IV.

Sämtliche Werke 20: Aus dem Dunkel der Großstadt   •   第24章

IV.

Sehen Sie, wiederum: Nun gut, mag das nur ein Traum gewesen sein! Aber die Empfindung der Liebe dieser unschuldigen, schönen Menschen zu mir ist für alle Zeiten in mir geblieben, und ich fühle, daß ihre Liebe sich auch jetzt auf mich fernher von ihnen ergießt. Ich sah sie selbst, ich lernte sie kennen und ich liebte sie und litt für sie später. Oh, ich begriff sofort, sogar damals, daß ich sie in vielem überhaupt nicht würde verstehen können, es schien mir als zeitgenössischem russischem Fortschrittler und garstigem Petersburger unbegreiflich, warum sie, die so viel wußten, nicht unsere Wissenschaft hatten? Doch sah ich bald ein, daß ihr Wissen durch andere Erkenntnisse genährt wurde, als das Wissen auf unserer Erde, und daß ihre Bestrebungen gleichfalls ganz anderer Art waren. Sie wünschten sich nichts; sie waren ruhig und zufrieden, sie rangen nicht nach der Erkenntnis des Lebens so, wie wir es tun, denn ihr Leben war vollkommen ausgefüllt. Doch war ihr Wissen ein tieferes und höheres, als das unserer Wissenschaft; denn unsere Wissenschaft versucht das Leben zu erklären, will es selbst ergründen, um die Menschen zu lehren, wie sie leben sollen; sie aber wußten schon, wie sie zu leben hatten, und das begriff ich, aber ihr Wissen konnte ich nicht begreifen. Sie wiesen auf ihre Bäume hin, ich aber konnte diese Größe der Liebe, mit der sie sie betrachteten, nicht nachfühlen: als ob die Bäume Menschen wie sie gewesen wären. Und wissen Sie, vielleicht täusche ich mich nicht, wenn ich sage, daß sie auch mit ihnen sprachen! Ja, sie kannten deren Sprache und ich bin überzeugt, daß die Bäume sie verstanden. Und so sahen sie auch auf die ganze übrige Naturwelt, auch auf die Tiere, die friedlich bei ihnen lebten, sie nicht angriffen, sondern liebten, da sie durch ihre Liebe besiegt waren. Sie deuteten auf die Sterne, und sprachen zu mir etwas, das ich nicht begreifen konnte, doch bin ich überzeugt, daß sie durch irgend etwas mit den Sternen des Himmels in Verbindung standen, nicht nur durch den Gedanken, sondern noch auf eine andere Weise. Oh, diese Menschen trachteten nicht danach, daß ich sie verstand, sie liebten mich auch so schon, doch dafür wußte ich, daß sie auch mich niemals verstehen würden, und darum erzählte ich ihnen auch nichts von unserer Erde. Ich küßte nur in ihrer Gegenwart die Erde, die sie bewohnten, und vergötterte sie selbst, und sie sahen es und ließen es wortlos geschehn, ohne sich deswegen zu schämen, daß ich sie liebte, weil sie so viel liebten. Sie litten nicht für mich, wenn ich tränenüberströmt zuweilen ihre Füße küßte, da ich ja wußte, welch eine Liebe sie mir dafür entgegenbrachten. Zuweilen fragte ich mich verwundert: wie konnten sie nur einen Menschen wie mich kein einziges Mal beleidigen, und wie kam es nur, daß sie in mir kein einziges Mal das Gefühl der Eifersucht oder des Neides hervorriefen? Oftmals fragte ich mich, wie ich, solch ein Prahlhans und Lügner, ihnen nicht von meinen Erkenntnissen einiges mitteilte, von denen sie natürlich keine Ahnung hatten, um sie in Erstaunen zu setzen oder auch nur aus Liebe zu ihnen? – Sie waren mutwillig und fröhlich wie Kinder. Sie wandelten durch ihre prachtvollen Haine und auf den blumigen Wiesen umher, sie sangen schöne Lieder, sie nährten sich von den Früchten ihrer Bäume und der Milch der sie liebenden Tiere. Für ihre Nahrung und Kleidung mühten sie sich nur wenig. Es gab bei ihnen Liebe und sie gebaren Kinder, doch niemals gewahrte ich bei ihnen Ausbrüche jener grausamen Wollust, die fast alle Menschen auf unserer Erde überkommt, alle und jeden, und die der einzige Ursprung fast aller Sünden unserer Menschheit ist. Sie freuten sich mit den Neugeborenen als neuer Teilhaber ihrer Seligkeit. Es gab weder Streit noch Eifersucht unter ihnen, und sie wußten nicht einmal, was das war. Ihre Kinder waren die Kinder aller, denn alle bildeten sie eine einzige Familie. Sie hatten fast überhaupt keine Krankheiten, obgleich sie doch starben; aber ihre Greise schieden so sanft hin, als ob sie einschliefen, umringt von den sie liebenden Menschen, segnend, lächelnd und von ihnen mit klaren, heiteren Blicken begleitet. Niemals sah ich Trauer oder Tränen bei einem Sterbebett, nur eine bis zur Verzücktheit, bis zu einer ruhigen, geklärten Begeisterung gesteigerte Liebe. Man hätte glauben können, daß sie mit ihren Toten sogar noch nach dem Tode in Verbindung standen, und daß ihr Erdenleben nicht durch den Tod unterbrochen wurde. Sie begriffen mich kaum, als ich sie nach dem ewigen Leben fragte, doch waren sie augenscheinlich dermaßen fest von ihm überzeugt, daß für sie überhaupt kein Zweifel mehr darüber bestehen konnte. Sie hatten keine Tempel, aber es war bei ihnen so ein lebendiges Einssein mit dem All; sie hatten keinen Glauben, dafür aber das überzeugte Wissen, daß dann, wenn ihre irdische Freude die Grenze der irdischen Natur erreicht haben würde, für sie, für die Lebenden wie für die Verstorbenen, eine noch größere Berührung mit dem All eintreten müßte. Freudig erwarteten sie diesen Augenblick, doch sehnten sie sich weder nach ihm, noch litten sie um ihn, sie hatten ihn gleichsam schon als Vorgefühl in ihren Herzen, und dieses Vorgefühl teilten sie einander mit. Des Abends vor dem Schlafengehn liebten sie es, in harmonischen Chören zu singen. In diesen Abendgesängen gaben sie die Gefühle wieder, die der vergangene Tag ihnen gebracht hatte, und sie lobten und priesen ihn und verabschiedeten sich von ihm. Sie priesen die Natur, die Erde, das Meer, die Wälder. Sie dichteten Lieder über einander und lobten sich, wie Kinder sich loben; es waren einfache Lieder, doch sie ergossen sich aus dem Herzen und gingen zu Herzen. Und nicht nur in Liedern, nein im ganzen Leben taten sie nichts anderes, als sich lieben. Das war geradezu eine gegenseitige Verliebtheit, eine große, allgemeine Verliebtheit. Einige aber ihrer Lieder, die triumphierend und begeistert klangen, konnte ich fast überhaupt nicht verstehn. Obgleich ich die Worte begriff, konnte ich doch nicht ihre ganze Bedeutung erfassen. Sie waren meinem Verstande unzugänglich, nur mein Herz durchdrangen sie immer mehr und mehr, ohne daß ich mir von dem Vorgang hätte Rechenschaft ablegen können. Ich sagte ihnen oftmals, daß ich das alles schon früher vorausgeahnt hatte, daß die Ahnung dieser ganzen Seligkeit, dieses freudigen Preisens sich in mir schon auf unserer Erde in ohnmächtiger Sehnsucht, die sich mitunter bis zu übergroßem Leid gesteigert, geäußert hatte; daß ich sie alle geahnt hatte in den Träumen meines Herzens und in den Gedanken meiner Sinne, daß ich auf unserer Erde gar manches Mal die untergehende Sonne nicht ohne Tränen hatte ansehn können ... Daß in meinem Haß auf die Menschen unserer Erde immer Leid gewesen war: warum konnte ich sie nicht hassen, wenn ich sie doch nicht liebte, warum konnte ich ihnen nicht verzeihen, war doch in meiner Liebe zu ihnen Leid, warum konnte ich sie nicht hassend lieben? Sie hörten mir zu und ich sah, daß sie sich das nicht vorstellen konnten, was ich sprach, aber es tat mir nicht leid, daß ich ihnen davon gesprochen hatte: ich wußte, daß sie die ganze Macht meiner Sehnsucht nach denen, die ich verlassen hatte, begriffen. Ja, wenn ich ihren klaren, liebedurchdrungenen Blick auf mir ruhen fühlte, wenn ich fühlte, daß unter ihnen auch mein Herz so unschuldig und rein wurde, wie ihre Herzen, so tat es mir weiter nicht leid, daß ich sie nicht verstehen konnte. Vor lauter Fühlen der Lebensfülle verging mir der Atem, und schweigend betete ich sie an.

Oh, alle lachen mir jetzt ins Gesicht und versichern mir, daß man so etwas nicht sehen könnte, wie ich es jetzt wiedergebe, daß ich in meinem Traum bloß ein einziges Gefühl empfunden hätte, eines, das mein eigenes Herz geschaffen, diese Einzelheiten aber später, nachdem ich aufgewacht, hinzugedacht hätte. Und als ich ihnen gestand, daß es vielleicht in der Tat so gewesen ist – Gott, welch ein Gelächter sie da anstimmten, welch eine Heiterkeit meine Worte hervorriefen! Oh, natürlich war ich nur von dem Gefühl des Traumes beherrscht, und nur dieses eine Gefühl allein blieb in meinem blutigwunden Herzen zurück. Dafür aber waren die wirklichen Bilder und Gestalten meines Traumes, d. h. diejenigen, welche ich gerade in der Stunde meines Traumes sah, in solch einer Harmonie abgeschlossen, so vollendet, dermaßen bezaubernd, berauschend und schön, daß ich, als ich erwacht war, selbstverständlich nicht fähig war, sie in unseren schwachen Worten lebendig werden zu lassen, so daß sie in meinem Bewußtsein natürlich erbleichen, zergehen mußten und somit war ich vielleicht wirklich gezwungen, unbewußt später die Einzelheiten zu erdichten, wobei ich sie bestimmt entstellt haben werde, bei meinem leidenschaftlichen Wunsch, das große Gefühl doch wenigstens irgendwie wiederzugeben. Darum aber – warum soll man mir nicht glauben, daß alles wirklich so war? Vielleicht war es noch tausendmal besser, heller, schöner, als ich es schildere? Mag es auch ein Traum gewesen sein, aber all das konnte doch nicht nicht sein. Wissen Sie, ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen: das ganze war vielleicht überhaupt kein Traum! Denn hier geschah etwas Derartiges, etwas bis zu solch einem Entsetzen Wahres, daß es einem ja gar nicht hätte träumen können, nur träumen! Mag der Traum auch mein Herz erweckt haben, aber wie konnte denn mein Herz allein jene furchtbare Wahrheit erwecken, die ich dann später sah? Wie hätte ich sie denn allein ausdenken oder mein Herz allein es sich erträumen können? Wär’s möglich, daß mein kleinliches Herz und mein flacher, launischer Verstand sich zu solch einer Offenbarung der Wahrheit emporschwingen könnten! Oh, urteilt doch selbst: bis jetzt hab ich’s verschwiegen – aber jetzt will ich die ganze Wahrheit sagen. Es endete damit, daß ich ... sie alle verdarb!