hundertfältig trug, und daß es ihnen gelungen war, den Verstand Semjon Iwanowitschs auf eine unverbesserliche Weise zu bearbeiten. Alle schwiegen, denn sie sahen, daß Semjon Iwanowitsch sich vor allem fürchtete, und so wurden auch sie ganz kleinlaut und fühlten schließlich Mitleid mit ihm.

„Wie!“ schrie Mark Iwanowitsch, „was fürchten Sie denn so? Worüber sind Sie denn verrückt geworden? Wer denkt denn an Sie, mein Herr? Haben Sie denn überhaupt das Recht, sich so zu fürchten? Wer sind Sie, was sind Sie? Eine Null sind Sie, mein Herr, ein runder Pfannenkuchen, wissen Sie das auch? Weil man ein Weib auf der Straße überfahren hat, glauben Sie, daß man jetzt auch Sie überfahren wird? Weil man einem Trunkenbold Geld aus der Tasche gestohlen hat, glauben Sie, daß man Ihnen gleich den ganzen Rock abreißen wird? Weil ein Haus abgebrannt ist, muß auch bei Ihnen gleich der Kopf abbrennen, wie? Ist es nicht so, mein Herr? Nicht so, Väterchen, nicht so?“

„Du, Du, Du bist dumm!“ murmelte Semjon Iwanowitsch. „Man wird Dir die Nase abbeißen und Du wirst sie auf Deinem Butterbrot verzehren, ohne daß Du’s merkst!“

„Dumm wie ein Stiefel, meinetwegen dumm wie ein Stiefel,“ schrie Mark Iwanowitsch, der die Prophezeiung ganz überhört hatte, „ich bin meinetwegen ein dummer Mensch. Ja, ich habe es ja nicht nötig, Examen zu machen, weder zu heiraten, noch zu tanzen, mir wankt der Boden nicht unter den Füßen! Was Väterchen? Sie finden Ihren Platz nicht, der Boden stürzt unter Ihnen zusammen, wie?“

„Wie, was, fragt man Dich darum? Schließt man sie, so ist sie geschlossen.“

„Was soll man schließen? Was haben Sie da wieder?“

„Den Vagabunden hat man doch abgesetzt ...“

„Abgesetzt! Dafür ist er auch ein Vagabund, Sie und ich sind aber doch – Menschen!“

„Menschen! Ist sie noch oder nicht? ...“

„Was ist noch, oder nicht? Von was für einer ‚sie‘ reden Sie?“

„Sie, die Kanzlei ... die Kan–ze–lei!!!“

„Ja, gesegneter Mensch, Sie! Sie ist doch nötig, Ihre Kanzlei ...“

„Sie ist nötig! fehlt noch! Heute ist sie nötig, morgen ist sie nötig und übermorgen wird sie nicht mehr nötig sein! Siehst Du jetzt, wie’s ist?“

„Aber man gibt Ihnen doch ein jährliches Gehalt?“

„Gehalt? Ich habe das Gehalt aber aufgegessen, Diebe kommen und nehmen das Geld fort; ich habe noch eine Schwägerin, hörst Du? Eine Schwägerin! Verstehst Du, wenn Du nicht vernagelt bist ...“

„Eine Schwägerin! Mensch, Sie ...“

„Mensch, ja, ich bin ein Mensch, Du aber bist mit Dummheit geschlagen, ein vernagelter Mensch bist Du, verstehst Du? Ich spreche schon gar nicht von Deinem Unsinn, den Du schwatzt. Das ist schon solch eine Stelle, wenn es drauf ankommt, wird sie vernichtet. Demid Wassiljewitsch sagt es selbst ...“

„Ach, Sie, Demid, Demid!“

„Ja, er löst sie auf und damit basta und dann sitzt man da ohne Stelle; was wirst Du dann sagen ...“

„Ach, Sie lügen ja einfach nur, oder haben Sie den Verstand verloren? Sagen Sie uns doch einfach, was Ihnen fehlt! Gestehen Sie uns doch Ihre Sünden! Da ist ja nichts sich zu schämen! Oder ist es alle mit dem Verstand, wie, Väterchen?“

„Der Kerl ist wahrhaftig verrückt geworden! Er hat den Verstand verloren!“ tönte es in der Runde und man rang die Hände vor Verzweiflung, die Wirtin aber umfing Mark Iwanowitsch mit beiden Armen, damit er Semjon Iwanowitsch nur nicht weiter quälte.

„Ein Heide bist Du, eine heidnische Seele hast Du, Weiser!“ flehte ihn Simoweikin an; „Senja, Du lieber gutmütiger Mensch, Du! Du bist bescheiden, Du bist gut ... hörst Du? Das kommt von Deiner Großmut; der unordentliche und dumme, das bin ich, der Bettler bin ich! Du hast als guter Mensch mich nicht verlassen, fürchte nichts; Dir wird schon Ehre zuteil werden; Dir und der Wirtin sage ich Dank! Siehst Du, ich mache Dir eine Verbeugung bis zur Erde, siehst Du, siehst Du, ich bezahle meine Schuld, liebe Wirtin!“ Simoweikin machte mit pedantischer Würde rund herum seine Verbeugung bis zur Erde. Semjon Iwanowitsch wollte fortfahren zu sprechen, aber man erlaubte es ihm nicht mehr, alle stürmten auf ihn ein, flehten ihn an, sich zu beruhigen und erreichten zuletzt, daß Semjon Iwanowitsch ganz beschämt und mit schwacher Stimme bat, sich erklären zu dürfen.

„Ja, nun gut,“ sagte er, „ich bin liebenswürdig, angenehm, ruhig, hörst Du, und wohltätig, ergeben und treu; weißt Du, meinen letzten Tropfen Blut, hörst Du, dummer Junge, ... möge sie bestehn, die Stelle; ich bin ja arm; wenn man sie mir nimmt, hörst Du ... schweige jetzt, verstehst Du, man nimmt sie ... und dann, Bruder, ist sie nicht mehr da ... verstehst Du? Und ich, Bruder, mit dieser Summe, hörst Du?“

„Senjka!“ brüllte außer sich Simoweikin, dieses Mal jegliches Lärmen übertönend, „Freidenker Du! Ich werde sofort alles sagen! Was bist Du! Wer bist Du! Du Schafsgehirn! Nur einen unsoliden und dummen wird man ohne Abschied von der Stelle jagen; wer bist Du denn eigentlich?“

„Ja, dies und das ...“

„Was, dies und das?!“

„Geh Du nur mit ihm ...“

„Wie, geh Du nur mit ihm?“

„Ja, ich bin frei, er ist frei; wenn man so liegt und liegt und darüber ...“

„Worüber?“

„Bin ein Freidenker ...“

„Freidenker! Senjka, Du ein Freidenker!!“

„Halt an,“ schrie Herr Prochartschin, fuchtelte mit der Hand und unterbrach das sich erhebende allgemeine Geschrei, „ich spreche nicht davon ... Versteh doch nur, Du Hammel: ich bin heute ruhig, morgen ruhig und übermorgen schon nicht mehr ruhig, werde frech; nun und ... mache Dich fort, Freidenker! ...“

„Was sagen Sie!“ donnerte Mark Iwanowitsch endlich drein, er sprang vom Stuhl auf, auf den er sich zur Erholung niedergelassen hatte und lief voller Aufregung ans Bett, außer sich und zitternd vor Ärger. – „Wer sind Sie? Ein Hammel sind Sie! Weder Fisch noch Fleisch! Sind Sie etwa allein auf der Welt? Ist für Sie allein die Welt gemacht? Sind Sie etwa Napoleon? Was sind Sie? Wer sind Sie? Sind Sie Napoleon oder sind Sie es nicht?! Sagen Sie doch, mein Herr, Napoleon oder nicht Napoleon? ...“

Aber Herr Prochartschin antwortete nicht mehr auf diese Gewissensfrage. Nicht, daß er sich geschämt hätte, Napoleon zu sein oder sich gefürchtet, solch eine Verantwortung auf sich zu nehmen, nein, er konnte ganz einfach nicht mehr streiten noch von Geschäften sprechen. Eine krankhafte Krisis trat ein. Ströme von Tränen stürzten plötzlich aus seinen grauen, fieberglänzenden Augen. Mit seinen knochigen, von der Krankheit abgemagerten Händen bedeckte er seinen heißen Kopf, erhob sich im Bett und schluchzend fing er an, zu klagen, daß er arm wäre, daß er solch ein unglücklicher und einfacher Mensch wäre, dumm und stumpf, daß ihm gute Menschen vergeben müßten, daß sie ihn doch beschützen und ihm zu essen und zu trinken geben, ihn nicht der Armut preisgeben sollten, und Gott weiß, worum Semjon Iwanowitsch noch sonst alles bat. Dabei blickte er mit solch einer wilden Angst um sich, als ob die Decke einstürzen oder der Boden sich vor ihm auftun müßte. Allen tat er leid, der Arme, und alle Herzen erweichten sich. Die Wirtin heulte wie ein altes Weib, sagte, daß auch sie eine Waise wäre und mühte sich, Semjon Iwanowitsch besser zu betten. Mark Iwanowitsch sah es ein, daß er unnütz ans Gehirn Napoleons gerührt hatte: ihn überkam plötzlich auch eine gütige Anwandlung und so wollte er denn der Wirtin behülflich sein, den Unglücklichen zu betten. Die Anderen, die auch irgendwas dazu tun wollten, schlugen vor, ihm doch eine Himbeerlimonade zu stiften, da sie von allem befreie und dem Kranken sehr angenehm sein würde; aber Simoweikin widerlegte es und behauptete, daß bei seiner Verfassung nichts besser wäre, als ein starker Kamillentee. Was nun Sinowij Prokoffjewitsch mit seinem guten Herzen anbelangt, so weinte er heiße Tränen der Reue, weil er Semjon Iwanowitsch mit erlogenen Sachen geängstigt hatte. Doch die letzten Worte des Kranken, die Klagen über seine Armut, brachten ihn auf eine Idee: er setzte sofort eine Liste auf, eine Kollekte für den armen Kranken, die sich fürs Erste nur auf die Einwohner der Winkel erstreckte. Alle jammerten und stöhnten, allen tat es bitter leid, doch zwischendurch wunderten sie sich alle darüber, wie sich der Mensch dermaßen hatte einschüchtern lassen. Und wodurch eigentlich? Wenn er auf einem großen Posten gewesen wäre, eine Frau gehabt und Kinder gezeugt hätte und wenn man ihn vor Gericht geladen hätte: aber solch ein kleines Tierchen wie er, mit einem Koffer und dem deutschen Schloß davor, lag schon seit zwanzig Jahren hinter dem Schirm, schwieg, kannte die Welt nicht, hatte keinen Kummer, sparte, und plötzlich fiel es jetzt diesem Menschlein ein, sich durch irgendein unnützes, abgeschmacktes Wort den Kopf verdrehen zu lassen und ganz und gar am Leben zu verzweifeln ... Und dabei denkt der Mensch garnicht, daß es die Anderen ebenso schwer haben.

„Würde er doch nun das Eine in Betracht ziehn,“ sagte später Okeanoff, „daß es allen schwer fällt, so würde er ja seinen Kopf behalten, würde seine tollen Streiche lassen und leben und reden, wie es sich gehört.“

Den nächsten ganzen Tag über sprach man nur von Semjon Iwanowitsch. Man kam zu ihm, erkundigte sich nach ihm, beruhigte ihn; aber zum Abend hin halfen die Beruhigungen nicht mehr. Der Arme fieberte und phantasierte und verlor von Zeit zu Zeit seine Besinnung, so daß man schon nach dem Arzt schicken wollte; alle Einwohner beschlossen gemeinsam, der Reihe nach bei Semjon Iwanowitsch die Nacht über zu wachen, ihn zu beruhigen und falls irgend etwas geschehn sollte, die Anderen aufzuwecken. In dieser Absicht fingen sie an Karten zu spielen, und ließen seinen Freund Simoweikin, der schon den ganzen Tag über bei ihm gewesen war und von ihnen die Erlaubnis erhielt, auch dort zu nächtigen, bei ihm. Da sie aber kein hohes Spiel machten, so wurde es ihnen alsbald langweilig. Sie brachen das Spiel ab und gerieten allmählich über irgendetwas in Streit, lärmten und polterten und zogen sich schließlich in die Winkel zurück, wo ein jeder noch lange in seinem Herzen den Anderen widersprach und sie allesamt übertrumpfte, und da sie alle geärgert waren, so wollte Niemand mehr wachen. So kam es denn, daß alle einschliefen: bald darauf wurde es in den Winkeln so still wie in einem leeren Keller, um so mehr, als es sehr kalt war. Einer von den Letzten, die einschliefen, war Okeanoff, und wie er später erzählte, hatte er nicht gerade im Schlaf und auch nicht gerade im wachen Zustande, neben sich kurz vor Morgengrauen zwei Menschen miteinander sprechen gehört. Darauf aber hätte er Simoweikins Stimme erkannt, der Remneff, seinen alten Freund weckte und lange mit ihm leise sprach, dann habe er gehört, wie Simoweikin fortgegangen war und wie er die Küchentür mit dem Schlüssel aufgeschlossen hatte. Der Schlüssel – versicherte später Ustinja Fedorowna – habe immer unter ihrem Kopfkissen gelegen und wäre seit dieser Nacht verloren gegangen. Dann – erzählte Okeanoff – schien es ihm, daß beide hinter den Schirm zum Kranken gingen und dort das Licht anzündeten. Mehr, sagte er, wisse er nicht, seine Augen wären ihm zugefallen; er erwachte erst mit allen anderen, die in den Winkeln schliefen und sprang mit ihnen zu gleicher Zeit aus dem Bett, als plötzlich hinter dem Schirm Semjon Iwanowitschs solch ein Geschrei ertönte, daß selbst die Toten erwacht wären – in dem Moment aber schien es vielen, daß plötzlich das Licht hinter dem Schirm ausgelöscht wurde. Es entstand eine allgemeine Verwirrung: hinter dem Schirm hörte man Geschimpf, Geschrei und Kampf. Es wurde Licht gemacht und man sah, daß Simoweikin und Remneff sich prügelten und jähzornig beschimpften. Als man sie nun auseinander brachte, so schrie der eine:

„Nicht ich bin es, aber dieser Räuber da!“ und Simoweikin schrie wiederum:

„Rühr mich nicht an, bin nicht schuldig; ich werde sofort schwören!“ Aber in der ersten Minute war es nicht um sie zu tun, denn – der Kranke war verschwunden! Man entfernte die Vagabunden und siehe da: Herr Prochartschin lag unter dem Bett, vollständig besinnungslos; auf ihm lagen seine Decke und sein Kissen, so daß sich auf dem Bett nur noch die schmutzige Matratze befand, – denn Bettücher besaß er nicht. Man zog also Semjon Iwanowitsch unter dem Bett hervor und legte ihn auf die Matratze und bemerkte da sofort, daß mit ihm nichts mehr zu machen war; er war schon ganz steif, hin und wieder lief nur noch ein Zittern über den Körper. Er wollte die Hände erheben, konnte es aber nicht, seine Zunge bewegte sich nicht mehr, aber er blinzelte noch mit den Augen, wie die Köpfe der Enthaupteten noch mit den Lidern blinzeln sollen, wenn das Beil des Henkers sie schon vom Körper getrennt hat.

Allmählich wurde er ruhiger, der Todeskrampf ließ nach; Herr Prochartschin streckte die Beine von sich und begab sich mit all seinen Sünden ins Jenseits. Ob er sich nun so erschreckt hatte, oder ob er einen Traum gehabt, wie später Remneff versicherte, oder ob dem eine andere Sünde zu Grunde lag, das ist eine offene Frage. Die Sache war aber die, daß, wenn jetzt selbst der Chef in der Wohnung erschienen wäre, um persönlich Semjon Iwanowitsch den Abschied wegen Trunksucht, Freidenkerschaft und Händeleien zu überbringen, und wenn durch die andere Tür eine Bettlerin unter dem Titel einer Schwägerin Semjon Iwanowitschs eingetreten wäre, ja selbst wenn er plötzlich zweihundert Rubel Gratifikation erhalten hätte, oder das Haus in Flammen aufgegangen wäre, Semjon Iwanowitsch doch nicht mehr geruht haben würde, auch nur einen Finger zu rühren. Während die erste Erstarrung sich legte, die Anwesenden die Sprache langsam wiedererlangten und ein Chaos von Vorschlägen, Vermutungen und Geschrei entstand, – zog Ustinja Fedorowna den Koffer unter dem Bett hervor und suchte in aller Eile unter dem Kissen unter der Matratze, ja sogar in den Stiefeln Semjon Iwanowitschs nach. Und während man Remneff und Simoweikin verhörte – bewies Okeanoff, der bis jetzt allerunintelligenteste und stillste Winkelbewohner, plötzlich die größte Geistesgegenwart, ja entdeckte vielleicht zum ersten Mal seine Fähigkeiten und sein Talent, nahm seine Mütze und verschwand bei der allgemeinen Verwirrung ganz unbemerkt. Und als alle Schrecken des Chaos ihren Höhepunkt in den bis jetzt so friedlichen Winkeln erreichten, öffnete sich die Tür und wie kalter Schnee auf heiße Köpfe fällt, erschien zuerst ein Herr von anständigem Äußeren, aber mit einem strengen, unzufriedenen Gesicht; ihm folgte Jaroslaff Iljitsch mit seinem Beamten samt Allem, was dazu gehört; und ihnen folgte aufgeregt Herr Okeanoff. Der strenge Herr von anständigem Äußern ging geradewegs auf Semjon Iwanowitsch zu, befühlte ihn, machte eine Grimasse, zuckte mit den Schultern und sagte, was alle schon längst wußten, daß der Tote tot wäre, und fügte nur von sich aus noch hinzu, daß in diesen Tagen einem sehr hohen und angesehenen Herrn dasselbe im Schlaf passiert sei, und er daran gestorben wäre. Darauf behauptete er noch, daß man ihn ganz unnütz belästigt hätte und ging zur Tür hinaus. Ihn ersetzte sofort Jaroslaff Iljitsch, der Beamte, und während Remneff und Simoweikin den Gerichtsdienern übergeben wurden, bemächtigte er sich des Koffers, den die Wirtin schon zu verstecken versucht hatte, stellte die Stiefel auf ihren früheren Platz zurück, bemerkte dazu, daß sie ganz durchlöchert seien und daher fortgeworfen werden könnten, verlangte auch das Kissen zurück, rief Okeanoff und bat um den Schlüssel zum Koffer, der sich schließlich in Simoweikins Tasche fand und öffnete feierlich wie es sich gehörte die Habe Semjon Iwanowitschs. Da lagen denn allen sichtbar: zwei alte Hemden, ein Paar Socken, ein zerrissenes Tuch, ein alter Hut, einige Knöpfe, alte Stiefelsohlen, ferner Schnüre, Seife, Salben, alle möglichen Lumpen, die einen üblen Geruch verbreiteten; gut war nur das deutsche Schloß. Man rief Okeanoff und sprach streng mit ihm; aber Okeanoff war bereit zu schwören. Man verlangte das Kissen, sah es sich an; es war nur schmutzig, glich aber sonst in jeder Beziehung einem Kissen. Man hob die Matratze auf, legte sie wieder hin, bedachte sich noch, was zu tun wäre, als plötzlich etwas Schweres, Klingendes auf den Boden schlug. Man bückte sich, man suchte und fand eine Papierrolle mit zehn Silberrubel. „Eh, eh, eh!“ rief Jaroslaff Iljitsch und zeigte auf eine offene Stelle in der Matratze, aus der Roßhaar hervorlugte. Man besah sich die Stelle und alle waren überzeugt, daß sie soeben mit dem Messer gemacht worden war: man steckte die Hand hinein und zog ein Küchenmesser hervor, das man wohl in aller Eile da hineingesteckt hatte, nachdem man mit ihm vorher die Matratze aufgeschnitten. Kaum war es Jaroslaff Iljitsch gelungen, das Messer herauszuziehn, als er schon wieder „Ehe–e!“ sagte und bald darauf eine andere Rolle herausfiel und nach ihr Fünfzigkopekenstücke, fünfundzwanzig Kopeken, und verschiedenes Kleingeld, darunter auch ein gesundes, kupfernes Fünfkopekenstück. Alle Hände griffen danach. Auch war man der Meinung, daß es nicht schlecht wäre, die Matratze aufzuschneiden. Man verlangte eine Schere ...

Der heruntergebrannte Lichtstummel beleuchtete eine äußerst interessante Szene. Ungefähr zehn Einwohner gruppierten sich in den allermalerischsten Nachtkostümen um das Bett herum, alle ungekämmt, unrasiert und ungewaschen und kaum vom Schlaf erwacht. Einige von ihnen waren kreidebleich, bei anderen perlte der Schweiß auf der Stirn, die Einen schüttelte der Frost, die Anderen die Hitze. Die Wirtin stand halb bewußtlos da, hatte die Hände gefaltet und überließ sich der Gnade Jaroslaff Iljitschs. Vom Ofen herab sahen erschrocken und doch neugierig Awdotja, die Magd, und die Lieblingskatze der Wirtin. Zerrissene und zerschlagene Bettschirme lagen überall im Wege; der geöffnete Koffer zeigte sein unanständiges Innere; die Decke und das Kopfkissen zusammen mit dem Inhalt der Matratze lagen auf dem Boden und auf einem kleinen gebrechlichen hölzernen Tischchen glänzte der anwachsende Haufen der verschiedensten Geldstücke. Nur Semjon Iwanowitsch allein behielt seine Kaltblütigkeit: er lag friedlich auf dem Bett und schien seinen Ruin überhaupt nicht zu ahnen. Als die Schere gebracht war und der Gehilfe Jaroslaff Iljitschs, aus Wunsch behilflich zu sein, die Matratze ein wenig zu hastig hob, um sie besser vom Rücken des Besitzers befreien zu können, trat ihnen Semjon Iwanowitsch wohl aus Höflichkeit ein wenig seinen Platz ab und kehrte sich auf die Seite; beim zweiten Ruck machte er ihnen noch ein wenig Platz und drehte sich mit dem Gesicht aufs Kissen, mit anderen Worten: drehte ihnen den Rücken zu, und plötzlich ganz unerwartet fiel er mit dem Kopf voran aus dem Bett, so daß seine beiden knochigen, mageren und blauen Beine wie zwei verkohlte Äste eines abgebrannten Baumes in die Luft starrten. Da Herr Prochartschin sich schon das zweite Mal an diesem Morgen unter das Bett begab, so erregte das Verdacht und mehrere von den Einwohnern krochen sofort unter der Anführung Sinowij Prokoffjewitschs unter das Bett, in der Absicht zu untersuchen, ob nicht da noch was verborgen war. Aber die Suchenden stießen bloß mit den Köpfen aneinander und da Jaroslaff Iljitsch sie anschrie und ihnen befahl, sofort Semjon Iwanowitsch von seiner schlechten Lage zu befreien, so packten ihn denn zwei von den vernünftigeren mit beiden Händen je an ein Bein und zogen den unerwarteten Kapitalisten wieder an die Oberfläche und legten ihn quer aufs Bett. Währenddessen flogen Roßhaar und Watte umher und der silberne Haufen wuchs – und wuchs und – oh Gott! was war da nicht alles zu finden! ... Anständige Silberrubel, solide starke anderthalb Rubelstücke, reizende Fünfziger, plebejischere Fünfundzwanziger und Zwanziger, altes Kleingeld in Zehnern und Fünfern – alles in besonderen Papierrollen methodisch und in solider Ordnung eingewickelt. Es waren auch Seltenheiten dabei: ein Napoleond’or, eine unbekannte und sehr seltene Münze ... Auch einige von den Silberrubeln waren von hohem Alter, Elisabetheische, deutsche Kreuzer, Petermünzen, Katharinenmünzen; auch waren da alte durchlöcherte Silbermünzen, solche, die man früher als Gehänge trug, sogar Kupfer war dabei, aber schon ganz grün und rostig gewordenes ... Auch fand man noch ein rotes Stück Papier – aber das war denn auch alles. Als man endlich die ganze Operation beendigt und den Überzug der Matratze um und um geschüttelt hatte und nichts mehr in ihm klirrte noch klimperte, setzte man sich an den Tisch, um das Geld zu zählen. Auf den ersten Anblick konnte man sich sehr täuschen und den Geldhaufen auf eine Million schätzen – so groß war er! Aber eine Million war es denn doch nicht, obgleich es keine geringe Summe war – genau 2497 Rubel und 50 Kopeken. Wenn die Einnahme der Kollekte, die Sinowij Prokoffjewitsch am Abend vorher zur Unterstützung des armen Kranken entworfen hatte, schon bar vorhanden gewesen wäre, so hätte es genau 2500 Rubel ausgemacht. Man nahm das Geld, versiegelte den Koffer des Verstorbenen, hörte den Klagen der Wirtin zu und sagte ihr, wohin und an wen sie sich mit ihrem Schuldschein des Verstorbenen zu wenden hätte. Wie es sich gehörte, forderte man Unterschriften, man sprach auch dabei von der Schwägerin, aber man versicherte sich gegenseitig, daß die Schwägerin in gewissem Sinne nur eine Allegorie sein könnte, die vielleicht nur in der krankhaften Einbildungskraft Semjon Iwanowitschs entstanden war, was man nicht nur einmal dem Verstorbenen vorgehalten haben wollte. Und damit war denn die Sache zu Ende. Als der erste Schreck sich gelegt hatte, als die armen Winkelmieter mit wiedergewonnenem Verstande erkennen konnten, wer der Verstorbene eigentlich gewesen war, so wurden sie nachdenklich und in sich gekehrt und sahen sich gegenseitig mißtrauisch an. Einige nahmen es sich sehr zu Herzen und fühlten sich durch solch ein Verhalten Semjon Iwanowitschs beleidigt ... Solch ein Kapital! Das hat der Mensch zusammengescharrt. Mark Iwanowitsch, der seine Geistesgegenwart wieder erlangte, wollte ergründen und untersuchen, warum Semjon Iwanowitsch plötzlich so allen Mut verloren hatte, aber man hörte ihm nicht mehr zu. Sinowij Prokoffjewitsch wurde sehr nachdenklich, Okeanoff trank zur Stärkung ein wenig Schnaps, und die Übrigen fühlten sich gleichfalls sehr bedrückt. Der kleine Kantareff, der sich nur durch seine Habichtnase auszeichnete, verließ die Wohnung, nachdem er sorgfältig sein Hab und Gut zusammengesucht hatte, und erklärte kühl auf die Fragen, warum er fortginge, daß die Zeit schwer wäre und das Leben hier über seine Mittel ginge. Die Wirtin heulte ununterbrochen und prophezeite, daß Semjon Iwanowitsch in die Hölle käme, da er sie, eine arme Waise, ausgenutzt und beleidigt hätte. Sie fragte Mark Iwanowitsch, warum der Verstorbene sein Geld nicht in die Sparkasse gebracht habe?

„Mütterchen, er war zu naiv dazu, sein Vorstellungsvermögen reichte nicht dazu aus,“ antwortete Mark Iwanowitsch.

„Nun, und auch Sie sind naiv, Mütterchen,“ schloß Okeanoff, „fünfundzwanzig Jahre stärkte sich der Mensch bei Ihnen und von einem kleinen Nasenstüber fiel er um, bei Ihnen aber kochte die Kohlsuppe, hatten keine Zeit dafür! Ach Sie, ... Weibsbild! ...“

„Ach, das sagst Du mir! – und was Sparkasse!“ fuhr die Wirtin auf. „Hätte er mir doch nur eine Handvoll davon gebracht und mir gesagt: Nimm, Ustinjuschka, hier ist für Dich der Lohn, ernähre Du mich so lange, wie mich die kühle Mutter Erde noch trägt, das wäre recht gewesen, ich hätte ihn gefüttert, getränkt, bedient! Ach, dieser Verführer, solch ein Betrüger! Betrogen hat er mich Waisenkind!“

Man ging wieder ans Bett Semjon Iwanowitschs. Er lag bereits wie es sich gehörte in seinem besten und übrigens einzigen Anzug, das knochige Kinn hinter einer Halsbinde, die ihm etwas ungeschickt umgebunden worden war, gewaschen und gekämmt, aber nicht rasiert, weil ein Rasiermesser in den Winkeln nicht vorhanden war: das einzige Messer, das Sinowij Prokoffjewitsch gehört hatte, war schartig geworden und man hatte es auf dem Trödelmarkt verkauft. Die Anderen gingen alle zum Barbier. Das Zimmer hatte man aber noch nicht aufräumen können. Die zerrissenen Schirme lagen noch kreuz und quer umher und entblößten die Vereinsamung Semjon Iwanowitschs, ganz wie ein Emblem dessen, daß der Tod alle Vorhänge vor unseren Geheimnissen und Intrigen zerreißt. Das Füllsel der Matratze lag auch noch in Haufen zerstreut umher. Diesen plötzlich zerstörten Winkel hätte man mit einem zerstörten Nest von Hausschwalben vergleichen können, zerschlagen und zerrissen vom Sturm, das warme Bettchen aus Federn und Wolle zerstört ... Übrigens, Semjon Iwanowitsch selbst sah eher einem diebischen Spatz ähnlich. Er war ganz still geworden und tat, als ob er nichts zu verhehlen hätte, an nichts Schuld wäre und nicht gewissenlos und schamlos die besten Menschen auf die allerunanständigste Weise betrogen hätte. Er hörte nicht mehr das Weinen und Schluchzen seiner verwaisten und beleidigten Witwe. Im Gegenteil, als erfahrener und geriebener Kapitalist, der selbst im Grabe nicht eine Minute nutzlos verlieren wollte, schien er mit spekulativen Berechnungen beschäftigt zu sein. Sein Gesicht drückte tiefes Nachdenken aus und die Lippen waren zusammengepreßt. Er sah geradezu bedeutend aus, – eine Eigenschaft, der man Semjon Iwanowitsch im Leben nicht hätte verdächtigen können. Er schien klüger geworden zu sein. Das rechte Auge war pfiffig zusammengezogen; auch wollte Semjon Iwanowitsch etwas sagen, etwas sehr Nötiges mitteilen und erklären, um so schnell als möglich die Geschäfte zu erledigen, denn er schien auch keine Zeit zu haben. Auch glaubte man ihn sagen zu hören: „Was fehlt Dir? Höre auf zu weinen, dummes Weib! Heul nicht! Du Mutter, mach’ ein Schläfchen, hörst Du! Ich bin gestorben; jetzt ist schon nichts mehr nötig ... Was für eine Wahrheit? Es ist schön so zu liegen ... Ich, hörst Du, spreche übrigens nicht davon, Du bist ein Weib, hast mich verstanden? Jetzt ist es aus mit dem Dienst; siehst Du jetzt, wie’s ist? – Dumm! ... fehlt noch! Aber, weißt Du, wenn ich jetzt aufstehe, was würde dann sein, wie?“